August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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11. Eine Dienstfahrt.

Auf der breiten Straße, die aus dem Vilstale südwestlich die langgestreckte Höhe hinanführt, rollte an einem klaren Augustmorgen ein behäbiger Landauerwagen. Er rollte aber nur dann in etwas beschleunigter Fahrt, wenn der stetig ansteigende Weg auf kurze Strecken eine Falte durchlief. Sonst kroch er mit sorgloser Langsamkeit seinem fernen Ziele entgegen.

Über dem offenen Wagen schwebte das rote Dächlein eines Sonnenschirmes; gegenüber saß der Archivar.

Es hatte nicht lange zuvor geregnet; die Luft war staubfrei und mit Waldesduft gesättigt.

»Wissen Sie, Fräulein Titus, daß ich eine diebische Freude habe? Endlich ist es mir einmal gelungen, Sie aus Ihrem verwunschenen Schlößchen zu einem Ausflug herauszubekommen. Nur schade, daß Ihr Herr Vater nicht auch mittun kann.«

»Es ist dem Vater entschieden heilsam, wenn er seinen verstauchten Fuß etwas mehr schont, als er die letzte Zeit für gut befunden hat. Sie sind übrigens sehr gütig, Herr Archivar, daß Sie trotzdem mit mir vorlieb genommen haben.«

»Vorlieb genommen haben! Wie können Sie nur so reden?«

»Wo ich doch so – wie soll ich mich ausdrücken? – so unhistorisch veranlagt und gerichtet bin?«

»Ganz ohne Geschichte wird's freilich nicht abgehen, gnädiges Fräulein, wenn man mit einem Archivar fährt, der eine Dienstreise unternimmt.«

»Ich bin auf sehr viel Geschichte gefaßt!« rief sie lachend.

»Ohne Sorge! Viel Landschaft, eindrucksvolle Bauwerke und nur da und dort ein wenig Geschichte. – Können Sie sich mit dem Programm befreunden?«

»Vollkommen!«

191 »Zunächst muß ich also eine Gemeinderegistratur besichtigen – jedenfalls eine wenig erfreuliche Aufgabe; denn die Bauern halten in der Regel ihre Ställe besser in Ordnung als ihre alten, oft so wichtigen Papiere und Pergamente. Ich möchte womöglich die ganze Registratur in unser Archiv herüberbekommen. Will sehen, was ich mit List und Überredung zuwege bringe.«

»Mit List?« rief sie und sah ihm lachend ins biedere Angesicht. »Mit List gar nichts! Aber durch Überredung – unter Umständen sehr viel.«

»Danke für die gütige Zensur.« Er verneigte sich. »Aber vielleicht kennen Sie mich doch nicht so ganz.«

»Oh, wenn Sie doch mit Ihrer Überredungskunst auch meinen Vater dazu vermöchten, daß er nicht so restlos in seiner Familienforschung untergeht!« rief sie plötzlich klagend.

»Sie armes Fräulein! Ist es denn gar so arg?«

»Ihnen gegenüber darf ich ja offen reden, Herr Archivar. Sie kennen meinen Vater und auch mich zur Genüge. Sie wissen, daß ich in herzlicher Liebe – wen habe ich denn sonst?« Sie verzog schmerzlich das Antlitz. »Aber es ist seit geraumer Zeit, als ob ihn ein Dämon beherrsche. Früher hatten wir so hübsche Abende. Wir lasen viel zusammen – schöne Literatur, Lebensbeschreibungen, Reiseberichte, Kunstgeschichtliches. Seit unserer Übersiedelung nach Moos hat sich das von Grund aus geändert. Tagsüber arbeitet Vater bei Ihnen im Archiv, abends ist er in seine alten oberpfälzischen Scharteken vergraben. Aus weiter Ferne muß man ihn herbeirufen, oft ist es geradezu unmöglich, ihn seiner Gedankenwelt zu entreißen. Können Sie sich jetzt vorstellen, wie öde mein Leben verrinnt?«

»Ich bin wahrhaftig erschrocken, Fräulein Titus. Aber wir haben doch schon so manchen schönen Abend in Ihrem Hause verlebt, Eisenhut und ich. Da war von allem Möglichen die Rede – von Familiengeschichte wohl kaum.«

192 »Ach, das waren auch die Lichtblicke in meinem Dasein!« Sie versuchte zu lächeln.

Der alte Herr wiegte nachdenklich den Kopf. »Jede wissenschaftliche Forschung birgt eine gewisse Gefahr, und Familienforschung hat schon so manchen vollkommen verstrickt. Aber bei Ihrem Herrn Vater spielt doch das, was andere so oft umtreibt, die Titelsucht, keine Rolle. Er hat mir selbst wiederholt gesagt, daß er nichts weniger als etwa die Erneuerung des verlorenen Adels anstrebe.«

»Nicht im Traume!« rief sie fast heftig. »Auf wen sollte er denn einen – zurzeit überhaupt noch ganz nebelhaften – Adelstitel vererben? Söhne sind ja nicht vorhanden. Etwa auf mich? Oh, ich sage Ihnen, zeitlebens habe ich genug an allem, was mit Adelstiteln und Adelshochmut zusammenhängt. Es ist mir zum Lachen.«

»Also stelle ich meine Diagnose auf Genealogitis«, sagte der Archivar. »Eine Krankheit,« – er lächelte – »die meines Erachtens nur dann geheilt werden könnte, wenn es Ihrem Herrn Vater eines Tages gelänge, den Georg Titus tatsächlich in einem Akte, einer Urkunde aufzustöbern. Dann würde die Temperatur von selbst auf den Normalstand sinken. Denn aufgeben wird ja Ihr Herr Vater seine Arbeit nicht, soweit glaube ich ihn zu kennen.«

Sie nickte: »Pertinax propositi – das ist so Titus-Art. Aber welchen Wert hat denn überhaupt solche Familienforschung?«

Verwundert sah er sie an. Die fremden Wörter waren ihr so leicht von den Lippen geflossen, und sie hatte offenbar nicht beachtet, daß sie lateinisch sprach.

»Welchen Wert?« sagte er. »Ja, liebes Fräulein, damit kommen wir auf eine ganz andere Frage. Werfen Sie doch nicht die Nuß mit der Schale zum Fenster hinaus. Ich wünschte, daß sich sehr viele Familien mit ihrer 193 Vergangenheit beschäftigen möchten! Natürlich im rechten Sinne! Bei Pferden, Rindern, Hunden, Schafen sprechen wir von Rasse als von etwas ganz Selbstverständlichem, und kein Züchter lacht über die weitverzweigte Ahnentafel eines Rennpferdes; denn er weiß sehr wohl, daß bestimmte Eigenschaften nichts anderes sind als die Frucht der Züchtung durch Generationen. Auch wir ahnen gar wohl, daß kriegerischer Geist, Herrschkunst, Handelssinn, Begabung für gelehrte Berufe, daß Handfertigkeiten in der Regel durch Vererbung weitergegeben werden, – und doch ist es den meisten Menschen völlig gleichgültig, wer ihre Urgroßeltern gewesen sind. Wieviel mehr aber als äußere Begabung, Fertigkeit und Geschicklichkeit erbt sich die seelische Art fort von Geschlecht zu Geschlecht, die Art sowohl wie die Unart! Und in einer Zeit des Niederganges, wie es die unsrige ist, in einer Zeit des schrankenlosen Einzeldaseins, in einer Zeit, wo die Menschen triebhaft und gedankenlos zusammenheiraten, wäre es doch sehr wünschenswert, daß man sich wieder etwas mehr auf die Familie, auf die Herkunft, auf die Segnungen und auf die furchtbaren Gefahren der Vererbung besänne, mit einem Worte, das Familienbewußtsein pflegte, wie man es in praktischer Zuchtwahl zu Zeiten unserer Vorväter und Urväter beim Adel, im Bürger- und im Bauernstande zu tun gewohnt war. Unter diesem Gesichtspunkte hat ehrliche Familienforschung ihre gute Berechtigung. Denn mit der Familie steht und fällt unser Volk.«

»Mag sein«, sagte sie schwermütig. »Aber wollen Sie nicht zu gering von mir denken. Ich fühle mich durchaus nicht im engen Zusammenhange mit diesem Ganzen, dem Volk.«

