August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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10. Prüfungen

Der Winter war vergangen, der Frühling war gekommen.

In einem schmalen, langen Zimmer, zwischen einem Waschtisch und etlichen Stühlen, rannte ein junger Mann auf und ab, als wäre er in einem Käfig gefangen. Er stak in einem schwarzen Frackanzug, der seine Gestalt vorzeiten gewiß in mancher Ballnacht vorteilhaft gekleidet hatte.

Der junge Mann fühlte sich dem Anschein nach äußerst unbehaglich. Schob sich doch seine Hemdbrust alle Augenblicke wie ein Brett aus der Weste hervor; war doch der Kragen so eng, daß die weißbehandschuhten Hände fortwährend Luft schaffen mußten; saß doch der Hornzwicker auf dem feuchten Rücken der Stumpfnase so jämmerlich, daß er immer wieder nach vorn sank. Und abgesehen von allem – kein Wunder: denn der junge Mann befand sich unmittelbar vor dem Doktorexamen, und die noch verschlossene Flügeltüre an der Längswand führte geraden Weges hinein in den Saal des Gerichts.

Ein behäbiger, graubärtiger Mann mit einer großen Glatze kam vom Korridor in das Zimmer. Er trug ein gefülltes Waschbecken, aber er trug es mit vornehmer Nachlässigkeit, als besorgte er solche Geschäfte eben nur jetzt, ausnahmsweise, rein aus Gefälligkeit für einen infolge noch geringerer Geschäfte abwesenden Unterdiener.

Mit einer gewissen Hoheit in Miene und Tonfall sagte er. »Guten Tag!« Und sehr höflich erwiderte der geängstete Doktorand den Gruß: »Recht guten Tag!«

Der Mann ergriff die leere Wasserflasche, entfernte sich würdevoll und kehrte nach einer Weile mit seiner gefüllten Flasche zurück.

Nun legte er die Hände auf den Rücken und fragte wohlwollend: »Alte Geschichte?«

174 »Mittelalter.«

»So? Dann prüft Sie der Professor –.« Er nannte einen berühmten Namen. »Der kleine Sohn vom großen Vater – Sie verstehen mich ja?«

Der Doktorand verzerrte sein Gesicht zu einem verständnisvollen Lächeln.

»Nur immer Mut, lieber Herr! Sieht alles gefährlicher aus, als es ist. Sie haben ja doch das Staatsexamen schon hinter sich – was?«

»Gewiß!« versicherte der Geängstete.

»Na sehen Sie!« Der Ton des Pedells wuchs ins Väterliche. »Dann ist ja das bei uns nur noch Formsache, reine Formsache, sonst nichts. Was anderes wär's freilich, wenn Sie das Staatsexamen noch nicht hätten. Da will zum Exempel gleich jetzt mit Ihnen ein ganz alter Herr – ich glaub', er ist fünfunddreißig Jahre alt –, der in seinem Leben überhaupt noch keine richtige Prüfung gemacht hat –«

Es klopfte, und Jonas Eisenhuts Reitergestalt betrat frank und schlank in tadellosem Frackanzuge das düstere Gemach.

Der Pedell zog ein frisches Handtuch aus der Rocktasche und hängte es an den Waschtisch.

»Eisenhut.«

»Klodsäck.«

»Beinahe verspätet.«

»Hat noch fünf Minuten auf Viertel.«

»Unbesorgt, meine Herren! Um Viertel nach vier Uhr tröpfeln sie langsam herein. Und wenn sie dann alle zusammengetröpfelt sind, ist der Dekan noch immer nicht da. – Mittelalter, Herr Eisenhut?«

»Wirtschaftsgeschichte.«

»Ei, ei, hm. Der Geheimrat, ich sag' Ihnen, der ist kein Guter. Summa cum laude – ich kann mich fein kaum erinnern, daß er einem Doktoranden die erste Note gegeben hat.«

175 »Wir werden schon miteinander zurechtkommen, der Herr Geheimrat und ich. Er ist doch, soviel ich bei meinem Besuche erfahren habe, ein sehr freundlicher Herr.«

»Na ja. Er kann recht freundlich sein, kann, je nachdem. Ganz je nachdem, Herr Doktorand. Und jetzt merken Sie wohl auf, wie er Sie während der Prüfung anredet. Sobald er sagt: Wertgeschätzter Herr – dann können Sie einpacken. Sagt er: Herr Doktorand, na ja, dann heißt das soviel als: bis jetzt rite, Note drei. Sagt er aber: Herr Eisenhut, dann stehen Ihre Angelegenheiten gut. Daß er zuletzt sagt: Ich danke Ihnen, mein lieber Eisenhut, also summa cum laude, vorzüglich abgeschnitten, so was erleben wir selten.«

Jonas Eisenhut mußte laut auflachen, während sein Schicksalsgenosse grinsenden, krebsroten Angesichts den Kampf mit Kragen, Zwicker und Hemdbrett weiter führte.

