August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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15. ›Durch viel Trübsal –‹

Am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr saß Jonas Eisenhut im Wohnzimmer des Schlößleins Liselore gegenüber.

»Fürs erste soll ich Ihnen diese Bücher mit vielen Empfehlungen vom Archivar überbringen.« Er legte ein Paket auf den Tisch.

»Besten Dank – er hat mir schon davon gesprochen. Ich fürchte nur –.« Sie seufzte und brach ab. »Herr Eisenhut, es sieht sehr traurig bei uns aus.«

»Fürs zweite« – er sagte es mit ungewohnter Bestimmtheit – »bin ich gekommen, Ihnen meine Hilfe anzubieten. Ich habe vom Doktor gehört, daß Ihr Herr Vater unwohl ist. Vielleicht zerstreut ihn meine Unterhaltung.«

»Es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie sich seiner annehmen wollen,« sagte sie mit der freundlichen Zurückhaltung, die sie ihm gegenüber seit jenem Pfingstnachmittag immer beobachtete. »Ich fürchte nur, Sie werden ihn verändert finden und Unfreundlichkeiten mit Nachsicht ertragen müssen. Und das ist mir peinlich.«

»Der Doktor hat mich, soweit es nötig ist, von seinem Zustand in Kenntnis gesetzt. Vor allem muß er aus seiner Stube heraus.«

»Es wird Ihnen nicht gelingen, Herr Eisenhut.«

Der Gelehrte lächelte. »Das wollen wir erst einmal sehen. Ist's Ihnen genehm, dann gehen wir hinüber.« –

Draußen war wieder ein sonniger Wintertag. Im Zimmer des Majors aber herrschte bei zugezogenen Vorhängen tiefe Dämmerung.

»Guten Morgen, Herr Major!«

»Ah – Sie sind es, lieber Eisenhut?« antwortete eine schwache Stimme vom Schreibtisch her.

277 »Erlauben Sie mir einen Besuch?« Eisenhut nahm ohne weiteres einen Stuhl und setzte sich neben den Schreibtisch. Liselore machte sich an einem Büchergestell zu schaffen.

»Kann Ihnen keine Unterhaltung bieten, fühle mich sehr krank.«

»Sehr krank? Davon weiß ich nichts. Aber daß Sie unwohl sind, habe ich gehört.«

»So ist das auch schon allgemein bekannt?« fragte der Major mit viel kräftigerer Stimme und unverkennbarem Ärger.

»Allgemein? Nicht daß ich wüßte. Aber bedenken Sie doch, der eifrigste Archivgast ist seit acht Tagen nicht mehr ins Archiv gekommen. Das muß doch in dem engen beteiligten Kreise auffallen!«

»Ja, ja,« äußerte sich die schwache Stimme von vorhin.

»Und das alles nach Ihrem großen Erfolge!« fuhr Jonas unbekümmert fort. »Ich spreche Ihnen meinen Glückwunsch aus, Herr Major Titus von Moos.«

»Ach, lassen Sie mich in Frieden!« ächzte die schwache Stimme. »Wenn Sie wüßten, wie gleichgültig, wie ganz gleichgültig mir das jetzt ist!«

»Nun ja, Herr Major, diesen Stimmungswechsel kenne ich auch. Die gleiche Sache glänzt uns am frühen Morgen wie Gold in die Augen, und am späten Abend liegt sie wie verrostetes Eisen vor uns. Es kommt alles auf die Beleuchtung an.«

»Da haben Sie recht«, bestätigte der Major mit einem tiefen Seufzer. »Sie haben immer ein gutes Verständnis für meine Angelegenheiten gehabt.«

»Ich danke Ihnen, Herr Major, Sie sind sehr gütig. Aber wissen Sie denn, daß da draußen der sonnigste Tag ist? Nein, Sie können's ja gar nicht wissen; denn da herinnen – Sie erlauben!« Und damit ging er ohne weiteres um den Schreibtisch herum ans Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück.

278 »Aber Herr – ich kann doch das Licht nicht ertragen, es verursacht mir Schmerzen!« rief der Major ganz energisch.

