August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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4. Leuchtenberg

Wenn die Sonne in goldener Pracht am wolkenlosen Himmel niederging und in das Waldmeer tauchte, dann zog allgemach eine sternklare Nacht herauf. Und wenn auch gegen Morgen die Nebel über dem Lande braueten – die Sonne durfte nur hinter den Waldbergen emporkommen, dann krochen die Dünste ins Erdreich und der Leuchtenberg grüßte leuchtend hinüber zum Fahrenberge, die grauen Mauern der Friedrichsburg schimmerten wie angelaufenes Silber, und ihr Ziegeldach borgte von den himmlischen Strahlen gold-rötlichen Glanz; auf den Krautäckern funkelte der Tau, und das Getreide reifte dem Schnitt entgegen; ein Tag gab es dem andern weiter, wie schön, wie wunderschön die Welt sei. Und der Winter war ferne.

Zu Fuß und zu Roß und zu Wagen durchstreiften die drei das prangende Land, das ihnen sein Bestes zeigte in einem ununterbrochenen Sonntag, und sie waren so unzertrennlich geworden, daß man sie im Markte nur noch mit dem Namen ›das wandernde Kleeblatt‹ bezeichnete. Denn auch die Leute hierzulande nehmen sich die Freiheit, bescheidenen Witz an ihren Mitmenschen zu üben. Und es konnte nicht fehlen, daß man mit der Zeit zu scharfsinnigen Vermutungen überging. Ein reicher, junger Mann und ein bildschönes Mädchen – holla! Und bald war man seiner Sache schon beinahe sicher: dieser junge Mann guckte diese junge Dame immer ›so‹ an! Allerdings guckte diese junge Dame diesen jungen Mann ihrerseits gar nicht ›so‹ an. Das sagte ja auch der Assessor, und der konnte es wissen; denn der guckte sie auch immer ›so‹ an. Und man wurde doch wieder ganz unsicher, als sie eines Nachmittages ihn beim Besteigen seines Reitpferdes so vergnügt anguckte, daß sie einen 79 Lachkrampf hinter ihrem Taschentuch zu verbergen gezwungen war. Von jetzt an gingen die Meinungen der Bürger zwiespältig auseinander.

In einem Punkte aber waren fast alle ohne Unterschied der gleichen Ansicht: Was mochten wohl diese Fremden an einer Gegend, die man von Kind auf kannte, an einer Gegend, in die man willenlos als gehorsamer Staatsbeamter aus ganz anderen Gegenden hereinversetzt war, – was mochten sie wohl an einer solchen Gegend Besonderes finden? Wo es doch, wie gesagt, ganz andere Gegenden gab, namentlich auch im Auslande, Gegenden, die vom lieben Herrgott für solche Leute eigens geschaffen und mit ganz andern Gasthöfen bestellt sind. Und an dieser allein richtigen, öffentlichen Meinung vermochte auch der feinsinnige Kaufmann, der neben dem Gasthaus wohnte und je länger je öfter des Abends ins Herrenstübchen hinüberkam, neuerdings sogar zuweilen an einem Ausflug teilnahm, nicht das Geringste zu ändern. Denn der war ja doch einmal in seine Heimat verliebt und vertrat in manchen Stücken andere Ansichten als senatus populusque, als Gewappelte und Volk.

Die Fremden aber hatten keine Ahnung, welchen Anstoß ihre Geschmacksrichtung erregte, und fanden auf ihren Gängen, Fahrten und Ritten allerdings immer wieder etwas Besonderes.

Sie besahen sich die Wappenbilder auf den Grabsteinen in dem köstlichen Kirchlein zu Altenstadt, das Bischof Otto vor siebenhundert Jahren zum Heiligtume geweiht hatte. Und sie tranken saures Bier, nur damit sie sitzen durften an der dicken, romanischen Gewölbesäule in der kleinen Halle des Wirtshauses nebenan, das einst das feste Wohnhaus edler Geschlechter gewesen war.

Sie baten um Einlaß in die hochragende Burg von Waldau und stiegen in den Bergfried empor, den die Zeit 80 in einen biederen Kirchturm verwandelt hatte. Sie hielten Rast an der weißen Straße unter dem hohen Kreuz, umrauscht von den gewaltigen Linden, und freuten sich am fröhlichen Bilde der Burg und des Dorfes.

Sie standen in der ungeheuern, gemütsbedrückenden Felseneinsamkeit über der Ödmühle, blickten hinab in die Tiefe, wo die Pfreimd in einem kühn geschwungenen S aus Wäldern und Felsen in Wälder und Felsen dahinfließt, blinkend wie dunkles, gescheuertes Eisen, und sahen hinüber auf den Markt, der sich über finstern Nadelwaldungen in grandiosem Aufbau gegen seinen Kalvarienberg hinanzieht.

Sie kamen in duftender Waldeinsamkeit empor zu der Kuppe zwischen die riesigen Granitblöcke, auf deren einem die letzten Mauerreste der Feste Schellenberg dem gänzlichen Verfall entgegentrauern.

Sie bestiegen den hohen, seltsamen Rosenquarzfelsen von Pleystein und blickten in die flimmernde Pracht seiner Wallfahrtskirche.

Sie standen vor den vielhundertjährigen Steinkreuzen bei Oberlind und betrachteten die emporgereckten Schwurhände, die mit unbeholfenen Linien auf ihnen eingeritzt sind.

Und immer wieder drangen sie an Rasttagen plan- und ziellos in die unendlichen Wälder, lagerten sich im weichen Moose und lauschten dem Summen und Singen der Nadeln hoch in den Wipfeln.

