August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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12. Auf dem toten Punkt

Es war behaglich warm in den Amtsstuben des Archives. Vor den Fenstern stand der milchweiße Nebel wie eine Mauer. Die Novembersonne hatte noch keine Kraft gefunden, ihn zu besiegen.

Mit einer mächtigen Papierschere öffnete der Archivar den Einlauf: drei Rechtsfälle, eine ortsgeschichtliche Anfrage, die Ankündigung zweier Zugänge von einem Rentamt und einem Bezirksamt mit beiliegenden Aktenverzeichnissen, ein dicker Antiquariatskatalog – genügend Stoff für die nächste Zeit.

Der Archivar malte auf zwei dieser Einläufe mit Blaustift ein römisches II – das bedeutete soviel als: Referat des Sekretärs. Dann zerschnitt er sorgfältig die Briefumschläge, legte die zu Notizzetteln geeigneten Stücke auf den Zettelstoß zu seiner Rechten und warf die Abfälle in den Papierkorb zur Linken. Denn er war ein sparsamer Herr, und Papierverschwendung war ihm ein Greuel.

Auf ein Klingelzeichen trat der Funktionär herein und nahm den Einlauf in Empfang.

»Die Frau Generalin Müller sitzt draußen, Herr Archivar.«

Der alte Herr hob wortlos die Arme gegen die Decke und rollte die Augen der Gangtüre zu, als wünschte er zu entweichen. Dann faßte er sich, legte die gefalteten Hände auf die Tischplatte und sagte ergebungsvoll: »Also bringen Sie mir wieder einmal den Akt ›Millionenprozeß Müller‹ – und ich lasse die Frau Generalin ergebenst bitten.«

»Da hab' ich ihn schon«, sprach das Faktotum mit verständnisvollem Lächeln und legte einen dicken Akt auf den Tisch. –

Ein seidenes Kleid rauschte, und in einer Wolke von Wohlgerüchen betrat eine stattliche Dame die Stube.

225 »Frau Generalin – habe die Ehre – bitte nehmen Sie Platz – was führt Sie zu mir?«

Die alte Dame ließ sich rauschend in den ehrwürdigen Lederstuhl zur Rechten des Arbeitstisches sinken, und der Archivar faltete zur Abwechslung die Hände auf seinen Knieen.

Sie erfreute sich eines dicken, roten Gesichtes und einer spitzigen, noch etwas röteren Nase; über ihren Ohren lagen zwei große altmodische Haarschnecken, und obenauf saß ein Hut, der ein weniges zu klein war.

Sie zog die Schnüre eines gestickten Pompadours auseinander, entfaltete umständlich ein Schriftstück, suchte nach ihrer Brille, fand sie auch in der Tiefe der Tasche, überflog das Schriftstück und legte es mit einer gewissen Feierlichkeit vor den Archivar auf den Tisch.

Der alte Herr beugte sich höflich über das Schreiben. Aber sie pflanzte die große Hand darauf und sagte: »Bitte, hören Sie zuerst und dann lesen Sie!«

Und nun begann sie mit lauter, blecherner Stimme, während ihre runden, schwarzen Augen unbewegt in weite Ferne zu blicken schienen: »Sie wissen, Herr Amtsvorstand, daß unsere Forschungen sozusagen auf dem toten Punkt angekommen waren.«

»Ich weiß es,« fiel er eifrig ein, »der Punkt ist tot, ist sozusagen mausetot, Frau Generalin.«

»Gewesen!« rief sie. »Denn hören Sie wohl, die Angelegenheit ist jetzt in ein ganz neues Stadium getreten. Sie erlauben gütigst, daß ich Ihnen den Fall ins Gedächtnis zurückrufe. Ich werde mich kurz fassen.«

»Ganz und gar unnötig, Frau Generalin,« rief er geängstet. »Siebenundzwanzig verschiedene Parteien setzen uns nun seit fünf Jahren auf ein und derselben, ins leere Nichts führenden Linie in Bewegung;« – er hob den dicken Akt in die Höhe und stauchte ihn auf die Platte, daß es knallte – 226 »der Fall liegt so klar oder, besser gesagt, so unklar vor mir, daß jedes weitere Wort überflüssig wäre.«

»Sie sagen selbst,« fiel sie mit unbewegtem Gesicht ein, »daß Ihnen der Fall noch nicht völlig klar ist.«

»Ich bitte Sie, Frau Generalin, er liegt in seiner ganzen Unklarheit vollkommen klar vor meinen Augen. Ich kenne ihn auswendig und inwendig: Im Jahre 1830 starb in Holländisch-Indien ein Mann mit Namen Georg Müller und hinterließ ein beträchtliches Vermögen.«

»Ein Vermögen von zehn Millionen holländischer Gulden«, unterbrach sie ihn.