»Sie haben sich in Einsamkeit vergraben, Fräulein Titus. Meine Schwester und ich sagen oft, wie Sie das nur auf die Dauer zu ertragen vermögen. Es gibt doch so manche Familie, die sich's zur Freude und Ehre rechnen würde –«

194 Sie hatte den Kopf zurückgeworfen: »Ich brauche niemand. Nur meinen Vater möchte ich nicht ganz und gar verlieren.«

»Ich werde ihm mit Aufgebot aller Vernunftgründe seine Hoffnungen auszureden versuchen und bestimme ihn vielleicht doch mit der Zeit, auf ein weniger persönliches Gebiet geschichtlicher Forschung überzugreifen. Aber Sie, liebes Fräulein, wenn Sie sagen, ich brauche niemand, so ist das nicht richtig gedacht, nein, ganz und gar nicht.«

»Ich weiß, was Sie meinen, – ho anthropos zoon politikon, ich weiß.«

Wieder sah er sie verwundert an. Er hatte noch niemals lateinische oder griechische Zitate aus ihrem Munde gehört. »Gewiß – zoon politikon, ein zur Gemeinschaft geborenes Wesen, das ist der Mensch. Und niemand wird ungestraft zum Einsiedlerkrebs.«

»Oh, ich habe ja im vergangenen Winter und Frühling immer wieder versucht, den Leuten im Dörfchen näher zu kommen, –«

»Gut, gut!«

»– bin als gütige Fee über die wackelige Holzbrücke des Schlößchens gewandelt, mit Fruchtsaft und Verbandstoffen beladen in die Hütten der Armut getreten, habe Kranke und Alte besucht –«

»Beinahe wie Jonas Eisenhut!«

»Eisenhut?«

»Ach, das wissen Sie nicht? Ja, unser lieber Freund Eisenhut ist ein gar vielseitiger Herr; man lernt ihn so leicht nicht aus. Immer gegen Abend begibt er sich auf heimliche Gänge – aber dabei liebt er es, seine Fußspuren hinter sich zu verwischen wie der Fuchs seine Fährte. Und dann geht's treppauf, treppab, und wo er ein Krankes weiß, da taucht er auf. Vor allem natürlich bei armen Leuten. Aber 195 ich habe auch schon manchen Vornehmen rühmen hören, wie gütig ihm dieser treue Mensch eine düstere Stunde verkürzt und schwere Gedanken verscheucht habe. Und Sie wandeln also auf ähnlichen Pfaden?«

»Dazu gehörte wohl eine besondere Begabung«, sagte sie mit Haltung. »Ich habe bisher wenig Glück gehabt. Die Leute verstehen mich nicht, lutherisch bin ich auch, da sind sie von vornherein mißtrauisch. – Fremdlinge in einem fremden Lande! – Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das nun alles sage; ich habe noch mit niemand darüber gesprochen. Und denken Sie nur, ich bitte dringend, denken Sie nur nicht, daß ich meinem lieben Vater den leisesten Vorwurf mache. Unsere Übersiedelung ist mit meinem vollen Einverständnis geschehen.«

»Sie sollten eben doch Anschluß in der Stadt suchen.«

»Wir haben die üblichen Besuche gewechselt, das genügt. Ich sage ja, wir fühlen uns überall fremd. In Offizierskreisen werden wir immer wieder an das erinnert, was mein Vater zu Unrecht erlitten hat; und die Beamtenkreise – ich wiederhole, wir passen nicht hinein – Fremdlinge in einem fremden Lande.«

»Sie erlauben, daß ich ganz offen rede, wie ein – ich finde keinen andern Vergleich – wie ein Arzt?«

»Nur immer zu!«

»Liegt hier nicht zu tiefst auf dem Grunde ein gewisser Hochmut verborgen?«

»Der Hochmut eines Schnecken, der seine Fühlhörner schon oft sehnsüchtig ausgestreckt und sie ebensooft aus Angst vor einer rauhen Berührung schleunig wieder eingezogen hat,« rief sie mit zuckenden Lippen.

Da sagte er langsam: »Fräulein Titus, Sie tragen in sich eine schwere Wunde; es ist etwas in Ihnen zerrissen.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen: »Oh, ich bin undankbar. Ich habe ja auch unsere gute, alte Magd. Es ist 196 gar nicht zu sagen, was ich ihr schulde. Und Sie wissen doch, daß ich mit ihrer Hilfe einen kleinen Garten bebaue, der mir viel Freude bereitet –?«

»Diese Franzi muß nach allem, was ich von ihr gehört und gesehen habe, eine außerordentliche Person sein.«

»Eine ganz außerordentliche Person, Herr Archivar. Übrigens, warum rauchen Sie denn Ihr Pfeifchen nicht?«

Sie wollte offenbar dem Gespräch eine andere Wendung geben.

»Darf ich?« Er streckte prüfend den Finger in die Luft. »Ostwind! Ich kann es wagen, ohne Sie zu belästigen.«

»Belästigen – mich?« Sie lachte schon wieder. »Ich bin doch längst schon – wie nennt man das hierzulande – geräuchert?«

»Geselcht.«

»Jawohl, geselcht, sagt Franzi. Denn mein Vater qualmt den ganzen Tag wie ein Fabrikschlot.«

*

Der Wagen rollte durch Nadelwälder und zwischen sattgrünen Wiesen über einsame Talgründe. Der rote Sonnenschirm war zusammengeklappt, aus dem Holzpfeifchen zog seitwärts in lustigen Streifen der Rauch.

Lange Zeit war nichts mehr zu hören als das Mahlen der Räder, das Schnauben und der taktmäßige Hufschlag der Pferde.

Dann sprachen die beiden im Wagen von andern Dingen. –

Als sie dem ersten Ziele nahe kamen, sagte der Archivar: »Nun machen Sie sich gefaßt, wir werden in einigen Minuten in einer von unserer gewohnten Umgebung verschiedenen Welt sein. Denn hier greift der Jura herein und gibt der Landschaft ein völlig verändertes Gepräge.«

Und schon kamen sie an das gewaltige Schloß, an dem vorbei sich die Straße steil hinunter ins enge Tal senkt. Und 197 Liselore sah mit verwunderten Augen tief unten an dem glitzernden Bergflüßchen zwischen graue Felsen eingeklebt den Markt und rief entzückt: »In der Tat eine andere Welt!«


Vor grauen Zeiten eine Burgendreiheit landbeherrschender Grafen; dann von ebendiesem Geschlechte demutvoll dem Allerhöchsten als Opfer dargebracht und in ein Kloster verwandelt; nach vielen Jahrhunderten wieder zum Opfer gefallen, diesmal dem Zeitgeiste; seit Jahrzehnten der Sitz eines abgelegenen Amtsgerichtes und als Behausung des Rentamtes das Pilgerziel steuerzahlender Bauern – das war das Schloß.

Die Sehenswürdigkeiten in der Klosterkirche waren bald beschaut: etliche uralte Grabdenkmäler; das in Stein geritzte Wappen des Kriegshelden Schweppermann, der bekanntlich nach der Schlacht von Mühldorf zwei ganze Eier gegessen hat; endlich in einem Trühlein die erbärmlichen Knochenreste eines Kindes, für viele Besucher deshalb von Belang, weil es eines Kaisers Kind gewesen war.

Nach kurzem Aufenthalt rollte der Wagen zu Tal, durch den Markt, das Flüßlein entlang. Nach längerer Fahrt erreichten sie das Ziel.

»Wenn Sie nun mitkommen wollen, Fräulein Titus, sind Sie freundlichst eingeladen. Ich werde die Gemeinderegistratur besichtigen. Nur bitte ich Sie, Ihre Mißachtung gegen alles, was Pergament und Papier heißt, nicht allzu offen zur Schau zu tragen.«

»Wie können Sie denken!« lachte sie. »Ich werde als die verkörperte Ehrerbietung neben Ihnen stehen.«

»Gut also. Hier sind wir. Jetzt bin ich nur noch Beamter. Verstanden?«

Der Wagen hielt vor dem Rathause.

Auf der Bank neben der Türe, unter dem schwarzen 198 Brett mit den vielen Bekanntmachungen, saß ein alter Mann mit einer Dienstmütze auf dem Kopf.

»Sind Sie der Gemeindediener?«

»Ja schon«, sagte der Mann und rührte sich nicht.