Überall aber tauchte, bald nahe, bald wieder in blauer Ferne der Leuchtenberg auf und lockte sie auf seine glänzende Höhe.

Ihm galt der letzte Gang am Tage vor ihrer Abreise.


Sie waren selbviert – denn auch der Kaufmann hatte sich angeschlossen – den steilen Berg hinangewallt, fast so andächtig, als zögen sie empor zur Burg des heiligen Gral. Woher die erwartungsvolle Andacht? – Sie hätten es selbst 81 nicht zu sagen vermocht. Das Leuchten war schuld daran, das weithin Leuchten, das wundersam lockende Leuchten!

Sie waren zwischen den behäbigen Häusern des Marktes zum großen, spitzbogigen Burgtor gekommen, hatten gewartet, bis sich ein alter Mann einfand und mit einer gewissen Feierlichkeit den großen Schlüssel ins Loch steckte.

Sie waren durch andere Tore gekommen, die weder Schlösser noch Torflügel aufwiesen, sie waren zwischen himmelan strebenden Mauerresten auf und ab über Schutthalden gestolpert und hatten eine Kapelle beschaut, die tatsächlich noch einige Spuren längstverlorener Heiligkeit aufwies.

Jonas Eisenhut war redlich bestrebt gewesen, den Greuel der Verwüstung aus dem unerschöpflichen Salzvorrat seines Wissens zu besprengen, und mit dem ganzen Aufwande seiner und der eigenen Phantasie hatten sie das ungeheure Nichts, das in einer riesigen Palasmauer seinen Abschluß fand, mit Sälen und Kammern, Wandteppichen und Geräten, gebietenden Herren und sittigen Frauen, Knechten und Mägden zu bevölkern, mit Lautenklang und Geigenspiel zu erfüllen versucht und endlich vom Bergfried hinaus ins weite Land geschaut, über das einst die Staubgeborenen, längst wieder zu Staub Gewordenen, als Herrscher regiert hatten. –

Liselore atmete hörbar auf, als sich das äußerste Tor, das eigentlich überhaupt nichts zu verschließen und zu verwahren hatte, hinter ihnen wieder knarrend in den Angeln drehte, – und sie sagte: »Aus der Ferne gesehen ist's schöner!«

»Wie so manches auf Erden bis hinauf zum Throne des Königs«, antwortete Eisenhut.

»Was tun wir jetzt?« fragte der Major und machte vor dem Wirtshause halt.

»Doch nicht in diese Herberge!« rief Liselore entsetzt. »Wir sind nicht darauf angewiesen; denn für Atzung habe ich reichlich gesorgt.« Und triumphierend hob sie den bauchigen Armbeutel.

82 »Dann schlage ich vor,« sagte der Kaufmann, »wir dringen hinein, bemächtigen uns jeder eines Glases Bier und marschieren vor den Markt hinaus. Dort weiß ich ein Plätzchen, einsam und still, hoch über dem Luhetal, wie geschaffen zum Vespern.«

»Und ich«, rief Liselore, »habe einen ganz andern Gedanken. Wir lassen dem Wirte neidlos sein köstliches Bier, steigen von diesem Berg der Verwüstung hinunter ins Tal und am andern Ufer die Höhe hinauf, setzen uns zum Abschiednehmen unter den Kalten Baum – das Bäuerlein dort spendet uns gewiß ein paar Näpfe voll Milch – zuletzt zünden die Herren ihre Zigarren an – wir sehen uns noch einmal satt an der in dankenswerte Ferne gerückten Schönheit dieser Trümmer – – und erzählen uns etwas. Dann gehen wir im Sternenscheine zufrieden nach Haus.«

»Einverstanden!« rief Eisenhut begeistert. »Und erzählen müssen Sie, Fräulein Liselore!«

»Ich ziehe meinen Antrag zurück«, lachte der Kaufmann.

»Und meine alten Knochen werden überhaupt nicht gefragt?« sagte der Major und blickte verlangend nach der Herberge.

»Den Sprung dahinüber können deine kräftigen Knochen wahrhaftig noch wagen!« schmeichelte Liselore. »Ich möchte fort aus der Nähe dieser Trümmer. Und unter dem Kalten Baum fänden wir dann doch einen stimmungsvollen Abschluß unserer Sommertage.«

»Meinetwegen, Liselore, weil du's bist – aber nu los!«

*

Sie hatten sich am Rande der Heerstraße, an einem halb eingesunkenen Steinkreuze gelagert. Sie waren gesättigt und hatten sich an der köstlichen Milch gelabt. Die Herren rauchten und die blauen Wölklein schwammen in der unbewegten Luft.

83 »Fräulein Liselore –?« sagte Jonas. »Ich denke, Sie wollen uns was erzählen?«

Sie saß am Mordkreuze und hatte sich gegen den moosigen Stein gelehnt. Sie hatte die Hände im Schoße gefaltet, und ihr Antlitz leuchtete in Schönheit.

»So sei's denn!« rief sie. »Denken Sie, Herr Eisenhut, noch an die Sage vom harten Grafen auf Leuchtenberg? Ja? Nun gut, hören Sie, jetzt will ich Ihre Sage erzählen:

Sieglinde

Es war vor vielen, vielen hundert Jahren. Über dem Flüßlein Luhe auf dem Leuchtenberg am Böhmerwalde, wo heutzutage die Trümmer so traurig gen Himmel ragen, stand noch unversehrt die stolze Herrenburg, und an ihre festen Mauern schmiegte sich, wie heute an ihre morschen Überreste, der große Marktflecken mit der Kirche – alles hoch oben über dem weiten Lande, zusammengedrängt auf der Kuppe des Berges.