Mißbilligend schüttelte der Pedell das Haupt, ging zur Flügeltüre und legte das Ohr ans Schlüsselloch.

»Ich glaube, die Herren dürfen sich bereithalten.«


An den hufeisenförmig angeordneten Tischen inmitten des alten Barocksaales, da und dort an den Fenstern und im geräumigen Erker saßen und standen gelangweilt in Gruppen die Herren Professoren der philosophischen Fakultät, und der Saal war so groß, daß sie sich ohne Bedenken halblaut unterhalten durften, soweit sie nicht unmittelbar an der Prüfung beteiligt waren.

Vor den riesenhohen Fenstern standen alte Kastanienbäume und reckten ihre dunkelbraunen, zum Bersten geschwellten Knospen in den Aprilhimmel empor. Die Sonne hatte soeben noch freundlich geleuchtet und die lebensgroßen Ölbilder längst zu ihren Vätern versammelter Fürsten an der Rückwand des Saales mit ihrem Glanz übergossen. Jetzt aber jagten schwere, graue Wolken über den Himmel, im 176 Schneegestöber verschwammen die Kastanien, und die Ölbilder hingen in Dämmerung versunken.

Die Doktoranden saßen in Fensternischen, der eine am östlichen, der andere am westlichen Ende des langgestreckten Saales; ihnen gegenüber die Examinatoren. Diese hatten in Gemütsruhe ein Bein über das andere geschlagen, jene saßen mit eingezogenen Beinen und spitzen Knieen.

Und die Doktoranden sahen auch nicht, wie die Sonne so freundlich schien, und sahen wiederum nicht, wie die Flocken wirbelten, grau in grau.

Aber es war doch ein Unterschied in der Art ihres Sitzens und ein Unterschied, wie sich ihre Bedränger gehabten.

Der geprüfte Lehramtskandidat Klodsäck hatte den aussichtslosen Kampf mit Kragen und Hemdbrett aufgegeben. Nur an den Zwicker mußte die weißbehandschuhte Rechte immer wieder mit krampfhaftem Rucke emporfahren. Denn auf seiner Stirne perlte der Schweiß, auch aus seinem Nasenrücken quollen dicke Tropfen, und der Zwicker hatte das Bestreben, sich fortwährend gegen den Examinator zu verneigen. Des Ärmsten Angesicht glühte, und wenn er einmal etwas antwortete, dann kam es stoßweise von seinen Lippen. Der Examinator aber, der kleine Sohn des großen Vaters, hatte seinen Sessel im Verlaufe der Unterredung allgemach um fünfundvierzig Grad nach links gedreht, sah während der langen Pausen mürrisch in den Saal hinein und warf dann wieder eine Frage halbrechts über die Schulter seinem Opfer ins Gesicht.

Ganz anders das Bild am entgegengesetzten Ende des Saales, wo Eisenhut dem Geheimrat gegenüber Platz gefunden hatte. Wäre jemand ohne Kenntnis der Veranlassung und des tiefen Ernstes der Lage vor die beiden getreten und hätte ihren Wechselreden gelauscht – fürwahr, er hätte gesagt: Zwei gelehrte Herren, die sich ausnehmend gut miteinander unterhalten.

177 Das dachte nun der stumme Dritte nicht, der vor der Fensternische stand und kraft seines Rechtes den beiden zuhörte. Das konnte er gar nicht denken. Aber nach einer Weile trug er das, was er dachte, auf leise knarrenden Sohlen in den Erker zu einer Gruppe seiner Kollegen hinüber. Dort faltete er die Hände und sagte mit allen Zeichen des Entsetzens: »Meine Herren, da drüben sitzt einer, der weiß alles, rein alles!«

Und nun kamen sie auf mehr oder minder leisen Sohlen, stellten sich im Halbkreise vor die Fensternische und überzeugten sich mit verwundertem Kopfschütteln, daß hier in der Tat einer alles, rein alles wußte – ja vielleicht noch einiges mehr. –

Endlich ließ auch der Examinator des Doktoranden Klodsäck von seinem Opfer, folgte dem allgemeinen Zug ans westliche Ende des Saales und mischte sich unter die Korona.