»Kann ich den Herrn Bürgermeister sprechen?«

»Der ist jetzt nit zu haben.«

»Ich muß ihn aber sprechen.«

»Der Bürgermeister sticht doch grad a Sau.«

»Einerlei. Holen Sie den Herrn Bürgermeister!«

»Daß er mich 'nausschmeißt?«

»Sagen Sie ihm, es ist jemand vom Bezirksamt da.«

Bezirksamt. Das wirkte. Schwerfällig erhob sich der Mann, rückte die Mütze zurecht und trollte schräg über den Platz.

»Stimmt zwar nicht ganz«, meinte der Archivar und half Liselore aus dem Wagen. »Aber was nützt es, wenn ich Archiv sage? Das einzige, was da heraußen zieht, ist das Bezirksamt.«

Und wirklich kam der Gemeindediener mit einem großen, starken Mann aufs Rathaus zu.

Der Archivar ging ihnen entgegen. »Herr Bürgermeister?«

»Der wär' ich.«

»Tut mir leid, daß ich Sie stören muß. Hier ein Ausweis vom Bezirksamt. Ich bin der Kreisarchivar und wünsche Ihre Gemeinderegistratur zu sehen.«

Der Bürgermeister wischte seine Hände an der blutigen Schürze ab, kramte in seiner Hosentasche, brachte ein Brillenfutteral zum Vorschein, setzte die Brille auf die Nasenspitze, ergriff das amtliche Schreiben behutsam an zwei Zipfeln und las die Vollmacht.

»Von mir aus!« sagte er nach einer Weile, gab das Papier zurück und betrachtete den Archivar mißtrauisch über die Brillengläser. »Hol den Schlüssel zum Loch, Sepp!« befahl er dem Gemeindediener. »Wir haben nämlich das alte Gewärgel ins Loch einig'schafft.«

199 »Soo?!« sagte der Archivar. –

Der Gemeindediener zeigte sich unter der Türe und klapperte mit den Schlüsseln, und der Zug bewegte sich durch einen langen, düstern Gang, dessen Steinbelag von Feuchtigkeit glänzte. Am Ende des Ganges war eine eiserne Türe. Kreischend drehte sich der Schlüssel im Schloß.

»Da wird wohl kein Feuer nit einikommen«, sagte der Bürgermeister. »Alles nach Vorschrift!«

»Wenn's nur auch wassersicher ist da herinnen«, entgegnete der Archivar und trat über die Schwelle.

»Ach beileib . . ., seit fünf Jahr haben wir da herin kein groß' Wasser mehr g'habt.«

»Also ist diese Gefahr doch nicht ausgeschlossen?« rief der Archivar.

»No, ist dennoch vor fünf Jahr der Handwerksbursch in dem Loch da ersoffen!« sagte der Gemeindediener.

»Red' nit so albern daher und mach', daß du weiterkommst!« schnauzte ihn der Dorfgewaltige an.

Murrend entfernte sich der Mann mit der Mütze.

»Das Gewärgel, das alte!« sagte der Bürgermeister. »Wär' nit mehr wert, als daß man's verbrennet'! G'scheiter wär's. Kann's eh niemand lesen.« Und mißtrauisch beobachtete er den Archivar, der aus einem wackeligen Schrank eine Schublade nach der andern herauszog.

»Herr Bürgermeister – Sie haben ja ein ganzes Archiv!«

»Was haben wir?« sagte der Bauer.

»Ein Archiv, eine große Sammlung von Urkunden, Akten, Bürgerbüchern, drei-, vierhundert Jahre alt – und alles wie Kraut und Rüben durcheinandergeworfen. Einfach entsetzlich.«

»Das Gewärgel?« Der Bürgermeister zerrte aus einer Schublade eine große Urkunde, entfaltete sie und glotzte auf die Schrift. »Das kann man ja nit einmal mit der Brillen lesen!«

200 Liselore mußte lachen.

»Gelt, da lacht das Fräulein Tochter!«

»Sie irren sich, mein Herr, ich glaube im Gegenteil, Sie verwahren hier Schätze im archivalischen Sinn und wissen es selbst nicht,« sagte sie ganz ernsthaft.

»Schätze?« murrte der Bürgermeister. »So lesen Sie's, wenn S' können!« Und damit reichte er ihr das Pergament.

»Das ist eine lateinische Urkunde«, belehrte ihn Liselore, während der Archivar belustigt zur Seite stand. »Schön geschrieben obendrein. In nomine Patris et Filii et Spiritus sancti. – Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen.«

Der Bürgermeister blickte verwundert über seine Brille in das Pergament, bekreuzigte sich und sagte etwas unsicher: »Grad als wie in der Kirch'.«

»Notum sit omnibus tam praesentibus quam futuris – bekannt werde gemacht allen Gegenwärtigen und Zukünftigen,« fuhr Liselore fort. »Nein, Herr Bürgermeister, so eine heilige Schrift darf man freilich nicht verbrennen –!«

»Und auch nicht ersäufen!« nahm nun der Archivar das Wort. »Ihre Registratur ist ganz ungeeignet aufbewahrt. Sehen Sie hier« – er zog die untersten Schubladen heraus –»da wächst ja der Schimmel. Und noch etwas fällt mir auf: die vielen Urkunden und kein einziges Siegel. Sehen Sie, hier, hier, hier – alles abgeschnitten!«

»Das schon«, sagte der Bürgermeister etwas kleinlaut. »Die sind aber schon lang nimmer da. Als Buben sind wir oft in die Kammer g'schlichen – selbmal war's im obern Stock droben – und haben uns die Holzschachterln abg'schnitten.«

»Entsetzlich!« rief der Archivar.

»Von solch heiligen Schriften!« bekräftigte Liselore und schlug die Hände zusammen.

201 »Und was haben Sie denn mit den Holzschachterln gemacht?«

»Was werden wir 'tan haben? Gespielt halt und nachher wegg'schmissen,« sagte der Bauer und blickte mißtrauisch über seine Brillengläser.

»Herr Bürgermeister,« begann nun der Archivar, »ich kann Ihnen nur dringend raten, lassen Sie das ganze Gewärgel, wie Sie es nennen, in Kisten verpacken, auf einen Wagen laden und zu mir ins Archiv fahren.«

»Zu Ihnen – was tun denn Sie damit?«

»Ordnen und gut verwahren, damit es nicht ganz und gar zugrunde geht.«

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf: »Hergeben tun wir nix.«

»Es bleibt Ihnen ja das Eigentumsrecht vorbehalten. Sie können das Ganze jederzeit zurückverlangen. Brauchen Sie aber etwas, dann müssen wir es Ihnen hervorsuchen, Ihnen vorlesen, was Sie nicht lesen können –«

»Und was tät's nachher etwa kosten?«

»Das kostet nichts, gar nichts, Herr Bürgermeister.«

»Nix? Das wär' nit zuviel. Was tät's aber nachher Ihnen verinteressieren? Hat's etwa doch einen Wert?«

»Freilich hat's einen Wert!« sagte der Archivar. »Es hat einen Altertumswert, und es hat einen Rechtswert.« Er wandte sich zu Liselore: »Es ist ja natürlich schon oft vorgekommen, daß Gemeinden mit Hilfe einer einzigen Urkunde die saftigsten Prozesse gewonnen haben, – Prozesse, die sich jahrelang hingezogen hatten.«

»Das kann ich mir denken!« rief diese. »Nein, Herr Bürgermeister, da würde ich mich nicht lange besinnen. Ihre Gemeinde könnte doch auch einmal einen Prozeß führen müssen?«

»Das möcht' schon sein«, sagte der Bürgermeister und 202 begann in einer Schublade zu kramen. »Das Waldrecht ist eh schon lang strittig zwischen den Großbauern und Häuslerleuten.« Er zog eine Urkunde heraus. »Das Gewärgel, das alte! Wer weiß, was man g'schrieben finden könnt' da drinn'!«

»Na also, schlagen Sie ein!« rief der Archivar. »Sie deponieren, das heißt hinterlegen alles bei uns.«

Der Bürgermeister schob die Urkunde wieder in die Lade, steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte störrisch: »Wenn das so einen Wert hat, geben wir's erst recht nit her. Und wenn's nit anders geht, muß halt der Advokat 'raus, der wird's nachher schon ausdüfteln.« Damit ging er zur Türe. »Sind wir jetzt fertig?«

»Jawohl, wir sind fertig!« rief der Archivar zornig. Und während der Bürgermeister die Türe umständlich verschloß, sagte er halb zu diesem, halb zu Liselore gewendet: »Dagegen kämpfen selbst die Götter vergebens. Aber dafür stehe ich Ihnen gut, Herr Bürgermeister, ehe vierzehn Tage ins Land kommen, ist die Registratur nicht nur feuersicher, sondern auch trocken aufbewahrt. Das wird Ihnen vom Bezirksamt besorgt werden.«

»Mir ist's recht, da tu i nit nach,« brummte der Dorfhäuptling. »Aber her'geben wird nix.«


Der Wagen fuhr ab, und der Bürgermeister verstaute seine Amtsbrille wieder in der Hosentasche, brummte Unverständliches vor sich hin und kehrte zu dem unterbrochenen Schlachtfest zurück. –

»Sind Sie zufrieden mit mir?« fragte Liselore und lächelte schalkhaft unter dem roten Sonnenschirm hervor.