»Da der Mann fünfzig Jahre vorher, also um das Jahr 1780, aus Bayern nach Holland eingewandert war und sich niemals verheiratet hatte, waren selbstverständlich auch keine Erben vorhanden, und die holländische Regierung legte die Hand auf das Vermögen.«

»Ganz unrichtig!« fiel die blecherne Stimme ein. »Es war bekannt, daß Georg Müller aus Nabburg in der Oberpfalz in Holland eingewandert war, und die holländische Regierung wußte sich damals schon und auch später noch den Anschein zu geben, als suche sie ernstlich nach Erben. Daher die wiederholten Aufrufe in bayerischen Blättern.«

»Die ohne Erfolg blieben,« fuhr der Archivar fort. »Aber nach Ihrer Ansicht haben auch Sie durch Ihren seligen Herrn Gemahl begründeten Anspruch auf die Müller-Nabburgsche Erbschaft.«

»Millionenerbschaft«, berichtigte die Generalin, indem sie die Millionen ins Ungemessene dehnte. »Und nicht nur durch den seligen General, sondern auch von mir selbst; denn ich bin ja doch, und das scheint Ihnen entgangen zu sein, ebenfalls eine Müller, eine geborene Müller, die Letzte des Oberappellationsgerichtspräsidialsekretärzweiges Quirin Müller in München, dem auch mein seliger Mann angehört hat –«

227 »Kurzum, Sie vermuten,« unterbrach sie der Archivar, »daß Sie beide vom Urgroßvater des Erblassers abstammen.«

»Ich vermute das nicht nur, sondern es ist meine felsenfeste Überzeugung. Es ist mir geradezu, wenn ich mich so recht in diese Fragen versenke, als hörte ich die rauschende Stimme des Blutes.«

»Der Beweis ist Ihnen aber bisher nicht gelungen, weil die entscheidenden Kirchenbücher in –«

»Vilseck!«

»– die entscheidenden Einträge nicht enthalten,« fuhr er geschäftsmäßig fort.

»Weil eben die entscheidenden Blätter mit den entscheidenden Einträgen aus den Vilsecker Kirchenbüchern entfernt worden sind«, ergänzte sie.

»Ist das amtlich festgestellt?« fragte der Archivar.

»Sie müssen herausgeschnitten worden sein, sonst wären sie doch vorhanden!« rief sie, und ihre Stimme überschlug sich.

»Sind die Blätter des Kirchenbuches numeriert?«

»Meines Wissens nicht.«

»Also! Und wer hätte denn an solcher Tat ein Interesse gehabt?« fragte er.

»Nun, wer denn? Die holländische Regierung doch – wer denn sonst?«

Der Archivar rückte auf seinem Stuhle hin und her. »Ich bitte Sie, Frau Generalin, wir haben ja diese Frage schon oft miteinander erörtert. Da hätte also die holländische Regierung eigens zu diesem Zwecke einen Agenten nach Vilseck abgeordnet –?«

»Und warum nicht? Ich bitte Sie, es handelt sich um zehn Millioooonen!«

»Und gleichzeitig hat dieselbe Regierung durch öffentlichen Aufruf die Erben gesucht?«

228 »Die ihr genehmen Erben! Aber einerlei, alles einerlei. Spiegelfechtereien! Es liegt hier ein Verbrechen vor. Nun, die Sonne wird's an den Tag bringen. Denn hören Sie, der tote Punkt ist überwunden, meine Angelegenheit ist in ein ganz neues Stadium getreten, und ich bin gekommen, Sie um Ihren bewährten Rat zu bitten.«

»Meinen Rat kennen Sie ja, Frau Generalin: Schluß machen, je eher, desto besser! Unsere archivalischen Hilfsmittel sind, wie Sie wissen, vollkommen erschöpft. Alles, was sich auf die Müllersche Mühle in Vilseck bezieht, Akten, Kaufbriefe, Salbücher, Bürgerverzeichnisse –«

»– sind mir vorgelegt worden, ganz richtig, und es ist uns nicht gelungen, den Nachweis der Einwanderung aus Nabburg zu finden,« ergänzte die Generalin. »Aber nun hören Sie gütigst: der einzelne kann in solchen Fällen naturgemäß nur wenig oder gar nichts ausrichten. Ich bitte Sie – hier ich, dort die holländische Regierung! Organisieren ist also das einzige Mittel. Und deshalb hat sich in jüngster Zeit endlich ein Müllersches Erbschaftskonsortium gebildet.«

»Ums Himmelswillen, auch das noch!« rief der Archivar.