Es war wie auf einer hochinteressanten Mensur zwischen ebenbürtigen Gegnern.

Fast ein wenig erschöpft lehnte sich endlich der Geheimrat zurück. Vorgebeugt, heiter lächelnd, auf eine neue Frage wartend, saß der Doktorand.

Der Geheimrat zog die Uhr und rief erschrocken: »Um Vergebung, meine Herren, ich habe meine Zeit mächtig überschritten!« Dann sprang der kleine bewegliche Herr auf und sagte zu seinem Doktoranden, der mit ihm emporgeschnellt war. »Mein lieber, lieber Eisenhut, ich danke Ihnen sehr.« Und er schüttelte ihm kräftig die Hand.


Auch die Prüfung in den Nebenfächern war längst erledigt, und die Doktoranden warteten in ihrem Käfig des Urteils – jeder an ein anderes Fensterbrett gelehnt.

Nach langem Harren kam der Pedell aus dem Saale und ging auf den Fußspitzen zum geprüften 178 Lehramtskandidaten Klodsäck. »Es hat ja gelangt, es hat genügt, Herr Doktor,« berichtete er im Flüstertone, während das Gesicht des Geängsteten zu glänzen begann. »Formsache, weiter nichts, ich hab's ja gesagt. An solch einer Doktorprüfung sind nicht bloß die Doktoranden interessiert, sondern auch die Professoren. Und diese gar sehr. Übrigens, wenn einer summa cum laude kriegt, kann er den Doktor auch nicht mit drei R – Drrr. – schreiben. Also, was hat er davon? – Meinen herzlichsten Glückwunsch!«

Und er nahm aus der Hand des beglückten Klodsäck ein fürstliches Trinkgeld.

Während nun Klodsäck auf ein Klingelzeichen hinter der Flügeltüre verschwand, setzte sich der Pedell gegen Eisenhut in Bewegung.

»Herr Doktor –!« Er legte die Hand aufs Herz. »Sie werden's ja ohnedies wissen. So etwas haben wir von der Universität – es ist nur eine Stimme – seit Menschengedenken nicht mehr erlebt. ›Mein lieber, lieber Eisenhut‹ hat er gesagt.«

»Oh, wir haben uns recht gut miteinander unterhalten,« lachte der Doktor und griff in die Tasche.

»Nach einstimmigem Urteil ganz ausgezeichnet – meinen herzlichsten Glückwunsch!«

Der Pedell verschmähte im Gegensatz zum Geheimrat abstufende Redensarten. Seine Glückwünsche waren in jedem Falle die herzlichsten.


Es klingelte wieder, und jetzt war Jonas Eisenhut an der Reihe.

Die Fakultät saß voll der Würde und des Ernstes, wie sich's geziemt, wenn man im Begriff ist, die höchsten akademischen Ehren zu verleihen.

Der Doktorand trat an die Längsseite des Hufeisens, 179 und der Dekan erhob sich: »Herr Eisenhut, es gereicht mir zu besonderer Freude, Ihnen zu eröffnen, daß die philosophische Fakultät Sie soeben einstimmig summa cum laude zum Doktor promoviert hat. Sie kennen die Bestimmungen: Zur Führung des Doktortitels sind Sie erst nach Empfang des Diplomes berechtigt, und ausgehändigt wird es Ihnen, sobald Ihre Arbeit gedruckt vorliegt und die Pflichtexemplare eingetroffen sind. Ich verbinde mit meinem Glückwunsch die Hoffnung, daß wir recht bald noch viel mehr von Ihnen hören dürfen. Der Herr Geheimrat aber läßt Sie ersuchen, sich vor Ihrer Abreise noch einmal zu ihm zu bemühen.«

Der Doktor dankte mit einer tiefen Verbeugung.


Die Straßenlaternen brannten, als Jonas Eisenhut aus dem Hause des Geheimrates kam und durch den lauen Frühlingsabend seinem Gasthause zuging.