»Ich bin aus der Verwunderung gar nicht herausgekommen«, sagte der alte Herr. »Sie sind ja eine vollendete –«

»Schauspielerin?« ergänzte sie lachend. »Gewiß, ich wollte 203 anfangs nur Ihnen zu Liebe das größte Interesse heucheln. Aber ich gestehe, daß ich sehr bald aus voller Überzeugung die Partei des Staates ergriff.«

»Bravo, Fräulein Titus! Nur hat es leider nicht das geringste genützt.«

»Aber es ist doch unerhört, wenn der Staat in seinem eigenen Machtbereich zu schwach ist, solchem Unfug zu steuern!«

»Diese Schwäche der Staatsgewalt ist eine Krankheit unsres humanen Zeitalters. Überall Nachgiebigkeit, überall Zugeständnisse, und die traurige Angst vor Herrn Omnes, dem Volk. Freilich ist's ein Greuel, aber die Gemeinden haben den Buchstaben des Rechtes auf ihrer Seite, der Staat hat wohl die Befugnis der Aufsicht, aber er darf unter keinen Umständen die Hand auf das Gemeindeeigentum legen, und wenn es zehnmal zum Besten der Gemeinde wäre. Fiat iustitia, pereat mundus – bleibt nur ja das Recht besteh'n, mag die Welt zugrunde geh'n. – Ja so, Sie können sich's doch selbst übersetzen! Wie gesagt, ich bin vorhin aus der Verwunderung gar nicht herausgekommen.«

Sie errötete flüchtig. »Ach, wegen des bißchen Latein?«

»Und griechisch haben Sie heute auch schon ein bißchen gesprochen!«

»Wirklich? Es geschah gewiß aus Versehen. Ich habe mich nämlich vor vier Jahren in einem Anfall von Strebsamkeit mit einer Freundin an einem humanistischen Gymnasium dem Maturitätsexamen unterzogen. Weiter nichts. Und ich wünsche durchaus nicht als Blaustrumpf zu gelten.«

»In solchen Verdacht werden Sie niemals geraten, Fräulein Titus! Aber jetzt kann ich mir allerdings vieles erklären. – Nun zu unserm Programm. Wir sind auf dem Wege zu einem alten Schlosse, das vor kurzem nach mancherlei Schicksalen um ein paar tausend Mark in die Hände eines Bauern übergegangen ist. In diesem Schlosse sollen noch die Reste 204 eines alten Adelsarchives stecken, vielleicht Quellen von unschätzbarem Werte für die örtliche Geschichte, die natürlich unrettbar verloren sind, wenn Antiquare oder auch Goldschläger von der Sache Wind bekommen.«

»Antiquare – das verstehe ich. Aber Goldschläger?«

»Goldschläger – die Erbfeinde der Archivare!« rief er ingrimmig. »Diese Banausen bedürfen nämlich des Pergamentes als Unterlage für ihr Handwerk. Ganze Archive sind im Laufe der Jahrhunderte ihrer Gier zum Opfer gefallen. Ich selbst habe vor vielen Jahren einen Pack sehr alter Stücke, darunter zwei Kaiserurkunden aus dem zwölften Jahrhundert, den Klauen eines solchen Barbaren entrissen und dem staatlichen Archive einverleibt. – Wenn wir also vorhin den Wert des Gemeindearchives über die Maßen betont haben, so müssen wir jetzt unsere Politik von Grund aus ändern.«

»Ich verstehe!« sagte Liselore lachend. »Dieses Adelsarchiv wird nur nach dem Altpapierwerte geschätzt!«

»Sehr richtig«, nickte der Archivar und klopfte auf seine Brusttasche. »Vielleicht ist mir das Glück hold, und ich erwerbe den Schatz, auf den der Bauer, vom Standpunkte der Allgemeinheit gesehen, nicht das geringste Anrecht besitzt.«

»Es wird mir ein Genuß sein, Sie in der Eigenschaft eines Handelsmannes zu beobachten.«


Der Wagen rollte auf guter Straße talabwärts. Zu beiden Seiten trat der Kalkstein über der dürftigen Grasnarbe an den Tag. Seltsam geformte Felsen tauchten auf und glitten vorüber. Am wolkenlosen Himmel stand die Sonne.

Dann schob sich bei einer Biegung des Weges auf mäßiger Felsenhöhe eine langgestreckte Burg in die Landschaft herein, aus der Ferne gar mächtig und vornehm anzusehen. Es war, als hätten sich die Felsen von selbst zu Mauern und 205 Türmen emporgehoben, so ganz war Bauwerk und Natur, grau in grau, miteinander verwachsen.

»Und das soll einem Bauern gehören?« rief Liselore.

»Warten Sie nur noch ein paar Augenblicke!« mahnte der Archivar.

Der Wagen rollte näher, und am Fuße der Felsenhöhe zeigten sich die Strohdächer eines Dorfes.

»Jetzt,< rief Liselore lebhaft, »ja jetzt beginnt die Zauberburg sich langsam zu entschleiern. Zerbrochene Fensterscheiben, leere, mit Brettern verschlagene Fensterhöhlen, ein löcheriges Ziegeldach, von den Mauern flächenweise der Verputz abgefallen – es fehlen nur die Kletterrosen und der Epheu, dann wär's wie ein Märchen. Ei, wann mögen wohl den Weg da drüben zum letztenmal die Jäger hinangeritten, wann die letzten Geigenstriche aus dem Festsaal über den Strohdächern da drunten verklungen sein?«

»Gut – schreiben Sie das und dichten Sie eine Sage hinein!« rief der Archivar.

»Ich –?« Liselore lachte.

»Jawohl, Sie, Fräulein Liselore Titus, Sie meine ich.«

»Und warum denn?« fragte sie belustigt.

»Weil ich Ihre Sage von der armen Sieglinde gelesen habe«, antwortete er ganz ernsthaft.

»So hat Herr Eisenhut sie Ihnen gegeben!«

Er nickte.

»Ach, diese Sage, diese simple Geschichte! Ein überlieferter Stoff etwas ausgesponnen und weiter gar nichts.«

»Fräulein Titus, wer das kann, der kann auch noch mehr.«

»Machen Sie mich nicht eitel! Sie wissen nicht, ob ich gegen Lobsprüche dieser Art immun bin.« –

Der Wagen hielt an einem alten, düstern Wirtshaus.

»Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen, Frau Wirtin. Können wir noch 'was kriegen?«

206 »Da kommen S' aber schön spät. Ist ja schon zwei Uhr durch. Und was haben wir etwa viel da heraußen bei uns? Halt a G'selchts und a Kraut, weiter nix.«

»Gut! In einer halben Stunde sind wir zurück. Und nun auf zum verzauberten Schloß, Fräulein Titus! – Vielleicht wartet da droben doch etwas auf das erlösende Wort«, setzte er leise hinzu. –

»Puh!« rief Liselore, als sie, oben angelangt, in einen weiten Hof traten und die Front des düstern Baues zu Gesicht bekamen. »Der Zauber schwindet mehr und mehr – aber ohne unser erlösendes Wort. Ich fürchte, wir erleben hier gar nichts Märchenhaftes. Und was ich jetzt ganz dringend wünschte, das wäre ein Vorhang von Kletterrosen.«

»Ganz anderer Ansicht«, sagte der Archivar. »Sehen Sie denn diesen prachtvollen Stiegenturm mit den schrägen Fenstern über dem Portal nicht? Das ist sechzehntes Jahrhundert. Und hier diesen uralten Wappenstein, aus einem älteren Bau herübergenommen und über dem Portal eingemauert? Ein Dreieckschild mit Kübelhelm – vierzehntes Jahrhundert! Nein, Fräulein Titus, da verzichtet unsereiner auf Kletterrosen und andern verhüllenden Schmuck.«

»Aber auf diesem Komposthaufen mitten im Schloßhof dürften doch mit Ihrer gütigen Erlaubnis Kürbisse wachsen? Und wenn diese Fensterhöhlen nicht mit Brettern verschlagen wären, sondern ordentliche Fensterstöcke und Fensterflügel – meinetwegen Butzenscheiben – hätten, käme die Kunst auch nicht zu kurz,« rief Liselore lachend und schickte sich an, mit hochgerafftem Kleide, von Stein zu Stein hüpfend, eine braune Pfütze zu überschreiten.