Jonas begab sich unbekümmert zurück zu seinem Stuhle. »Und jetzt mache ich Ihnen einen Vorschlag – wir gehen miteinander spazieren!«

»Spazieren – wo ich mich doch so elend fühle?«

»Es wird Ihnen gut bekommen.«

»Sie irren sich sehr. Ich bin krank. Jeden Tag wache ich um drei Uhr morgens auf und finde keinen Schlaf mehr. Dann bin ich den ganzen Tag über wie zerschlagen.«

»Hat Ihnen der Arzt kein Schlafmittel verschrieben?«

»Das schon. Gestern habe ich es zum ersten Male genommen und –«

»Und?«

› – habe ja heute früh auch zum ersten Male wieder geschlafen.«

»Also! Ich bin gewiß, daß Sie mir meine Bitte nicht abschlagen werden: Wir machen jetzt einen Spaziergang.«

»Wenn Sie wüßten, wie schwach ich bin. Und meine Verdauung ist so schlecht.«

Jonas Eisenhut sah sich um. Liselore war aus dem Zimmer gegangen. Da sagte er eifrig: »Verdauung? Auf diesem Gebiete bin ich Sachverständiger im wahren Sinn des Wortes.« Und nun legte er aus dem Schatze seiner Erfahrung los, warf mit anatomischen Kenntnissen und lateinischen Namen um sich, schilderte die Wirkungen dieser Zustände auf den menschlichen Organismus mit epischer Breite und schloß mit einem Hymnus auf das einzige Heilmittel – die energische Bewegung.

Der Major hatte sich aus seiner gebückten Stellung aufgerichtet, folgte mit sichtlicher Anteilnahme den Ausführungen und rief endlich: »Jetzt aber fühlen Sie sich ganz wohl?«

»So wohl wie der Fisch im Wasser«, sagte Jonas, nahm 279 Hemdkragen und Krawatte vom Schreibtisch, reichte beides dem Major und schloß seine Rede: »So, und nun, Ihr Einverständnis vorausgesetzt –«

Er begab sich zur Türe und rief: »Köchin Franzi, die Stiefel! Der gnädige Herr wünscht spazieren zu gehn.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt!« protestierte die schwache Stimme am Schreibtisch. »Aber meinetwegen –«

Tochter und Magd rannten den Gang herunter, und jede brachte einen Stiefel.

»Können Sie zaubern?« flüsterte Liselore und zog sich in die Wohnstube zurück.

Und nach wenigen Minuten sah sie vom Fenster aus den Vater in seinem warmen Mantel an Eisenhuts Seite auf der sonnigen Landstraße dahin wandeln.


Gegen ein Uhr lieferte Eisenhut den Patienten wieder im Schlößchen ab und empfahl sich.

Liselore half dem Vater im warmen Eßzimmer aus dem Mantel und brachte ihm die Hausschuhe. »Nun, hat's dich erfrischt?«

Mürrisch antwortete der Major: »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich mit ihm gegangen bin. Eine solche Tyrannei ist mir im Leben nicht vorgekommen. Und er läuft wie ein Schneider. Morgen will er mich wieder abholen. Aber da lass' ich ihn abblitzen.«


Jonas Eisenhut kam auch am folgenden Tag um dieselbe Stunde, und der Major ging nach einigem Sträuben wieder mit ihm spazieren, drei Stunden lang.

Und wie an den zwei ersten, so auch an den folgenden Tagen, eine ganze Woche hindurch.

Allerdings waren es unerfreuliche Spaziergänge. Eisenhut gab mit seinen langen Beinen das Tempo an, und 280 der Major lief mürrisch neben ihm her, sprach nur selten ein Wort und erklärte jedesmal auf dem Rückwege: »Wollen Sie sich doch morgen ja nicht mehr bemühen; es ist mir zu peinlich.«

Aber am nächsten Tage kam Eisenhut wieder, und der Major ging wieder mit ihm.

Die übrige Zeit saß er untätig im Lehnstuhl und starrte ins Leere.

Als er aber am siebten Tage seinem Begleiter plötzlich auf offener Landstraße erklärte, man sollte sich doch eigentlich vor ihm in acht nehmen, er habe die Empfindung, als müsse er jemand schlagen, da begab sich Jonas zum Arzt und machte ihm Mitteilung.