Auf dieser Burg wohnte ein Graf. Der besaß zwei Raben. Die hockten auf seinen Schultern und konnten sprechen. So behaupteten wenigstens die Leute. Aber wenn man näher nachfragte, so hatte noch niemand sie sprechen gehört. Alles Land, soweit es aus den Fenstern seines Schlosses zu überblicken war, gehörte ihm, und er dünkte sich so vornehm, daß er eines Tages zu einem Gaste sagte: ›Sieh hinab, da drunten sind meine Gänse.‹ – ›Ich sehe keine Gänse‹, sagte der fremde Herr; ›ich sehe nur Leute in grauen Kitteln auf dem Felde.‹ –›Doch!‹ antwortete der Graf und sah sehr hochmütig aus, ›es sind meine Gänse.‹

Aber so stolz er war und so reich er war, sein bester Schatz, auf den er am stolzesten war, das war seine Tochter Sieglinde.

Sie zählte sechzehn Jahre, hatte langes, goldenes Haar, große, blaue Augen, ein Gesicht wie Milch und Blut, und 84 wenn sie mit ihrem Vater durch die Felder ritt, dann neigten sich die Ähren und flüsterten: Ach, wie ist sie so schön! Sie aber hörte es wohl, doch verstand sie es nicht. Und wenn sie das Flüßlein entlang ritt, dann streckten die Fische die Köpfe aus dem Wasser und verdrehten die Augen: Ach, wie ist sie so schön! Und wenn sie durch den grünen Wald ritt, dann kamen von nah und fern die Vögel und setzten sich zur Rechten und zur Linken auf die Zweige und sangen stundenweit den Weg entlang nur das einzige Lied: Ach, wie ist sie so schön!

Aber wenn sie dann wieder heimwärts ritten und, die Dorfstraße hinauf, an der Kirche vorbeikamen, dann hielten die Kinder im Spiele inne und winkten ihr zu, und wenn sie es auch nicht äußerten, so wußten sie es doch noch viel besser als die Ähren auf dem Felde, als die Fische im Wasser und als die Vögel im Walde: daß sie nicht nur schön war, sondern von Herzen auch gut. Und die großen Leute sagten dann und blickten sich bedeutsam an: ›Ganz die selige Mutter. Ewig schade um die!‹

Sieglinde hörte das nicht. Aber sie fühlte es und nickte mit kindlichem Lächeln nach allen Seiten. –

So lebte der Vater mit der Tochter in großer Einsamkeit dahin. Denn der Graf war so stolz, daß er keines Menschen zum Umgang bedurfte. Nur die Raben kamen Tag und Nacht nicht von seiner Seite.

Da geschah es, daß ein Krieg entstand mit den Ungläubigen im gelobten Lande, und daß auch der Graf das Kreuz nehmen und in die Ferne ziehen mußte.

Als nun seine Reiter auf schönen Rossen, gerüstet vom Kopf bis zu den Füßen, im Schloßhofe warteten, trat er in die Kammer seiner Tochter, um von ihr Abschied zu nehmen. Er hatte einen vergoldeten Harnisch am Leibe, über die gewappneten Beine fiel ein kurzer, silbern durchwirkter 85 Reitrock herab, zur Linken hing sein breites Ritterschwert, vom Helme wehten drei Straußenfedern, zwei schwarze und eine weiße, und auf seinen Schultern saßen die Raben mit starken Schnäbeln, großen runden Augen und blauschwarzem Gefieder.

›So leb nun wohl, mein liebes Kind!‹ begann der Graf, räusperte sich und strich mit der behandschuhten Rechten über die Augen, als wäre ihm ein Stäublein hineingeflogen.

Sieglinde stand bleich vor ihm und hatte die schmalen Händchen unter der Brust gefaltet.

›Leb wohl!‹ fuhr der Vater fort. ›Es kann lange dauern, bis ich dich wieder sehe. Doch du brauchst dich auch nicht zu fürchten. Denn der Burgwart mit seinen Knechten ist da, dich zu schützen. Du wirst keinen Mangel leiden; denn sein Weib wird dich mit allem versorgen, was du bedarfst. Aber merke dir nur das Eine: Im ganzen Schlosse magst du überall hingehen, wo dich gelüstet. Doch weiter als bis an das Schloßtor darfst du nicht gehen, solange ich fort bin.‹

Da erschrak Sieglinde und fragte den Vater: ›So darf ich auch nicht in die Kirche hinunter ins Dorf?‹

Mit rauher Stimme antwortete der Graf: ›Du darfst auch nicht in die Kirche. Aber hier hast du ein schönes Gebetbuch.‹ Und damit legte er ein Büchlein mit silbernen Spangen auf ihren Tisch.

Da fragte Sieglinde zum zweiten Male: ›So darf ich auch nicht in den Wald?‹

Mit rauher Stimme antwortete der Graf: ›Du darfst auch nicht in den Wald. Aber du darfst von früh bis nacht auf die Wälder hinaussehen, soweit dich gelüstet.‹ Und damit führte er sein Kind an das Fenster, öffnete es und wies hinaus über das herrliche Waldland, das sich im Glanze der Morgensonne ausdehnte in unermeßliche Fernen.

Da lief eine dicke Träne über die Wange des Kindes und fiel auf die weiße Rose, die es an der Brust trug. 86 Dort hing sie als leuchtender Tropfen und glänzte so sehr, daß der Graf die Augen schließen mußte. Sieglinde aber flüsterte: ›O lieber Vater, so darf ich auch nimmer hinaus zu den Kindern?‹

Zornig riß der Graf die Augen auf, und ungerührt von dem glänzenden Tropfen an der weißen Rose auf ihrer Brust sagte er mit noch viel rauherer Stimme: ›Du darfst auch nicht zu den Gänsen hinunter ins Dorf. Damit du aber Gesellschaft hast, lasse ich dir meine Raben zurück.‹

Und als hätten sie es verstanden, flogen die beiden Raben von seinen Schultern, setzten sich auf den Fenstersims und blickten mit klugen Augen auf den Vater und auf sein Kind.