»Wer weiß, was hinter diesen Fensterhöhlen auf uns wartet!« sagte der Archivar und skizzierte mit ein paar Strichen das Wappenbild des Dreieckschildes über dem verwitterten Renaissanceportal in sein Taschenbuch.

207 Eine Weibsperson kam aus der Tür und patschte verwundert in die Hände.

»Darf man hineingehen?« fragte der Archivar.

Das Weib stieß ein paar Töne aus, lachte grell auf und rannte zurück.

»Taubstumm und blöd«, urteilte der Archivar. »Aber wer lang fragt, geht lang irr, heißt's im Sprichwort. Immer voran, Fräulein Titus! Dem Mutigen gehört die Welt.«

Sie stiegen auf den ausgetretenen Steinstufen einer Wendeltreppe empor und kamen auf einen breiten, mit Ziegelsteinen gepflasterten Gang.

»Und hier ist auch schon der Bankettsaal!« rief Liselore und deutete auf die hohe Flügeltüre gegenüber der Treppe.

Und wieder sagte der Archivar: »Wer lang fragt, geht lang irr«, und öffnete die Türe.

Dicke Luft schlug ihnen entgegen, und sie standen in einem weiten Saal. Es war der Prunksaal des Schlosses aus alter Zeit – da konnte kein Zweifel bestehen. Aber in seine verfallene, üppige Pracht schien sich alles Erdenelend eingenistet zu haben.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Archivar zu einem steinalten Manne, der nahe der Türe auf einem zerfetzten Rokokostuhle saß und sein Pfeifchen rauchte.

»Gehen Sie nur 'rein!« brummte der und schob die Pfeife in den andern Mundwinkel. »Das ist das Armenhaus, Sie werden's eh wissen.«

»Das Armenhaus!« wiederholte Liselore, und ihre Blicke glitten zaghaft über die schwarzgeräucherte Zier der schweren Stuckdecke – jämmerliche Reste: pausbackige, posaunenblasende Engel, üppige Rosenketten, eine Fortuna mit überquellendem Füllhorn, Wappenbilder mit reichen Helmdecken, Waffen und Jagdgeräte – vergangene Pracht und Herrlichkeit. Und darunter die übelriechende Armutei der Gegenwart. Zwei von 208 den sechs Fenstern waren mit Brettern verschlagen, manche zerbrochene Scheibe der vier übrigen war durch geöltes Papier ersetzt. An den Wänden standen zwischen schmutzigen Bauerntruhen mit Lumpen gefüllte Bettstellen, da und dort war ein wackeliger Tisch hingeschoben. Dicht neben dem großen, auch heute geheizten Kachelofen trauerte ein mächtiger Renaissanceschrank mit reichgeschnitzten Flügeltüren unter einem grasgrünen Ölanstrich und war bedenklich zur Seite geneigt; denn der Backstein, der den abgebrochenen Fuß ersetzte, war niedriger als die noch unversehrten Füße. Hier hockte in einem Stuhl mit großen Ohren, aus dem das Roßhaar heraushing, eine zusammengesunkene Frau und strickte nach alter Weise mit zwei Nadeln in einen hölzernen Köcher hinein. Dort am Fenster saß eine jüngere Person auf einem Schemel und spann auf uralte Weise mit der Spindel. In einer Ecke stand eine Wiege; die wurde von einem halbwüchsigen Kinde geschaukelt. In einer andern Ecke lag ein Krankes und ächzte. Über die roten Sandsteinplatten des Fußbodens aber waren dicke Kreidestriche gezogen, die seine ganze Fläche in unregelmäßige Abschnitte teilten.

Der Archivar hatte sich vor den Alten gestellt und richtete allerlei Fragen an ihn. Eintönig antwortete die hohe Greisenstimme.

Liselore ging quer über den Saal und sah der Spinnerin bei ihrer Arbeit zu. Dann ging sie in die Ecke zu der Kranken, sprach leise mit ihr und legte etwas auf ihr schweres Federbett. Endlich trat sie neben den Archivar und fragte, was denn diese Kreidestriche bedeuteten?

Da reckte der Alte die knochige Rechte empor und spreizte die fünf Finger, streckte dazu den Daumen der Linken in die Luft und krächzte: »Sechs Parteien, und zwischen jeder ein Strich – alle miteinander fünfzehn Köpf', die Kinder dabei. Jetzt sind halt die meisten draußt auf dem Feld.«

209 Liselore wandte sich schaudernd ab. Da wurde die Türe aufgerissen, die Taubstumme tappte herein, stieß lallende Rufe aus, winkte heftig und tappte auf den Korridor zurück.

»Ich denke, das gilt uns,« sagte der Archivar und ging ihr nach.

Eine Bauernfrau kam den Gang herab und bot freundlichen Gruß.

»Gehört Ihnen das Schloß?«

»Schon, schon.«

»Wie lang?«

»Vorigs Monat haben wir's gesteigert.«

»Ah so – Sie haben eine Hypothek darauf gehabt?«

»Ja mei, fünfzehnhundert Mark halt.«

»Und wie teuer haben Sie's übernehmen müssen?«

»Um achtundzwanzighundert Mark haben wir's genommen.«

»Sind Grundstücke dabei?«

»Fünf Tagwerk Wiesen.«

»Dann haben Sie's nehmen können.«

Sie zuckte die Achseln.

»Jetzt entschuldigen Sie nur, daß wir so mir nichts, dir nichts hereingelaufen sind.«

»Das haben S' eh' dürfen. Ist ja immer noch das Armenhaus, wo man jedes haben muß.«

»Habt Ihr auch alte Möbel?«

»Steht schon noch 'was drin in den Stuben. Aber nit der Red' wert. Ist ja wie lang schon keine Herrschaft mehr da.«

»Habt Ihr auch altes Papier?«

»Altes Papier? O ja – grad gnug, eine ganze Kammer voll.«

»Erlauben Sie, daß wir's ansehen?« fragte der Archivar in gleichgültigem Tone.

»So viel S' wollen. Aber was haben S' denn da dran? Warten S' ein wengerl, ich bring' gleich den Schlüssel!«

210 Während sie den Korridor hinabging, flüsterte der Archivar erregt: »Jetzt gilt's – jetzt nur kein unvorsichtiges Wort, wenn ich bitten darf!«

»Ich begreife, wir sind auf dem Anstand,« sagte Liselore belustigt und setzte ganz leise hinzu: »das Wild darf keinen Wind bekommen.«

Die Bäuerin kehrte zurück. »So, jetzt gehn S' nur mit. Bei uns muß halt alleweil alles zug'sperrt sein. Weil s' nix liegen lassen, die Armenhäusler, was nit ang'nagelt ist. Aber sie sind mir doch schon 'neinkommen ins Papierkammerl. Sie, da können S' was sehen, da schaut's gut aus!«

Sie ging voran bis ans Ende des Ganges und schloß eine Türe auf.

Es war eine geräumige, gewölbte Kammer mit zwei eng vergitterten Fenstern. Hohe, starke Gestelle standen rings an den Wänden. In vielen Fächern dieser Gestelle lagen die Akten noch ganz ordentlich geschichtet, und vergilbte Aufschriften kündeten ihren Inhalt an. Aber die Mehrzahl der Fächer war geleert, und ihr Inhalt bedeckte den Boden mit einer fußhohen Papierschicht. Es war wie in einem Stall.