»Zwangsvorstellungen«, lautete die Antwort. »Wundert mich nicht.«

»Ist das etwas Bedenkliches?«

»Noch nicht. Wenn Sie wüßten, wie viele Menschen mit Zwangsvorstellungen herumlaufen! Da hat zum Beispiel einer seine Wohnung nach allen Regeln der Vorsicht abgeschlossen, geht in tiefen Gedanken die Treppe hinunter, im Hausflur packt's ihn, er rennt zurück, rüttelt an der Türe und überzeugt sich, daß sie verschlossen ist, – was er ohnedies gewußt hatte: eine Zwangsvorstellung, aber eine von den harmlosen. Freilich gibt es auch andere Sorten.«

»Wie lange kann der Zustand des Majors dauern?«

»Wochen, Monate, da läßt sich im voraus gar nichts sagen. Daß es schlimm werden wird, glaube ich bis jetzt nicht. Freilich, die Frauenzimmer jammern mich. So allein mit dem Kranken in dem öden Hause! Da gehört ein Mannsbild her – für alle Fälle. Aber ich wüßte nicht, wie das ohne Genehmigung des Majors zu bewerkstelligen wäre.« –

Jonas ging.

Am nächsten Tage nahm er Franzi, die Magd, auf die Seite: »Hören Sie, Jungfer Köchin, ich habe mich heute 281 morgen drüben im Wirtshaus einquartiert. Sie können mich jeden Augenblick bei Tag und Nacht rufen. Aber der Herr Major und Fräulein Liselore brauchen vorderhand noch nichts davon zu wissen.«

Da sah ihm die alte Magd mit ihren großen, schwarzen Augen ehrfürchtig ins gutmütige Gesicht: »Herr Doktor, ich glaub' alleweil, Sie sind der Schutzengel vom gnädigen Herrn!«

»Aber ein langbeiniger«, lachte Jonas Eisenhut und begab sich ins jämmerliche Wirtshaus hinüber.


Die Magd wahrte das Geheimnis. Aber Liselore erfuhr doch nach einigen Tagen die Neuigkeit, die im Dörflein von Mund zu Munde ging. Da ward ihr beklommen zumute.

Als Eisenhut das nächste Mal wiederkam, bat sie ihn zu sich ins Wohnzimmer. Mit gefalteten Händen stand sie vor ihm in all ihrer Schönheit: »Ich weiß es. Wäre das notwendig gewesen?«

»Der Arzt gibt die besten Hoffnungen auf Genesung«, antwortete Jonas ausweichend.

»Sie drücken mich zu Boden, ich versinke in Schulden durch Ihre selbstlose Güte!« rief sie klagend.

Da neigte er das Haupt und sah ihr tief in die Augen: »Fräulein Liselore, ich verstehe, ich muß Ihnen gegenüber ganz offen sein. Wollen Sie mich hören?«

»Bitte!« sagte sie tonlos, wies auf einen Stuhl und setzte sich an die andere Seite des Tisches.

»Ganz offen!« wiederholte er und ließ sich nieder. »Gewiß, ich habe mich vor nicht allzu langer Zeit mit Hoffnungen getragen, die meinem Leben einen neuen Inhalt gaben. Ich habe diese Hoffnungen begraben, ich mußte sie begraben. Denn ich sah sehr wohl, daß Sie aus irgendeinem Grunde nicht fähig waren, mir das Beste zu schenken. Damit mußte ich mich bescheiden. Und wenn ich jetzt, wo Sie im Unglück 282 sind, in Ihr Haus käme mit der Absicht, Sie durch kleine Gefälligkeiten, durch Krankendienste, mir günstig zu stimmen, – Fräulein Titus, Sie vermöchten mich in solchem Falle doch ebensowenig zu achten« – er stand auf – »wie ich mich selbst!«

Auch sie hatte sich erhoben, kam nun langsam auf ihn zu und sagte mit stockender Stimme: »Ich habe Sie immer für einen guten Menschen gehalten. Heute sehe ich, daß Sie ein edler Mensch sind.« Und sie kämpfte mit dem Weinen, als sie schloß: »Es war ja längst schon zu erraten, wie es mit mir steht. Ich mußte vor zwei Jahren alle Bitternisse und Enttäuschungen einer unglücklichen Liebe bis auf die Hefe auskosten.«

»Bis auf die Hefe«, wiederholte er und sah sie traurig an. »Ich kenne das.«

Leise fuhr sie fort: »Das ist nun alles vorüber, alles. Und doch nicht ganz verwunden, Herr Eisenhut. Könnte und dürfte ich also sagen, wenn mir ein Ehrenmann sein Bestes geben wollte: Nimm mich – nur hab Geduld mit mir –? Ich könnte nicht um meinetwillen und ich dürfte nicht um seinetwillen.«

Des Mannes Augen leuchteten, als er ebenso leise erwiderte: »Dann bitte ich um Ihre Freundschaft.«

Sie bot ihm die Hand, und er zog sie an seine Lippen.