Sieglinde aber drückte die Linke ganz fest auf ihr pochendes Herz, verschluckte die Tränen, die ihr noch aufsteigen wollten, und gab dem Vater die Rechte: ›So lebt denn wohl, Gott schütze Euch, und vergeßt mich nicht in der Fremde!‹ –

Lange stand sie am Fenster und blickte hinaus in die Ferne, bis der reisige Zug als ein weißes Staubwölklein im Walde verschwand.

Und während sie nun ihren Tränen freien Lauf ließ, räusperte sich etwas hinter ihr. Erschrocken wandte sie sich um. Da saßen die Raben des Vaters auf dem Kaminsimse, der eine rechts, der andre links, sahen mit großen schwarzen Augen auf sie her, und mit krächzender Stimme begann der eine:

Liebes Kind,
so geschwind
wie der Wind
kommt die Sünd.

Und der andere fiel ein:

Sie bedacht,
bei Tag und Nacht
bist du bewacht –
nimm dich in acht!

87 Bis an den Hals herauf schlug der armen Sieglinde das Herz, und halblaut brachte sie die Worte heraus: ›Also haben die Leute doch recht, und ihr beiden könnt wirklich reden?‹

Und sie fürchtete sich von Stund an sehr vor den Vögeln. –

Es begann eine öde Zeit für das arme Kind. Zwar litt sie nicht Hunger, zwar litt sie nicht Durst; denn für alles sorgte die alte Frau. Aber wie große graue Fische kamen die Stunden über die Wälder geschwommen, glotzten eine wie die andere, eine wie die andere zum Fenster herein und schwammen vorüber.

Zuerst ging Sieglinde im weiten Schlosse umher, setzte sich auch wohl unter die Linde im Schloßhof, und überall, wohin sie ging, flogen die Raben des Vaters. Überall ging sie hin, nur nicht an das verschlossene Tor.

Dann aber wurden ihre Spaziergänge kleiner und kleiner, und zuletzt saß sie fast immer auf einem Kissen in der Fensternische und stickte an einem großen Bilde. Und auf dem Fenstersimse saßen die Raben und guckten ihr zu. Draußen aber schwammen die grauen Fische, glotzten herein und schwammen vorbei.

Der Sommer kam und ging vorüber, der Herbst kam, und die Blätter fielen. Es wurde Winter, und über dem weitmächtigen Lande lag es schneeweiß und glitzernd, daß einen die Augen schmerzten im Lichte der Sonne. Und endlich kam wieder der Frühling. Und er kam mit solcher Pracht, daß der einsamen Sieglinde das Herz quoll in unsäglicher Sehnsucht und ihre Augen zu tropfen begannen.

Sie öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus, atmete tief und konnte sich nicht satt sehen an all der Herrlichkeit der Welt.

Die Raben aber kamen vom Kaminsims geflogen und setzten sich vor sie auf den Fensterrand, und zum zweiten 88 Male in all der langen, langen Zeit öffnete der eine seinen Schnabel und sprach:

Liebes Kind,
so geschwind
wie der Wind
kommt die Sünd.

Und der andere nickte mit dem Kopfe und antwortete krächzend:

Sie bedacht,
bei Tag und Nacht
bist du bewacht –
nimm dich in acht!

Sieglinde aber war so selig im Anblick all der blühenden Herrlichkeit, daß sie nicht im geringsten erschrak.

Weit über dem tiefen Tale drüben, hoch über dem Walde, auf kahlem Bergrücken, in gleicher Höhe mit dem Schlosse Leuchtenberg, stand damals wie heute der Kalte Baum – nur war er damals noch viel jünger als heute und hatte sich gerade zum hundertsten Male mit seinem schimmernden Frühlingskleide geschmückt.

Unter dem Baume aber lag ein junger Schäfer, und seine Schafe weideten friedlich am Hange. Und als seine scharfen Augen die lichte Gestalt am Fensterlein erkannten, spannte seine Sehnsucht goldene Fäden über das tiefe Tal, und auf den Fäden liefen seine Gedanken zu ihr. Denn Sieglinde hatte vorzeiten oft mit ihm gespielt auf dem Platze vor der Kirche, als sie beide noch Kinder waren.

Sie sah ihn nicht. Aber seine Gedanken weckten auch ihre Sehnsucht, daß sie mit weitgeöffneten Augen hinüberblickte zur goldschimmernden Linde und sich wünschte: Ach nur einmal, einmal nur, wer da sitzen dürfte in Gottes freier Luft unter der Linde dort oben!

Aber zornig schlugen die Raben mit den Flügeln und sagten ihr Sprüchlein: 89

Liebes Kind,
so geschwind
wie der Wind
kommt die Sünd.

Sie bedacht,
bei Tag und Nacht
bist du bewacht –
nimm dich in acht!

Da fürchtete sich die arme Sieglinde denn doch wieder, schloß das Fenster und beugte sich tief über ihre Stickerei. –

Drei Tage war der Schäfer unter der Linde gelegen und hatte zu dem geschlossenen Fenster hinübergeblickt. Und immer stärker wurden die goldenen Fäden, die sich spannten über das schimmernde Tal.