Der Archivar bückte sich nach einem Schmalfoliohefte und las in gleichgültigem Tone: »Schloßbaurechnung von Petri Cathedra 1596 bis Petri Cathedra 1597«. Er griff nach einem andern Stück: »Freiherrliche Ahnentafel auf vierundsechzig Ahnen 1711«. Er ging vorsichtig über die leise federnde Papierstreu an einen schweren, dunkeln Kasten, zog eine von den vielen Schubladen heraus und las wieder in ganz gleichgültigem Tone: »Kaufbrief über sechs Tagwerk Wiesen 1380. – Letztwillige Verfügung 1622«.

Er hatte genug gesehen.

»Das ist aber ein wüster Kehrichthaufen!« sagte Liselore zu der Bäuerin, neben der sie unter der Türe stand.

»Was meinen S'?«

211 »Haben Sie denn so große Freude an dem vielen Papier?«

»O mein', das können S' gleich packen und mitnehmen, wenn S' wollen. Da tu' i nit nach.«

Vorsichtig tappte der Archivar von seinem dunkeln Kasten über den Greuel der Verwüstung herüber.

»Da schaut's bös aus, Bäuerin. Am besten wär's, Sie verkauften das ganze Zeug.«

»Das haben wir auch schon gesagt miteinander, ich und mein Alter. Das Papier wird doch gut 'zahlt in der Stadt – nit?«

»Freilich wird's gut bezahlt«, sagte der Archivar wieder in gleichgültigem Tone.

»Wenn's uns nur jemand nehmen tät«, meinte die Bäuerin.

Der Archivar bückte sich und zog wieder ein Rechnungsheft heraus. »1482!« murmelte er. »Na Bäuerin, das ist gutes altes Papier von der haltbaren Sorte, aus dem man zum Beispiel auch wieder gutes neues Papier machen kann. Ich will Ihnen etwas sagen, ich kauf's Ihnen ab und gebe Ihnen für den Zentner fünf Mark. So viel bekommen Sie in der Stadt nicht.«

»Sie –?«

»Freilich. Wenn gerade Gelegenheit ist, kauf' ich so etwas ganz gern. Ich hab nämlich auch so ein Altpapiergeschäft.«

»Sie –?« Die Bäuerin sah ihn etwas mißtrauisch an.

»Ich will Ihnen sagen, der Herr hat ein ganz feines Altpapiergeschäft, ein Archivariat heißt man das,« erklärte Liselore.

»Ein Antikerat«, rief die Bäuerin erfreut. »Hören S', das kenn' ich, was das ist. Wie ich z' Regensburg 'dient hab', ist auf der drüberen Seiten von der Straß auch so ein Laden, so ein Antikerat, gewest. Zuerst hab' ich's ja nit recht lesen können, und was es bedeut', hab' ich erst recht nit g'wißt. O mei', wenn halt unsereiner von draußen in d' Stadt kommt, stellt man sich gar dumm an. Ja, so ist's schon, der Antikerat 212 in Regensburg hat solchene alte Bücher und altes Papier g'habt. Oft hab' ich mir 'denkt, wer nur das alte Gewärgel kaufen mag? Sind aber doch alleweil wieder Leut da 'nein 'gangen, die 'kauft haben. Hat freilich recht notig ausg'schaut, der Herr Antikerat.«

»Also, was meinen Sie, Bäuerin, ich kaufe Ihnen die ganze Wüstenei da herinnen ab – den Zentner um fünf Mark?«

»Wie viele Zentner könnten's 'leicht sein?« erkundigte sich die Frau.

Mit Kennerblick schätzte der Archivar die Masse ab und sagte nach kurzem Besinnen: »Fünfundzwanzig Zentner – macht hundertfünfundzwanzig Mark.«

»Hundertfünfundzwanzig Mark? Ich glaub' halt, Sie haben mich fürn Narren!«

»Aber Bäuerin, wie können Sie von dem ernsthaften Herrn so etwas denken!«

»Ist's 'leicht der Herr Vater?«

»Nein, aber ein guter Freund meines Vaters.«

»No, wenn's Ihnen recht ernst ist, wegen meiner können Sie's haben,« sagte die Bäuerin und blickte den Archivar immer noch ungläubig an. »Wenn's Ihnen nur nit zu teuer ist.«

»Was wird aber der Bauer dazu sagen?« fragte der alte Herr vorsichtig. »Wo ist er denn?«

»Im Holz ist er. Oh, dem ist's schon recht. Was ich will, das will der auch; aber ich will auch nix anders, als was er will.«

»So ist's recht, so lass' ich mir's gefallen, das ist der richtige Ehestand!« lobte der Archivar. »Da können wir also gleich fertig machen.« Er griff in die Brusttasche. »Ich bezahle Ihnen vorderhand fünfundzwanzig Zentner mit einhundertfünfundzwanzig Mark. Hier – fünfzig, fünfzig, zwanzig, fünf Mark. Einverstanden? Und wenn's dann mehr ist, bekommen Sie den Rest nachbezahlt.«

Sie wischte die Hände an der Schürze ab und nahm die Kassenscheine zögernd in Empfang. »Jetzt glaub' ich schon bald 213 selber, daß Sie's ernst meinen. Aber wie bringen Sie's denn 'nein in d' Stadt?«

»Morgen komme ich mit einem Wagen heraus, dann wird's abgewogen und fortgefahren.«

»So gach?« staunte sie und strich zärtlich über die Scheine. Dann erkundigte sie sich doch: »Sind S' 'leicht bloß z'wegen dem 'rauskommen?«

»Habe in der Nähe ein wichtiges Geschäft gehabt. Bei der Gelegenheit wollten wir uns auch das alte Schloß ansehen und, wie's halt dann so geht – das andere wissen Sie ja selbst. Jetzt erlauben Sie mir aber schon –!« Sie waren auf den Gang getreten. »Jetzt sperren Sie ab und stecken den Schlüssel ein. Aber doppelt genäht, hält besser – ich will's auch noch versichern. Es ist nur wegen der Armenhäusler da vorn.«

Damit zog er zwei Schraubenringe aus der Tasche, bohrte mit großer Gewandtheit den einen in die Türe, den andern in den Türstock, legte ein Vorhängschloß an und klappte es zu.

»Daß jetzt Sie das alles gleich so dabei haben!« rief die Bäuerin verwundert.

»Ja, so ein Antikerat!« lachte Liselore.


Im Geschwindschritt überquerte der Archivar den Hof mit den Pfützen. Liselore vermochte, von Stein zu Stein wandelnd, ihm nur mit Mühe zu folgen. Aber vor dem Hoftor angekommen, hinter der Mauer, wandte sich der alte Herr, lachte übers ganze Gesicht und sagte händereibend: »Für mich hätt' ich's wahrhaftig nicht zuwege gebracht – aber für den Staat – – ja Bauer, da war's etwas anderes. Ein ganzes Adelsarchiv um hundertfünfundzwanzig Mark! Einfach märchenhaft. Nach diesem Erfolg kann mir das Gemeindearchiv gestohlen werden.«

»Ich gratuliere!« sagte Liselore, während sie 214 nebeneinander zum Wirtshaus hinabgingen. »Ich hatte öfter Mühe, ernsthaft zu bleiben, Herr Antiquariat. Der Gipfel der Komik aber war erreicht, als Sie die Ringe und das Vorhängschloß aus der Tasche hervorzauberten.«

»Auf solchen Fahrten muß man mit dem Nötigsten versehen sein«, lachte der alte Herr. »Sehen Sie wohl?« Er griff in die Tasche und hielt ihr noch zwei Vorlegschlösser hin. »So eine Kammer könnte unter Umständen auch drei Türen haben. Ich war auf alles gerüstet.«

»Jetzt komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, Herr Antiquariat. Sie sind ja – entschuldigen Sie gütigst – ein ganz gerissener Geschäftsmann?«

»Bitte, Fräulein Titus, ich wiederhole, alles nur für den Staat. Und dem Bauern kann es ja schließlich ganz einerlei sein, ob ich oder ein anderer Papier- und Lumpensammler seine Kammer ausräumt!« –

Sie waren am Wagen angekommen. Da stieg er auf das Trittbrett, zog eine Weinflasche hervor und sagte mit pfiffigem Lächeln: »Nun wollen wir aber ein königliches Mahl in Geselchtem und Sauerkraut halten und eine Flasche Frankenwein auf unsern großen Erfolg trinken!«

*

Die Nacht war heraufgekommen, als sie wieder auf der breiten Straße der Stadt entgegenrollten.