Die Unterredung hatte sie mächtig erregt, und in tiefen Gedanken stieg sie zu ihrem Stübchen empor.

Der träumerische Gelehrte, den sie trotz aller liebenswürdigen Eigenschaften doch nie als voll betrachtet hatte, der war nun als ein ganzer Mann vor ihr gestanden.

Und einen Augenblick fuhr es ihr durch den Sinn: Mit einem solchen Manne ließe sich's am Ende doch –! Aber nur einen Augenblick.

Sie ging ans Fenster und sah dem Vater nach, der mit 283 Eisenhut zwischen den Hütten des Dorfes verschwand. Der Kranke neben dem Gesunden, der Verarmte neben dem Reichen. –

Dann trat sie an den Glasschrank, aus dem ihr Silberzeug leuchtete, und blickte auf das Brustbild ihrer Mutter, das in seinem Ebenholzrahmen neben dem Bilde des Vaters stand.

In bittersüßer Heimweh-Stimmung ging sie an das Büchergestell, kniete nieder und nahm das dicke Buch aus dem untersten Fache, ging zum Schreibtisch, der nahe dem Fenster stand, setzte sich, faltete die Hände über dem geschlossenen Buch und blickte sinnend hinaus über das verschneite Land zu dem fernen Höhenzuge.

Da war ihr, als sähe sie den Rücken dieses Höhenzuges entlang ein riesengroßes Untier schreiten.

Betroffen erhob sie sich und erkannte die Sinnestäuschung: eine harmlose Stubenfliege lief nahe vor ihren Augen das schmale Querholz des äußeren Fensters entlang!

Sie sank auf ihren Sessel zurück und wieder sah sie das schwarze Untier drohend schreiten über die Hügel.

Und wie ein jähes Licht fuhr der Gedanke durch ihr gramerfülltes Haupt: Sind nicht gar oft auch die menschlichen Sorgen von ähnlicher Art? Wie Ungetüme schreiten sie herein in den Gesichtskreis unseres Daseins – und in der Nähe betrachtet sind es harmlose Fliegen.

Aber nein! Ihre Sorgen waren und blieben, sie mochte sich stellen, wie sie wollte, reißende Tiere.

Und mit einem raschen Griff öffnete sie aufs Geratewohl die alte, zerlesene Bibel der seligen Mutter, schloß die Augen und legte den Finger auf den Text.

Aber der Finger traf den Text nicht, sondern ein loses Blättchen, das sich ein wenig verschob.

Sie öffnete zaghaft die Augen und erkannte die Schrift ihrer Mutter.

284 Es waren nur wenige Worte in feinen, halbverblaßten Buchstaben:

›Beim Lesen dieses, ach so ewig wahren heiligen Spruches ergreift mich die Ahnung, daß ich vielleicht in wenigen Tagen den geliebten Mann und das geliebte Kind für immer verlassen muß. Ahnungslos aber sitzt das Kind zu meinen Füßen und plaudert mit seiner Puppe. O du, meine süße Liselore, was wird aus dir, wenn ich nicht mehr bei dir bin! Der starke Arm deines Vaters, des Ehrenmannes, wird dich ja beschützen in allen Fährlichkeiten des Lebens. Des bin ich sicher. Aber das Beste, was ich mit Gebet und Flehen in dein zartes Herz gepflanzt habe, das Beste für Zeit und Ewigkeit – wird er nicht beschützen. Er kann und will es nicht beschützen; denn er ist ein Diesseitsmensch. Allbarmherziger Gott, wenn sie einst dies Blättchen finden sollte zwischen den Offenbarungen der ewigen Wahrheit, dann möge sie wissen, daß die letzten Gedanken ihrer Mutter zu Dir gefleht haben: Bleibe bei ihr, gib ihr ein bescheiden Teil irdischen Glückes und laß sie schauen dein Heil!‹

Es stand auch ein Datum am Ende der Zeilen – der Tag vor der Geburt des Brüderchens.

Liselore schob das Blättchen ein wenig zur Seite. Da leuchtete ihr, mit einem starken blauen Strich bezeichnet, das Wort entgegen: ›Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.‹

Und es war ihr, als hörte sie aus weiter, weiter Ferne die Stimme ihrer Mutter. Dann aber brauste es über sie hin gleich Ewigkeitswogen. Sie warf sich auf das Buch und weinte schluchzend in ihre gefalteten Hände. 285

 


 


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