Der Abend kam herauf, und eine schmale Mondsichel stand über den schwarzen böhmischen Wäldern. Still ruhten die Schafe am Hange, mattleuchtende Flecke auf grünem Grunde. Da schlief der Hirte ein. Und schlief und schlief.

Der Mond reiste weiter und tauchte hinab in den Wald. Aus vielhunderttausend Löchlein schimmerte der goldene Himmel hervor, und die Menschen in ihren Hütten sagten: die Sterne sind aufgegangen.

Der Nachtwind machte sich auf und kam einher, und die Bäume und Sträucher und Halme sahen sein weißbärtiges Gesicht, neigten sich ehrfürchtig und flüsterten in einer Sprache mit ihm, die nur der Wind und die Bäume, die Sträucher und die Halme verstehen. Aber er kam an diesem Abend gar nicht weit hinaus, kehrte bald zurück und legte sich schlafen in seiner Höhle.

So schliefen sie alle, der Wind und der Hirte und die Schafe. Nur das Flüßlein tief unten im Tale murmelte rastlos dahin, und die Bäume konnten das Wispern nicht lassen.

Da kam's aus dem Walde auf die Lichtung heraus und begann äsend auf der Wiese zu suchen, fand, was es wollte, und zog lautlos über die Geleise der uralten Heerstraße hinüber zum Kalten Baum.

Dort lag der Hirte und träumte, und es war ihm, als 90 stünde ein weißes Reh vor ihm; das trug eine Schlüsselblume im Maule, neigte sich, ließ die Blume auf seine Brust fallen und trat zurück.

Der Hirt erwachte, und auf seiner Brust lag ein goldener Schlüssel.

Zwischen Traum und Schlaf erhob er sich und sah, daß über dem tiefen Tale der Leuchtenberg leuchtete, als hinge Sankt Elmsfeuer an seinen Mauern.

Wie im Traume folgte er mit seinem Schlüssel dem Reh, ging durch den finstern Wald hinab, ging über das Flüßlein bis an den Fuß des Schloßberges. Da blieb das Reh an einer Kellertüre stehen, die er noch niemals bemerkt hatte, wandte den Kopf, äugte ihn an, machte einen Satz und husch! war es verschwunden.

Als verstünde sich das alles von selber, steckte der Knabe den goldenen Schlüssel ins Schloß. Lautlos drehte sich die Türe in den Angeln, und der Hirte trat in einen schmalen Gang.

Es wäre natürlich ganz finster in dem Gange gewesen. Aber an den Wänden saßen rotglühende Kellerasseln, und von der Decke hingen an silbernen Fäden weißleuchtende Spinnen. In ihrem Lichte stieg der Hirte wie träumend bergan.

Nach einer Weile wurde der Gang breiter und mündete in ein kleines Gemach, von dessen Decke eine weißschimmernde Schlange herabhing.

Wie im Traume, als müßt' es so sein, hielt ihr der Knabe den goldenen Schlüssel hin, sie schlüpfte zweimal hindurch und hing nun mit dem goldenen Schlüssel regungslos von der Decke herab.

Noch immer träumend entwich der Knabe, und als er aufwachte, lag er unter dem Kalten Baum, und sein schwarzer Hund leckte winselnd seine Hand. Auf der Leuchtenberger Kirche schlug's ein Uhr.

91 Da raffte er sich empor, trieb die Schafe in den Pferch und kroch in den Karren.

Die Nacht ging weiter und weiter, über den böhmischen Wäldern hob sich ein heller Streifen, die Himmelslöchlein schlossen sich, der Wind rollte sich ein wenig hervor, und wieder bückten sich die Bäume und Sträucher und Halme; dann aber legte er sich noch einmal zur Ruhe.

Über die böhmischen Wälder kam wie alle Tage der erste große graue Fisch geschwommen, schwamm lautlos hinüber zum Leuchtenberger Schlosse und glotzte zum Fenster Sieglindens hinein. Da strömte es über ihn wie goldener Glanz, und langsam wandte er sich und schwamm weiter.

Sieglinde schlief hinter den Vorhängen ihres Himmelbettleins, die Raben schliefen auf dem Kaminsims und hatten die Köpfe in ihr Gefieder gesteckt.

Weder die Raben noch Sieglinde sahen, wie die weiße Schlange aus einem Mausloch in die Stube kroch.

Die Schlange kroch geradeswegs auf das Bettlein zu, ringelte sich empor, schlüpfte hinter die Vorhänge, legte den goldenen Schlüssel auf die Bettdecke, glitt zu Boden und verschwand wieder in dem Mausloch.

Sieglinde erwachte und nahm den Schlüssel. Und als müßt' es so sein, stand sie auf, kleidete sich an, ging zur Wand, steckte den Schlüssel in ein Loch, das sie noch niemals gesehen, öffnete eine Türe, die niemals dagewesen, und ging den tiefen Gang hinab, als müßt' es so sein. Vor ihr ringelte sich die leuchtende Schlange, über ihr leuchteten wie weiße Ampeln die riesigen Spinnen und glühten die Asseln, und hinter ihr schloß sich lautlos die Türe.

Als sie auf dem Brücklein über die Luhe ging, streckten die Fische die Köpfe aus dem Wasser und verdrehten die Augen: Ach, wie bist du so schön! Und als sie durch den taufrischen Wald ging, kamen von nah und von ferne die 92 Vögel, setzten sich auf die Zweige und sangen den ganzen Weg entlang das einzige Lied: Ach, wie bist du so schön!

Und endlich saß sie, als müßt' es so sein, unter dem Kalten Baume, Frau Sonne kam hinter dem böhmischen Walde empor, und die Blättlein flüsterten: Ach, wie bist du so schön!