Es war ihm federleicht zumute, und er nahm immer drei Stufen auf einmal die breite Treppe zu seinem Zimmer hinan.

Das Licht einer Straßenlaterne stach in die Dunkelheit des Raumes.

Jonas hängte den Überzieher an den Ständer, steckte seinen Zylinder auf die Spitze seines Regenschirmes, begann lautlos auf dem weichen Fußteppich zu tanzen und wirbelte über sich den Hut auf dem Schirm. Seine Frackschöße schwangen sich und flatterten um seine lange Leiblichkeit. Wilder und wilder wurde sein Tanz, und zuletzt warf er Schirm und Zylinder von sich, sprang mit einem Satze ins Bett, streckte die Beine in die Höhe, klatschte sich mit den Absätzen Beifall und schrie gerade hinaus: ›Juh!‹

Nach einer Weile richtete er sich wieder auf, ließ die Beine vom Bettrand herabhängen und pfiff leise vor sich hin.

Warum war er denn gar so vergnügt?

Weil man ihn summa cum laude zum Doktor gemacht hatte?

180 Er pfiff. Was lag ihm an dem Titel und an der Ehre?

Weil ihn der Geheimrat so dringend aufgefordert hatte, sich zu habilitieren?

Er pfiff. Er sollte Professor werden und solche Klodsäcke mit Wissenschaft anfüllen? O jemine!

Er war vergnügt in seiner Seele, weil er nun vor die Allerschönste, Allerbeste, Allerliebste hintreten und sagen konnte: ›Sieh her, ich habe mich bezwungen und habe es um deinetwillen getan. Und alles, alles, was du mir sonst noch befiehlst und auferlegst, das will ich ausführen; denn du, du bist die Prinzessin im Märchen. Ja, sogar wenn du schließlich aus einer Prinzessin eine Professorin zu werden wünschest, dann gebe ich mir einen harten Stoß, fahre wieder hierher und arbeite Tag und Nacht auf den Professor. Und nun, Liselore, befiehl du!‹ –

Er saß ganz stille auf dem Bettrande, und das Licht der Straßenlaterne stach durch das Fenster und warf das Fenster mitsamt dem Kreuzstock und den Blumen des durchsichtigen Vorhanges an die Decke empor.

›Und morgen vormittag soll ich noch einmal beim Geheimrat vorsprechen und ihm bis ins kleinste über Plan und Einrichtung meiner Wirtschaftsgeschichte Rede stehen? Was geht's ihn an? – Fällt mir nicht ein! Dazu genügt auch ein Brief. Denn morgen in aller Frühe fahre ich heim.‹


Jonas Eisenhut hätte ohne Bedenken der freundlichen Einladung des Geheimrates folgen dürfen.

Am nächsten Nachmittag besuchte er den Archivar und nahm von diesem die wirklich herzlichsten Glückwünsche entgegen. Zugleich mußte er jedoch zu seiner Betrübnis erfahren, daß der Major mit seiner Tochter seit vierzehn Tagen in Regensburg die Pfarrbücher studiere und länger dort zu bleiben gedenke.

Eine böse Enttäuschung, ein rechter Ärger.

*

181 Es ist Pfingstsonntagnachmittag. Pfingstsonntagnachmittag in einer kleinen Stadt.

Jonas ist in der Kirche gewesen. An hohen Festtagen geht er nicht nur vormittags, sondern auch nachmittags in die Kirche. Aus alter Gewohnheit. Es ist das so Sitte im Hause Eisenhut seit Menschengedenken.

Die Wirtschafterin hat einen Ausflug unternommen. Jonas ist ganz allein, und feierliche Stille liegt über den öden, prächtigen Räumen.

Er steht an einem der schweren Büchergestelle in seiner Studierstube, an dem Gestell, das seine schöne Literatur birgt. Diese Sammlung ist nicht groß im Vergleich zu den Tausenden von Büchern, die er besitzt: die Klassiker vollständig, meist in Erstausgaben, und andere, die allgemach zum gleichen Range emporsteigen – nicht etwa kraft Wahrspruches der Zünftigen, sondern nach der unerbittlichen Auswahl, die eine geistige Oberschicht des Gesamtvolkes selbst trifft, weitergebend von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht herzerhebende Schönheit und kristallklare Reinheit ihrer erkorenen Lieblinge.