»Sie haben doch einen beneidenswerten Beruf«, sagte Liselore nach langem Schweigen. »Wenn ich mir dagegen das unruhige, ehrgeizige Treiben im Offiziersstande vergegenwärtige!«

»Beneidenswert? Ich dächte, Sie sind so gar nicht historisch gerichtet, Fräulein Titus.«

»Das stimmt allerdings.«

»Dann können Sie mich aber unmöglich beneiden!«

»Doch, doch!« rief sie erregt. »Ich beneide Sie um Ihre 215 Ruhe. Und ich denke mir, daß Sie so ruhig, so abgeklärt sind, ist eben das Ergebnis Ihres Berufes, ist die Folge der leidenschaftslosen Beschäftigung mit der Vergangenheit.«

»Die bekanntlich ewig still steht«, ergänzte er freundlich. »Mag ja teilweise zutreffen. Zunächst bin ich freilich auch ein alter Mann, und das Alter sieht ruhiger und klarer als die Jugend. Dann aber erscheint einem Archivar vieles, was die Menschen in der Gegenwart umtreibt, was ihnen groß und unerhört neu dünkt, als geringfügig und als eine ewige Wiederholung. Und unsere vergilbten Prozeßakten, die verblaßte Schrift unserer politischen Korrespondenzen, unsere Kaufsurkunden, unsere Grundbücher mit all den wechselnden Besitzernamen, die zahllosen Stammtafeln längst verdorrter Geschlechter – was ist das anderes als eine einzige Predigt über den Text: Es ist alles eitel, ganz eitel. Gewiß, die Vergangenheit kann beruhigend, abklärend wirken – aber das trifft durchaus nicht immer zu. Denn es gibt doch auch recht viele unter uns, die von allen menschlichen Leidenschaften umgetrieben werden und sich – komisch genug – verzehren in Ehrgeiz. Und wäre denn Herzensruhe, rein äußerlich durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit erworben, etwas anderes als Resignation? Dann müßten doch die Menschen, die mit der Zeit so trocken wie Pergament geworden sind, die glücklichsten sein? Ich kenne solche und habe sie niemals beneidet. Nein, Fräulein Titus, nein! Der Beruf allein tut's nicht. Auch für uns gilt, wie für alle Sterblichen, das wundervolle Wort, das jener große Lehrer der christlichen Kirche über die wahre Ruhe gesagt hat – wissen Sie, was ich meine?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie, und es klang wie ein stilles Sichwehren.

»Unser Herz ist unruhig, bis es seine Ruhe findet in Gott,« sagte er einfach. –

216 Nach diesem saßen sie einander lange schweigend gegenüber. Liselore hatte sich in die Ecke gedrückt, und ihr bleiches Antlitz leuchtete in unbestimmten Umrissen aus der Dunkelheit heraus.

Der Wagen rollte in einen Nadelwald, ein kühler Lufthauch kam aus dem Grunde. Wie schwarze Mauern ragten die Bäume zur Rechten und Linken. Hoch über dem rollenden Wagen aber standen klar und ruhig die ewigen Sterne.

»Sie haben mir heute vormittag Unerfreuliches auf den Kopf zugesagt«, begann das junge Mädchen aufs neue.

»Und habe Sie verletzt?«

»Keineswegs. Sie haben ja ganz richtig gesehen. Ich bin zerrissen. So zerrissen, daß ich zweifle, ob ich jemals wieder geheilt werden kann. Ich hatte – aber Sie dürften mich vielleicht gar nicht verstehen, weil Ihnen –«

»– vermutlich solche Schmerzen immer ganz fremd geblieben sind!« ergänzte er lächelnd. »Woher können Sie das wissen, liebes Fräulein? Wäre es nicht vielmehr möglich, daß auch mich der Weg zur Ruhe durch ähnliche Leiden geführt hat? Wäre es nicht möglich, daß auch hinter mir ein Grab liegt, in das ich einst schöne Hoffnungen auf irdisches Glück versenken mußte? Glauben Sie, daß man mit einem heißen Herzen in der Brust so ganz ohne Kämpfe zum alten Junggesellen und zum Krankenpfleger werden kann? Es ist Ihnen ja bekannt, daß meine gute, arme Schwester seit einem Menschenalter gelähmt und ganz auf mich angewiesen ist –?«

»Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich bitte, vergeben Sie mir!«

»Da ist nichts zu vergeben,« sagte er freundlich; »denn es liegt in der menschlichen Natur, daß wir immer wieder zweierlei geringer einschätzen, als es in Wirklichkeit ist: des Nächsten Arbeit und des Nächsten Leid.«

»Sie haben gesagt: Unser Herz ist unruhig, bis es seine Ruhe findet in Gott. Was ist das? Ich verstehe es nicht.«

217 »Man kann es auch niemand erklären, Fräulein Titus, man muß es erleben.«

»Also wäre die Religion tatsächlich geeignet, ein zerrissenes Herz zu heilen, es in Ruhe zu wiegen.«

»In Ruhe zu wiegen? Der Ausdruck ist falsch. Die christliche Religion wiegt nicht in Ruhe.«

»Wenn man aber doch allem, was Religion heißt, so kalt gegenübersteht!«

»Danken Sie doch Gott dafür, daß Sie kalt sind,« sagte er mit Gelassenheit.

»Wie –?« Liselore beugte sich weit vor und suchte seine Züge im Lichte der Sterne zu erkennen. »Das sagen Sie mir?«

»Jawohl; denn es gibt noch ein anderes Wort, das nicht aus Menschenmunde stammt. Und das lautet: Oh, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist, will ich dich aus meinem Munde speien.«

»Es dürfte Ihnen kaum gelingen, mich zu bekehren,« sagte sie und zog sich wieder in ihre Ecke zurück.

»Wer sagt Ihnen, daß ich das will? Bekehren! Ei, das kann doch ich nicht, das kann ja niemand.«

»Sie glauben an ein Jenseits, an ein ewiges Leben?«

»Gewiß glaube ich das.«

»Sie hoffen nach den Leiden des irdischen Daseins auf ein unsägliches Glück?«

»Gewiß hoffe ich das.«

»Sehen Sie, da bin ich nun viel anspruchsloser als Sie. Mir genügt es vollkommen, wenn ich früher oder später aus den Wirrnissen des Daseins in das Nichts zurücksinke, aus dem wir alle, ohne Unterschied, gekommen sind.«

»Und woher wissen Sie, daß sich hinter dieser Welt der Erscheinungen das Nichts dehnt?«

»Die Wissenschaft hat keine andere Antwort auf diese Frage.«

218 »Die Wissenschaft! Im fünften Buche Mosis steht geschrieben: ›Verflucht sei, wer einen Blinden irre macht auf seinem Wege. Und alles Volk soll sagen Amen.‹ Die Wissenschaft hat überhaupt keine Antwort auf diese Frage. Aber sie maßt sich das Recht der Antwortgebung an. Die Wissenschaft forscht in die Tiefe und in die Weite, und über die Grenzen ihrer Erkenntnis hinaus sendet sie ihre Hypothesen, – die dann sehr oft unversehens zu Dogmen erstarren. Aber die Religion bescheidet sich und hebt ihr forschendes Auge sehnsuchtsvoll in die Höhe, dem Lichte entgegen, das kein Sterblicher jemals ertragen könnte, und über die Grenzen ihrer Erkenntnis hinauf schickt sie den Glauben.«

»Den Glauben – ja, den Glauben!« kam es zornig aus der Ecke hervor.