Da erwachte auch der Hirtenknabe in seinem Karren, trat hervor und rieb sich die Augen.

Sieglinde hatte den Kopf zurückgebogen und die Hände im Nacken gefaltet, staunte in die Blätter empor, die golden glänzten im Lichte der aufgehenden Sonne, und hatte keine Ahnung von dem Knaben in ihrer Nähe.

Dieser stand noch immer und rieb die Augen. Aber es war kein Zweifel: da saß sie leibhaftig, die er so oft in seinen Träumen und von ferne im Fenster gesehen! Und eilig lief er hinab an den Waldrand, pflückte Veilchen, so viele er fand, setzte sich und wand ein Kränzlein daraus. Dann kam er auf den Zehenspitzen an die Linde heran, ließ sich auf ein Knie nieder und hielt ihr den Kranz hin.

Da richtete sie sich auf, faltete die Hände im Schoß und sagte lächelnd: ›Du bist's?‹

›Ja, ich bin's‹, brachte er schüchtern hervor; denn es war ihm, als kniete er vor einer Königin. Und immer noch hielt er den Kranz hin.

›Den willst du mir schenken?‹ fragte sie und griff nach dem Kränzlein.

Heftig nickte er.

Da hatte sie es schon auf ihre Locken gedrückt und lachte dem Knaben in die dunklen Augen.

Der stand auf und trat zurück.

Und wieder faltete sie die Hände im Nacken, sah mit weitgeöffneten Augen in die grüne Pracht und sagte halb zu sich, halb zum Knaben: ›Oh, wie so wunderschön!‹

Im weiten Kreise um den Kalten Baum standen uralte 93 steinerne Sitze, zwölf an der Zahl. Der Hirte ging auf den Zehen rückwärts und ließ sich auf einem der finstern Sitze nieder, als wäre dieser von Anfang für ihn bestimmt. Und unverwandt betrachtete er aus der Ferne die Gräfin Sieglinde.

Nach einer Weile fragte diese verwundert: ›Aber wie bin ich denn hierher gekommen?‹

Da es der Hirte nicht wußte, so schwieg er und schaute und schaute. –

Unterdessen waren in der Kammer des Kindes die Raben erwacht, schlugen mit den Flügeln, putzten ihr Gefieder und warteten, bis sich die Vorhänge der Himmelbettstatt öffneten und das blonde Köpflein herausguckte, wie alle Tage. Aber sie warteten vergebens. So flog der eine vom Gesims auf die Stuhllehne, schob mit dem Schnabel die Vorhänge auseinander und spähte in die Kissen. Da sah er, das Bettlein war leer.

Verwundert krächzte er auf, blickte nach der Türe und erkannte, daß der Riegel vorgeschoben war, wie gestern abend. Und nun krächzte er zornig. Auch der andere kam geflogen; da saßen sie alle beide auf der Stuhllehne und krächzten um die Wette zwischen die Vorhänge hinein. Aber es half nichts, das Bettlein blieb leer.

Und immer lauter und lauter krächzten sie, so daß man's endlich in der ganzen Burg vernahm.

Da kam der Schloßwart mit seinem Weibe gelaufen, und sie rüttelten zu zweit an der Türe. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Türe zu sprengen.

Aber es nützte auch nichts, daß sie nun zu viert das Kämmerlein durchsuchten und alle Gemächer der Burg und den Hof und die Keller. Sieglinde war und blieb verschwunden.

Mit gesträubtem Gefieder saßen die zwei schwarzen Gesellen am offenen Kammerfenster auf dem Simse und guckten mürrisch hinaus in die Pracht des Frühlingstages. Hockten 94 und fraßen nichts, saßen den langen Vormittag, über den Mittag, bis tief in den Nachmittag hinein.

Da reckte plötzlich der eine den Kopf, äugte scharf in die Ferne, hob und senkte die Flügel, und der andere reckte auch den Kopf und krächzte ein wenig. Und in gewaltigem Schwung schossen sie hinaus in die flimmernde Luft, hoch über die blühenden Bäume des Tales, hinüber zum Kalten Baum.

Sie kamen gerade zur rechten Zeit, als der Hirte im Abendsonnenscheine vor Gräfin Sieglinde kniete, ihr in einem hölzernen Näpfchen Schafmilch darbot und ein Stück Schwarzbrot und gar schüchtern sagte: ›Aber jetzt müßt Ihr doch auch etwas essen. Ihr habt ja den ganzen Tag nur immer geschaut!‹

›Habe ich das?‹ fragte Sieglinde verwundert.

›Gar nichts gesprochen habt Ihr, nur immer geschaut!‹ wiederholte er eifrig und rutschte mit dem Näpflein in der Linken und dem Brot in der Rechten ein wenig näher an sie heran.

Sie regte sich nicht. Ihre großen, blauen Augen blickten in weite Ferne, und langsam sprach sie, wie träumend: ›Es ist mir so weh, als müßte ich sterben, und so wohl, als hätte ich heute zum ersten Male gelebt. Ach, und hier oben ist's so wunder –‹

Wunderschön wollte sie sagen. Aber das Wort blieb ihr im Munde stecken; denn auf einen niedern Ast ließen sich sausend und rauschend zwei Raben nieder, und der eine begann zu krächzen:

Böses Kind,
so geschwind
wie der Wind
kommt die Sünd'.

Und der zweite antwortete in greulichem Wechselgesang:

Sei bedacht,
bei Tag und Nacht
bist du bewacht –
nimm dich in acht!

95 Dann krächzten beide zusammen:

Er wird uns fragen,
wir werden es sagen,
und du wirst klagen.