Er steht lange vor seinen Schätzen, und es wird ihm sehr sonntäglich zumute, wie er alle die Titel in Goldschrift überliest. Aber die Wahl fällt ihm schwer. Endlich nimmt er, kurz entschlossen, Adalbert Stifters ›Hochwald‹ heraus und hat mit ihm das richtige Sonntagnachmittagsbuch gefunden.

Seine Schritte hallen im weiten, düstern Hausflur, wie er das schwer geschnitzte Geländer entlang die braune Treppe hinabsteigt.

Er geht über den kleinen, saubern Hof, tritt in den Stall, schlingt die Arme um den Hals seines Schimmels und streichelt die sammetweiche Nase. Dann greift er in die Kiste und streut ein paar Hände voll Körner in die Krippe. Feiertagnachmittag!

182 Ein alter, häßlicher Hund, halb Dogge, halb Hühnerhund, kommt mit leisem Winseln aus einer sonnigen Ecke des Hofes heran, und auch ihm wird seine Liebkosung zuteil. Ein graues Kätzchen humpelt herbei und reibt sich mit hohem Rücken an seiner Hose. Der Hund ist auf beiden Augen blind, das Kätzchen aber nennt nur drei Beine sein eigen. Das vierte hat es einst in ungleichem Kampf mit bösen Buben eingebüßt, und Jonas hat es halbtot aus der Gosse gezogen.

Geleitet von dem blinden Hund und dem hinkenden Kätzchen betritt er durch die grüne Gattertüre den Garten.

Es ist ein stiller, altmodischer Garten, sonnig, auf allen Seiten eingeschlossen. Niedere Ziegeldächer von Nebengebäuden blinken rostbraun, Fachwerkmauern entfernter Scheunen schimmern grau durch die zart belaubten Bäume. Die Beete sind mit Buchs umsäumt, Goldlack duftet, Tulpen und Narzissen leuchten zwischen den nützlichen Gewächsen der Küche. Die Obstbäume sind sauber ausgeputzt, die blanken Stämme mit schwarzen Leimringen umzogen. Zwischen den Buchsrabatten und Rasenplätzen glänzt der gelbe Sand gewundener Wege. Schwarze Amseln hüpfen auf diesen sauber gerechten Wegen, und ihre Ständer lassen leise Spuren zurück.

Jonas geht zum kleinen Rasenplatze inmitten des Gartens und setzt sich an den runden Holztisch unter den Apfelbaum. Er sitzt auf weichem Polster in einem tiefen Birkenstuhl. Ihm gegenüber steht ein zweiter, ganz ähnlicher Stuhl. Der ist leer.

Jonas blickt empor in die weißschimmernden Zweige, zwischen denen der Himmel herabschaut, leuchtend in flimmerndem Blau.

Der Hund hat sich zu seinen Füßen ausgestreckt und die Schnauze auf seinen Stiefel gelegt. Die Katze liegt neben ihm und hält Wäsche – ein Geschäft, das für sie mit Schwierigkeiten verbunden ist.

Aus der Ferne tönt in langsamen, wehmütigen 183 Schwingungen eine Glocke. Die richtige Sonntagnachmittagglocke. Dann und wann schießen Schwalben mit pfeifendem Jauchzen durch die Luft. Ein Hauch zieht über die Blüten, und es schneit weiße Blättchen auf den einsamen Mann.

Der hat sein Sonntagsbuch aufgeschlagen und will sich einspinnen in die Urwaldpracht am Blöckensteiner See. – –

Jonas Eisenhut – hörst du nicht die leichten Schritte in der stillen Sonntagsgasse? Jonas Eisenhut, heraus! Laß hinter dir die grüne Waldeinsamkeit und komm in die Wirklichkeit!

Aber nun sind die leichten Schritte verhallt. Horch! Verhallt. Doch nein – jetzt kehren sie aus der Ferne zurück.

Der wehmütige Glockenton ist verklungen. Der Windhauch ist vorübergezogen. Das Kätzchen schnurrt, und der Hund stöhnt in Schlaf und Traum. Die Schritte sind nicht mehr zu hören.

Aber jetzt – im Hausflur schrillt die Glocke.