»Nehmen Sie, liebes Fräulein Titus, einen Augenblick, nur einen Augenblick an, es gäbe ein Jenseits – eine Tatsache, die für mich so feststeht wie die Tatsache, daß Sie dort sitzen, und wie die andere Tatsache, daß am Ende unseres Weges die Stadt liegt. Was dann? Was dann im Augenblick des Todes?«

Sie schwieg. Nach einer Weile aber sagte sie: »Wieviele Menschen gibt es denn heutzutage noch, die zu glauben vermögen?«

»Da haben Sie ganz recht. Die Kinder dieses Geschlechts sind zu klein geworden für die Religion. Sie sind von triebhafter Angst vor allem wahrhaft Großen besessen. Sie schicken sich an, den Erdball in ihren Dienst zu zwingen, und laufen Gefahr, sich einzugraben in seinen Moder. Und wer weiß, ob nicht über den Kindern dieses Geschlechtes unversehens die Flammenschrift aus der Wand brechen wird: ›Siehe, die Füße derer, die schon so manches Volk begraben haben, sind vor der Türe und werden auch dich hinaustragen‹! Ohne Religion besteht kein Volk auf die Dauer, und das erste, 219 was den sinkenden Völkern abhanden kommt, ist der Glaube. Und wiederum sage ich: Verflucht sei, wer einen Blinden irren macht! Auf der oberen Schicht, auf den geistigen Führern eines Volkes, lastet die Verantwortung mit voller Wucht. In den sogenannten Volkstrachten erkennt heute noch der Kundige die Festgewänder der Vornehmen verflossener Jahrhunderte. Von oben herab verbreitet sich die Sitte, die gute wie die schlechte, nach unten. Und von oben nach unten sickern die Ideen, und was vielleicht oben noch eine Schminke über den Zügen der Verwesung trug, das grinst unten in satanischer Wirklichkeit. Wenn sie droben sagen: Lasset uns leben und immer tiefer eindringen in die Erkenntnis des Lebens, genießen, was des Genusses wert ist, und Ehre gewinnen mit den Waffen des Geistes – denn morgen sind wir im All versunken, so schreien sie unten: Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. Und wie dürfte es die Diesseitsmenschen der oberen Schicht wundernehmen, wenn dann eine des Glaubens beraubte, hoffnungslose Masse da drunten auch alles nur immer Mögliche erraffen möchte von den Gütern eines handbreiten Lebens, hinter dem sie das Nichts wähnt? Und geht es mit diesem Erraffen nicht auf friedlichem Wege – dann wohlan, vorwärts mit dem Knüttel in der Faust gegen die scheinbar Glücklicheren, die auf weichen Stühlen sitzen und in feinen Schuhen durchs Leben gehen – – Tier gegen Tier!«

»Diese schauerliche Ungleichheit!« rief Liselore.

»Die wir nicht gemacht haben,« sagte der alte Herr, »die wir nicht ändern können und nur zu lindern berufen sind nach unsern Kräften. Ungleichheit war, ist und wird sein bis ans Ende der Tage. Aber schon hier unten findet fortwährend ein Ausgleich statt, ein Ausgleich so gerecht – wir müßten staunen, wäre unsern kurzsichtigen Augen immer die Möglichkeit der vollen Erkenntnis gegeben. Und zugleich treibt 220 alles dem endlichen, großen Ausgleich entgegen – allerdings keineswegs im Nichts, sondern, Fräulein Titus, in der Erfüllung des diesseitigen Lebens.«

»Ich sage ja, ich beneide Sie um Ihre abgeklärte Ruhe!« rief sie leidenschaftlich. »Aber woher schöpfen Sie denn Ihre Zuversicht?«

»Und Sie können noch fragen, liebes Fräulein?«

»Jawohl! Und ich frage Sie als Archivar, sind die Urkunden, auf die Sie sich berufen, auch echt?«

»Ich erfahre ihre Echtheit tagtäglich im Blick auf die Umwelt, auf die Menschheitsgeschichte und in den tiefsten Erlebnissen meines eigenen Herzens. Alle inneren Merkmale beweisen mir, daß diese Urkunden echt sind.«

»Auch ich habe schon in der Bibel zu lesen versucht und habe mich ermattet verirrt in der Wüste des Alten Testamentes.«

»In dieser Wüste, wo der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt ward? In dieser Wüste, wo zum ersten Male einem armen Menschenkinde die Erkenntnis von einem persönlichen Gott ausging, des Gottes, der sprach: ›Ich werde sein, der ich sein werde‹? In dieser Wüste, wo über der Nacht jüdischer Greuel die unwandelbaren Fixsterne der zehn Gebote funkeln? In dieser Wüste, wo über den Verwesungsgeruch der Zeitlichkeit hin das aus Quellen der Ewigkeit geschöpfte Wort des Propheten tönt: ›Ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr; Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet‹ –?«

»Und jetzt kann ich Ihnen auswendig sagen, wo Sie hinaus wollen!« rief sie erregt aus ihrer Ecke hervor. »Denn auch ich habe in der Schule gelernt, daß wir trotz allem nur wenig wüßten vom Wesen Gottes, hätte er sich uns nicht geoffenbart in Jesus, dem Gekreuzigten. Daher das Wort: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer 221 an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Wie aber, sagen Sie mir, ist's dann mit den Milliarden, die vor diesem waren, mit den Millionen, die neben diesem lebten, und mit den andern Milliarden, die nach diesem gelebt haben und leben und nichts wußten und nichts wissen konnten und können von ihm?«

»Ich bin der festen Überzeugung, daß von Anbeginn an viele Wege zur ewigen Heimat geführt haben, führen und führen werden. Mir aber will nicht geziemen noch frommen, zu grübeln über Verborgenes oder andere zu richten, die neben mir gehen. Ich für meine Person blicke nicht rechts, nicht links. Denn so fest ich auf dem Boden stehe, der mich gezeugt hat, so wenig ich international bin, so wenig bin ich interkonfessionell – ich hasse das Verschwommene und liebe die Klarheit der Überzeugung. Ich habe meinen Weg erkannt und finde zeitlebens genug zu tun, wenn ich auf diesen meinen Weg achte und auf den, der mir die Fackel voranträgt, Jesus Christus, den Herrn.«


Sie antwortete nichts mehr. Schweigend saßen sie einander gegenüber. Im Zotteltrab zogen die Pferde den Wagen durch die stillen Straßen der Stadt zum Bahnhof hinaus.

Liselore sprang aus dem Wagen, reichte dem Kutscher sein Trinkgeld hinaus und trat an den Schlag zurück. Ihr Antlitz war vom Lichte einer Laterne hell beleuchtet, als sie dem alten Manne die Hand zum Abschied gab.

»Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt Ihres Zuges. Ich würde Ihnen gern Gesellschaft leisten; aber gehorsam Ihrem Befehl bleibe ich sitzen.«

»Ich bin Ihnen zu großem Danke verpflichtet für alles, was Sie mir heute geboten haben, Herr Archivar. Zu großem Danke,« wiederholte sie. Dann aber huschte ein schalkhaftes 222 Lächeln über ihre Züge: »Die Quittung sollen Sie demnächst empfangen.«

»Die Quittung?« fragte er verwundert.

»Jawohl, die Quittung,« nickte sie ernsthaft.


Drei Tage gingen ins Land. Da kam ein Brief, mit der stolzen, zügigen Schrift des jungen Mädchens überschrieben.

Der Archivar öffnete und entfaltete den Bogen. Es waren Verse:

Im kühlen Gewölbe, aufs Pult gebückt,
so weltverloren, so weltentrückt,
sitzet und forschet, wie manches Jahr,
also auch heute, der Archivar.

Das Aug' ist müd und ihm schwimmen die Zeilen.
Da faltet die Hände der alte Mann
und sinnt, wie so flüchtig die Jahre enteilen,
und wie sein eigenes Leben verrann.

Sie haben sich draußen gehetzt und gejagt
und haben sich mit dem Ehrgeiz geplagt
und haben die Spanne der Erdenzeit
geachtet für eine Unendlichkeit.

Er wußte das anders, der Archivar;
denn er sah immer, was vordem war,
und was die Vielen noch nie gesehen,
er wußt' es, war allzeit wieder geschehen.

Was den andern die längste Vergangenheit,
das war ihm jüngst verflossene Zeit,
und an dem, was immer und immer gewesen,
war seine Seele zum Frieden genesen.

Die bunten Lappen der Erdenpracht,
sie sanken vor ihm in Staub und Nacht,
und von manchen Kaisers vergilbter Hand
blies er gelassen ein Restlein Sand. 223

Doch hat er in all dem Kommen und Gehen
den Kern der Wahrheit schimmern gesehen
und weiß es fürder unbeirrt,
was bleibend gewesen und bleiben wird.

Und wenn ihm vollends die Feder entsinkt,
dieweil es hienieden zum Sterben geht,
wenn die letzte Recherche am Ziele steht
und von ferne die höchste Entschließung winkt –

dann senkt er die Augen und bündelt in Ruh
den Akt des Lebens und schnürt ihn zu
und macht in stiller Gelassenheit
sich fertig zur Fahrt in die Ewigkeit.

Der alte Herr wandte den Bogen, strich glättend darüber und las lächelnd zum zweiten Male. Ganz bedächtig las er, Zeile um Zeile. 224

 


 


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