Sieglinde war totenbleich geworden, entsetzt starrte sie nach oben, und nur mühsam brachte sie hervor: ›Aber ich weiß doch gar nicht, wie ich hierher gekommen bin!‹

Das Näpflein war auf den Boden gefallen, und in der verschütteten Milch lag das Brot. Der Hirte aber hatte alles gar wohl verstanden und war in Todesangst vor den sprechenden Vögeln entflohen. Er rannte mitten durch seine Schafe, ohne umzublicken hinein in den finstern Wald, lief und lief, so weit ihn seine Füße trugen – ach, er wußte es nun auf einmal wieder, wer sie hierher gebracht: das Reh und die Schlange und er.

Die Vögel aber flogen in alle Höhen und strebten einhellig einem weißen Staubwölkchen entgegen, das sich im letzten Abendschein vom fernen Waldrande ablöste. –

Die Schatten der Bäume wuchsen über die Lichtung herein. Da kam's lautlos zwischen den Stämmen hervor und begann äsend auf der Wiese zu suchen, fand, was es gesucht hatte, und zog langsam über die weiße Straße zum Kalten Baum hinüber.

Dort saß Sieglinde, fürchtete sich sehr und weinte. Da stand plötzlich das weiße Reh vor ihr und legte eine gelbe Schlüsselblume in ihren Schoß. Und aus seinen großen Augen tropften zwei Tränen.

Sieglinde nahm die Blume und hielt einen goldenen Schlüssel in der Hand, erhob sich, als müßt' es so sein, und folgte dem Reh. Über dem tiefen Tale aber glänzte der Leuchtenberg, als hinge Sankt Elmsfeuer an seinen Mauern.

Da brauste auf hohem, schnaubendem Rappen ein gewaltiger Reiter die Straße einher. Sein Mantel flatterte, 96 seine Helmfedern wehten, seine Waffen klirrten, und auf seinen Schultern saßen die Raben.

›Halt!‹ donnerte er, und Sieglinde stand wie ein zarter Rosenstrauch am Rande der Straße, und der Schlüssel fiel in das Gras. Zitternd schmiegte sich das Reh an ihr Kleid.

›O Gott sei Dank, der Herr Vater!‹ rief sie und drückte die Hand auf ihr pochendes Herz. Aber ihr Jubelruf ward vom Gekrächze der Raben verschlungen.

Der Graf war vom Pferde gesprungen und schrie sie an: ›Wie kommst du hierher?‹

Ihr Gesicht war weiß wie Schnee, und er sah die rührend unschuldigen Augen und die schmerzlich verzogenen Lippen; denn der Leuchtenberg leuchtete über den finstern Grund herüber, als hinge Sankt Elmsfeuer an seinen Mauern. Aber seine Augen waren mit Blut unterlaufen, und zur Rechten und Linken auf seinen Schultern krächzten die Raben. Und so sah er nicht gut und hörte nicht scharf, als sie angstvoll hervorbrachte: ›Ich weiß es kaum, lieber Herr Vater; es war mir eben alles, als müßt' es so sein.‹

Und wieder herrschte er sie an: ›Wer war bei dir die ganze Nacht und den Tag?‹

›Die Nacht?‹ sagte sie und schüttelte sinnend das Haupt. ›O nein, es war nicht Nacht, Herr Vater, es war immer strahlender Tag.‹

›Und wer war bei dir?‹ fragte der Alte und griff an den Dolch.

›Der Hirte ist vor mir gekniet und hat mir mein Kränzlein –‹

›Geschenkt‹, wollte sie sagen. Aber dem Grafen schwammen die Augen im Blute, keuchend rief er: ›Geraubt!‹ und stieß ihr den Dolch in die Brust.

Das Reh entfloh, das Roß bäumte sich schnaubend, der Goldglanz auf den Leuchtenberger Mauern erlosch, mit 97 wildem Krächzen schwangen sich die Raben auf den Wipfel des Kalten Baumes und klagten zum Nachthimmel empor.

Mit einem verwunderten ›Ach!‹ sank das Kind am Wegrand zusammen.

Wie erstarrt stand der Graf, derweil der lange Zug seiner reisigen Knechte im Scheine der Fackeln die Heerstraße klirrend herankam.

›Da liegt mein Kind erstochen am Wege‹, sagte er mit rauher Stimme, bückte sich, hob die leichte Last empor, schwang sich auf sein Pferd und schlug den Mantel um die leblose Gestalt. ›Aber auf, der Hirte ist schuld daran, bringt mir den Hirten lebendig oder tot!‹

Da sprangen sie von den Pferden, hoben die Fackeln und drangen grimmig in den schwarzen Wald.

Der Graf ritt allein die stille Straße entlang und bog hinunter ins Tal.

Hinter ihm sang eine Heidelerche in einem fort: Oh, wie war sie so schön! Die Bäume ringsum flüsterten: Oh, wie war sie so schön! Und auf einmal wollte sein eigenes Herz zu tiefst in der Brust pochen und schlagen: Oh, wie war sie so fromm! Da gab er seinem Rosse die Sporen, jagte durch den brauenden Nebel im Grunde und kam in dunkler Nacht den steilen Weg zum Schlosse empor. – –

Es ging auf Mitternacht. Die Reisigen des Grafen waren mit verdrossenen Gesichtern in den Burghof eingeritten. Keiner hatte den Hirten gesehen. Jetzt lagen sie im Schloßhof auf weichem Stroh um die Linde herum und schliefen. Und auf einem Aste der Linde hockten die Raben, äugten traurig auf die matt erleuchteten Fensterlein der Schloßkapelle hinüber und rührten sich nicht.