Jonas legt sein Buch auf den Tisch und geht über den Rasen. Der Hund hebt den Kopf ein wenig und lauscht hinter ihm her. Dann streckt er gähnend alle Viere von sich und schläft weiter. Die Katze springt auf den Stuhl und schneckelt sich auf das warme Polster. – – –

Leise vor sich hin pfeifend war Jonas durch den kühlen Hausflur gegangen. Er nahm den Schlüssel vom Haken, schloß die schwere Türe auf und prallte zurück.

»Sie – gnädiges Fräulein?«

Im goldenen Sonnenschein der Gasse stand Liselore Titus, und aus dem tiefroten Grunde des Schirmchens, das sich leise über ihrer Schulter drehte, leuchtete ihr Antlitz, lachten ihre Augen.

»Ich habe Sie erschreckt, Herr Eisenhut? Das bedauere ich sehr.«

»Oh nicht im geringsten. Es ist nur – wenn man –«

184 »– gar nicht an den Mann im Monde gedacht hat, und da steht er nun plötzlich vor der Haustüre!« lachte sie mit Augen und mit Mund.

»Oh – ganz im Gegenteil – Sie irren sich, Fräulein Titus – ich – oh ich –.« Er hielt inne; denn jetzt war er nahe daran, sich unrettbar zu verwirren.

»Ich hoffte nämlich, meinen Vater bei Ihnen zu treffen.«

»Ich wußte ja gar nicht, daß Sie und Ihr Herr Vater schon aus Regensburg zurück sind.«

Sie lachte noch immer. »Ich bin doch gar nicht in Regensburg gewesen! Und mein Vater ist vorgestern gekommen, gestern aber schon wieder nach Sulzbach in die Pfarregistratur gefahren. Heute nachmittag will er zu Fuß über die Höhen zurückgehen und Sie auf einen Sprung besuchen. Um vier Uhr soll ich ihn abholen.« Sie zog die Uhr. »Es ist Punkt vier.«

In freudiger Erregung trat er zur Seite. »Da darf ich Sie doch bitten, in den Garten zu kommen? Ich glaube, Sie sind noch gar nie in meinem Garten gewesen!«

»Ich weiß doch nicht«, sagte sie etwas unschlüssig, und ihr Schirmchen drehte sich wie eine glührote Scheibe hinter dem leicht zurückgebogenen Kopfe und den zart gerundeten Schultern. »Ich könnte meinem Vater wohl auch entgegengehen!«

»Sie wissen doch seinen Weg gar nicht und würden Ihren Herrn Vater gewiß verfehlen. Und dann – ich vermute, Sie sind von Moos hereingegangen – – Sie sind ermüdet.«

»Der Spaziergang ist doch nicht der Rede wert.« Sie setzte zögernd den Fuß auf die Schwelle.

»Oh bitte, treten Sie ein! Ihr Herr Vater wird gewiß bald kommen. Und ich möchte Ihnen gar zu gerne meinen Garten zeigen. Wie oft bin ich im Winter bei Ihnen in Moos gewesen! Und mein Garten hat gerade jetzt sein schönstes Kleid angezogen.«

In den dämmerigen Hausflur leuchtete lockend ein 185 Ausschnitt aus der weiß und grün sprossenden, blühenden Pracht des verschwiegenen Gartens herein.

»Wenn ich in Ihr Haus trete, ist mir immer, als käme ich ins Jahrhundert des Rokoko,« sagte sie und warf im Vorbeigehen einen scheuen Blick die massige, dunkle Stiege hinauf.

»Hoffentlich erweckt Ihnen das keine unangenehmen Empfindungen?« fragte Jonas besorgt.

»Ich weiß doch nicht so recht.« Sie klappte das Schirmchen zusammen. »Aber da draußen ist's wirklich fein!« rief sie erfreut und sah mit glänzenden Augen über den Garten hin. »Man vermutet hinter dem düstern Hause gar nicht einen solch entzückenden Winkel.«

Glückselig öffnete er die grüne Gattertüre und geleitete seinen Gast unter den blühenden Baum.

Der häßliche Hund erhob sich schwerfällig, beschnupperte pflichtgemäß das fremde Kleid und streckte sich gähnend wieder auf den Rasen. Jonas stellte ihn vor und erzählte, wie er im kalten Winter des vorigen Jahres einem Scherenschleifer alle seine Rechte an dem halbverhungerten Köter abgehandelt habe.