In der dumpfen Kapelle aber lag aufgebahrt, mit wachsbleichem Gesicht, Gräfin Sieglinde, und in ihrer Brust stak der Dolch. Leise knisterten ihr zu Häupten die Kerzen.

98 Mit Rasseln und Ächzen holte der Hammer im Turme aus und begann die zwölfte Stunde zu schlagen.

Da richtete sie sich auf, stieg von der Bahre, nahm eine brennende Kerze vom Stachel und glitt aus der Kapelle, als müßt' es so sein.

Glitt durch Hallen und Gänge, kam die Wendeltreppe empor und trat in das Gemach ihres Vaters.

Der saß am schweren Tisch im Finstern und sann und sann.

Als nun das Licht der Kerze auf ihn fiel, blickte er empor und sah sein Kind vor sich.

›Lieber Herr Vater,‹ sagte Sieglinde mit ihrer süßen Stimme, ›ich weiß nun, was Ihr von mir geglaubt habt. Und ich kann nicht einschlafen, ehe ich Euch gesagt habe: Ich bin unschuldig solch böser Tat.‹

Flehend streckte der Graf die Hände nach ihr aus. Sie aber schüttelte leise das Haupt, klirrend fiel der Dolch aus ihrer Brust auf den Boden, und ein engelhaftes Lächeln verklärte ihr Antlitz: ›Seid unbesorgt, ich habe Euch alles vergeben. Nur eines bitte ich, laßt mich nun schlafen.‹

Als sie dies gesagt hatte, wandte sie sich, glitt aus der Stube, glitt die Treppe hinab durch Hallen und Gänge, steckte die Kerze auf den Stachel, legte sich auf die Bahre, faltete die Hände, seufzte tief auf und starb. –

Der Graf aber saß in seiner finstern Stube. Er hatte keinen Zweifel mehr an der Reinheit seines Kindes; denn wer seine Unschuld noch mit dem Dolche im Herzen beteuert, ist schuldlos.

Dann raffte er den Dolch von den Dielen, hängte seinen Mantel um, drückte den Hut ins Gesicht, ging in den Schloßhof und pfiff seinen Raben.

Die hockten verborgen auf ihrem Aste, äugten feindselig zwischen den Blättern herab und folgten ihm nicht.

99 So ging der Graf allein den Berg hinab, durch den Wiesengrund, über die Brücke, den Berg hinan zum Kalten Baum.

Am andern Morgen aber, ehe der Tag graute, kam ein Fuhrmann mit einem achtspännigen Wagen von Böhmen her die Straße gefahren. Der fand den Grafen mit gebrochenen Augen am Wegrand.


Vielhundert Male hat der Kalte Baum seitdem seine Blätter abgeworfen, vielhundert Male sich in ein neues Kleid gehüllt, hat es abgeworfen und wieder auf den Frühling gewartet. Die Zeit hat eine Höhle in seinen Leib gefressen und manch ein Liebespaar hat auf der kleinen Bank in dieser Höhle gerastet und gekost, umschlossen vom uralten Stamme.

Am Wegrande aber steht noch heute ein Mordkreuz aus hartem Stein, moosbewachsen, halb eingesunken. Und das Kreuz berichtet vom Grafen und seinem Kinde, und der Kalte Baum raunt seine Lieder dazu.«

*

Des andern Vormittags zog Jonas Eisenhut, der Reiter, heimwärts auf der Wernberger Straße gegen Nabburg hinunter. Dort wollte er über Nacht bleiben. Am zweiten Abende gedachte er zu gleicher Zeit mit dem Major und seiner Tochter in seine Vaterstadt zu kommen.

Er ritt in Träume versunken dahin. Alle Schönheit der vergangenen Wochen umflutete ihn weich und lind. Aber am liebsten rasteten seine Gedanken unter dem Kalten Baum. War's nicht wie ein Märchen, wenn er sich dieses Erlebnis zurückrief? Und wie die verkörperte Sage lehnte Liselore am Mordkreuz, und ihr Antlitz leuchtete in der Dämmerung des Abends.

Auch über ihm flüsterten die Bäume: Oh, wie ist sie so schön! Und die Lerchen im weiten, sonnenhellen Naabtale 100 jubelten nichts anderes als: Oh, wie ist sie so schön! Und er hätte laut aufjauchzen mögen: So wunder – wunderschön!

An der Straße stand ein Kapellchen. Er hielt an. Hinter dem Gitter saß eine plump geschnitzte Pietà mit dem Leichnam des Heilands über den Knien. Ein blondes Kind, ein Mädchen, stand barfüßig auf den steinernen Stufen und steckte einen Feldblumenstrauß an das Gitter; es war so versunken in sein frommes Geschäft, daß es sich gar nicht wandte nach dem klappernden Hufschlag.

Jonas sah ihm zu in tiefen Gedanken. Seine Stirne hatte sich zusammengezogen, und zweifelnd sagte er halblaut: ›Oh – und ist sie auch fromm?‹

Da wandte sich das Kind und fragte: »Willst was?«

»Es hat nicht dir gegolten«, sagte er hastig. »Es hat niemand gegolten. Ich weiß es ja nicht.«

Er zog weiter.

Aber gar bald ward seine Stirne hell wie zuvor. Denn über ihm flüsterte wieder ein Baum und wieder und wieder ein Baum: Oh, wie ist sie so schön!

Seine Gedanken woben fort und fort liebliche Bilder, und er schmückte mit ihnen sein reiches, ödes Haus.

An dem steinernen Kreuz unter der Linde lehnte sie und erzählte ihr Märchen. Das war das schönste von all diesen Bildern. 101

 


 


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