Liselore setzte sich auf den Birkenstuhl. Jonas hob das Kätzchen vom Polster des andern Stuhles, setzte sich auch und gewährte der kleinen Kreatur eine Freistatt auf seinen Knieen. »Meine nächsten Freunde und Hausgenossen«, sagte er mit einer gewissen Wehmut.

»Blind sein – oh, blind sein!« sagte sie schaudernd und beugte sich zu dem Hunde herab. »Darf man es streicheln, das arme Tier?«

»Er wird sich beglückt fühlen!« rief Jonas.

Dann setzte er die Katze auf den Rasen. »Entschuldigen Sie mich ein paar Augenblicke.«

Nach einer Weile kam er zurück und brachte auf silberner Platte zwei zierliche Gläser, in geschliffener Karaffe Wasser 186 und Fruchtsaft und in silbergeflochtenem Körbchen ein wenig Backwerk.

»Wie freundlich, Herr Eisenhut!«

»Eine kleine Erfrischung, Fräulein Titus.« Und er goß ihr Saft und Wasser ins Glas.

Zögernd begann er: »So schön wie heute ist mir mein Garten noch niemals erschienen.«

»Sie haben recht, es ist ein wunderbarer Frühlingstag.«

»So – habe ich – das – allerdings nicht gemeint«, stotterte er.

Ein kühler Blick streifte über sein gerötetes Antlitz. »Sie lesen den Hochwald?« sagte sie rasch und blätterte in dem Büchlein. »Haben Sie diese Gegend schon mit Augen gesehen?«

»Wiederholt, Fräulein Liselore.«

»Und –?«

»Urwald ist freilich nicht mehr am Blöckensteiner See zu finden – aber einsam ist's auch heute noch in den unendlichen Wäldern, märchenhaft einsam, und immer wieder glaubt man das hellblaue Kleid Klarissas zwischen den silbernen Buchenstämmen zu sehen.« Er schwieg. Er hatte sich vorgebeugt, seine Hände ruhten gefaltet auf dem Tisch, und er blickte unverwandt auf ihr hellblaues, duftiges Kleid.

Wieder streifte ein kühler Blick sein gutes, bedenklich gerötetes Antlitz: »Ich schätze, die Klarissa Stifters trägt im Walde, wo Ronald sie mit ihrer Schwester belauscht, ein weißes Kleid, Herr Eisenhut.«

»Ein weißes Kleid?« fragte er aufgeregt. »O nein, das Kleid meiner Klarissa ist hellblau. Das ist gewiß. Aber es erscheint nicht das Kleid, und Klarissa erscheint nicht, und es ist öde und einsam zwischen den Stämmen – so schrecklich einsam, Fräulein Liselore. Die Einsamkeit greift mir oft ans Herz und preßt es zusammen.«

Liselore beugte sich zu dem häßlichen Hund herab und 187 streichelte ihn. Dann griff sie nach dem Büchlein und begann darin zu blättern.

Jonas atmete tief auf. Das Glück war ihm so nahe. Sein süßer Atem vermischte sich mit dem seinigen. Vorwärts, Jonas! Es ist eine Prüfung wie jene andere auch – weiter nichts!

»Könnten Sie ahnen, wie einsam ich mich in dem alten Hause fühle –«

»Und nun hätte ich beinahe vergessen, Ihnen zum Doktor zu gratulieren –«

»Ich danke Ihnen. Bevor meine Arbeit gedruckt ist, habe ich übrigens gar nicht das Recht, den Titel zu führen. Aber, Fräulein Liselore, denken Sie noch an das Tal der Schwermut?«

»Oh gewiß – Trausnitz im Tal!« Sie strich über die letzte Seite des Büchleins. »Aber nun hören Sie einmal, was Adalbert Stifter sagt: ›Die Schwestern lebten fortan dort‹ – es war dort auch eine Stätte der Schwermut, Herr Eisenhut, Sie dürfen es glauben! – ›beide unvermählt. Klarissa liebte und hegte Ronald fort und fort; in den goldenen Sternen sah sie seine Haare, in dem blauen Himmel sein Auge. Selbst als sie schon achtzig Jahre alt geworden und längst ruhig und heiter war, konnte sie ihn sich nicht anders denken – selbst wenn sie ihn noch lebend träumte und einmal kommend‹ – –.« Sie schloß das Buch und streichelte die Einbanddecke. »Ist's nicht zu lesen wie ein vergilbtes Albumblatt? Altmodisch und leise duftend nach getrockneten Rosenblättern. Und dennoch rührend für den, der zu lesen versteht. Ich habe Ihnen doch auch damals gesagt, es gibt eben Menschen, die finden sich aus solchen Tälern nie heraus – nein, nimmermehr, Herr Eisenhut. Da müssen sie dann auch« – sie lächelte – »im besten Falle wie Rosenblätter vertrocknen.«

Was war das? Er starrte sie mit großen Augen an, und seine gefalteten Hände krampften sich ineinander, daß die Knöchel weiß wurden und die Fingerspitzen blutrot.

188 »Aber noch etwas hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie mit liebreizendem Lächeln. Sie nestelte an ihrem Armbeutel und brachte eine Papierrolle zum Vorschein. »Weil Sie die Sage von Sieglinde wünschten, habe ich sie niedergeschrieben.« Sie erhob sich und legte die Handschrift auf den Tisch.

Er stand vor ihr, er stammelte seinen Dank für das Geschenk. Und wie ein Blitz der Erkenntnis zuckte es durch sein Hirn: Wenn ich sie nun dennoch frage und sie sagt nein und lächelt dazu, daß ich sie an mich reißen möchte, und blickt so kühl, daß mich friert, dann ist alles mit einem Male aus, dann kann ich nie mehr nach Moos reiten – nein, nimmermehr.

Und es packte ihn eine namenlose Angst würgend an der Kehle und zerdrückte ihm jedes weitere Wort.

»Ich muß nun doch gehen. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre gastliche Aufnahme. Wo nur mein Vater so lange bleibt?«

In diesem Augenblick schrillte die Glocke durch den Hausflur.

Jonas ging. Langsam folgte sie nach.

Der Major trat in den Hof und rief zur grünen Gattertür hinüber: »Gedulde dich nur noch ein Viertelstündchen. Ich muß etwas nachsehen in Herrn Eisenhuts – ja so, Vergebung, gratuliere – in Herrn Doktor Eisenhuts großartiger Bibliothek.«

Liselore ging zurück an den Tisch. Der Hund hatte sich aufrecht gesetzt, und seine blinden Augen blickten traurig ins Leere.

Sie beugte sich herab und kraute ihn liebevoll zwischen den Ohren. Da gähnte der alte, häßliche Hund, nickte und streckte sich mit leisem Winseln auf den Rasen.


Abend war's. Jonas Eisenhut saß am Schreibtisch, und das stille Lampenlicht strahlte auf den weißen Briefbogen, über den seine schreibende Hand in wilder Eile dahinglitt.

Aber plötzlich hielt er inne und warf die Feder auf die Platte.

›Tor, der du bist, dreimal bist!‹ murmelte er. ›Was vermöchte jetzt noch ein Brief?‹

189 Er lehnte sich zurück und streckte die Beine weit unter den Schreibtisch. Lange Zeit saß er so und blickte mit schwimmenden Augen an die Decke empor in den Lichtkreis der Lampe.

Dann neigte er sich wieder auf den Briefbogen, ergriff die Feder, zog einen dicken Strich durch das Geschriebene und begann mit ganz veränderter Schrift langsam Vers um Vers darunter zu kritzeln.

Zuweilen tropfte eine Träne auf ein nasses Wort, und Träne und Wort flossen ineinander. Aber zuletzt war doch leidlich klar – ach nein, in voller Klarheit zu lesen:

Es rauschen die Bäume im Winde,
und leise fällt Blatt auf Blatt –
und ich suche hinter den Hügeln
die unvergeßlichen Stadt.

Dort hinten ist sie versunken,
versunken im bläulichen Duft –
ich suche und kann sie nicht finden;
mich friert in der herbstlichen Luft.

Noch spielen die sonnigen Lichter
auf altersgrauem Gestein,
noch tönen die summenden Glocken
in meine Gedanken herein;

noch zittern die freundlichen Worte,
die wir im Wechsel getauscht,
noch klingt es wie silbernes Lachen
– und ist doch alles verrauscht;

verrauscht wie die eilende Welle,
verweht wie das fallende Blatt,
und ich suche sie hinter den Hügeln
die Jugend, die herrliche Stadt.

Er nahm das Gedicht und vergrub es in die unterste Schublade seines Schreibtisches. 190

 


 


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