Sie aber fuhr unbeirrt fort: »Und denken Sie nur, welch ein Glücksfall: an der Spitze des Konsortiums steht ein Berliner Rechtsanwalt namens Friedrich Müller, und dieser Friedrich Müller – ein feiner, jüngerer Mann mit sehr guten Manieren, er hat mich gestern besucht – dieser Friedrich Müller stammt ausgerechnet ebenfalls von der Müller-Mühle in Vilseck –!«

»Wunderbar!« sagte der Amtsvorstand.

»Gelt – wunderbar? Und er besitzt eine große Familienchronik mit ausführlichem Stammbaum, der in gerader Linie auf den Urgroßvater des Erblassers in Nabburg zurückführt.«

»Hat Ihnen der Herr von der Müller-Mühle diese Chronik vorgelegt?«

229 »Er kann das schwere, mit kostbaren Bildern geschmückte Buch nicht wohl auf seinen Reisen mit sich führen!«

»Frau Generalin, ist Ihnen denn keinen Augenblick der Gedanke gekommen, daß Sie es unter Umständen mit einem Betrüger zu tun haben könnten?«

»Ausgeschlossen! Er ist doch ein Rechtsanwalt. Ausgeschlossen, nachdem ich den Mann persönlich kennen gelernt habe. Und meine Menschenkenntnis – der selige General hat immer gesagt, Thusnelda, hat er gesagt, deine Menschenkenntnis ist einfach verblüffend.«

»Und was wird Ihnen diese Bekanntschaft kosten?« erkundigte sich der Archivar.

»Der Mitgliederbeitrag ist allerdings nicht billig«, sagte sie ein wenig zögernd. »Sechshundert Mark jährlich – aber dafür wird ja auch die holländische Regierung auf die Knie gezwungen. Und was ist nun Ihr gütiger Rat?«

»Mein gütiger Rat? Daß Sie sich mit keinem Pfennig an dem Schwindel beteiligen. Sechshundert Mark Jahresbeitrag! Und auf wieviele Jahre müßten Sie sich verpflichten?«

»Auf fünf Jahre.«

»Macht dreitausend Mark! Frau Generalin, Sie haben mir erst kürzlich Ihre Verhältnisse dargelegt. Erlauben Sie, daß ich darauf zurückkomme. Ihre Einkünfte belaufen sich alles in allem auf dreitausend Mark jährlich. Davon können Sie als alleinstehende Dame in unserem billigen Städtchen behaglich leben. Wenn Sie nun aber jährlich sechshundert Mark –«

»Ich werde mein Dienstmädchen abschaffen und mich mit einer Zugehfrau behelfen.«

»Aber ums Himmelswillen – wozu denn das alles? Lassen Sie doch die holländischen Millionen liegen, wo sie liegen! Meine feste Überzeugung ist, daß Sie niemals einen Gulden davon bekommen werden, so wenig wie ich. Und 230 abgesehen davon: wenn man einmal mit der Laterne nach Erben suchen muß, dann hat so ein Mann eben keine Erbberechtigten hinterlassen, und sein Vermögen gehört dem Staat, unter dessen Schutz er es zusammengescharrt hat.«

»Das sind sozialistische Ideen!« rief sie empört.

»Meinetwegen.«

»Der Berliner Rechtsanwalt ist aber der Ansicht, daß die Erbschaft mit Zins und Zinseszins auf achtzig Millionen angewachsen sein muß. Ich bitte Sie – achtzig Milliooonen! Und diese Summe sollte man dem holländischen Staat im Rachen lassen? Diese Millionen muß uns der holländische Staat herauszahlen, und wenn er bankrott wird. Ich bitte Sie, was ist dagegen der Einsatz von sechshundert Mark!«

Es klopfte, und der Major erschien auf der Schwelle. »Um Vergebung, ich wollte mir nur meinen Archivalakt in den Benützersaal holen.«

»Kommen Sie herein, Herr Major!« rief der Archivar mit der Stimme eines Mannes, der am Ertrinken ist und plötzlich einen Balken erspäht. »Wir sind ohnedies am Ende unserer Besprechung. Hier Herr Major Titus – Frau Generalin Müller.«

Der Major schlug die Hacken zusammen und begab sich auf seinen Platz am Gartenfenster.

»Und Sie raten mir also –?« Die Generalin erhob sich rauschend, und eine Woge von Wohlgerüchen flutete über den Schreibtisch.

Auch der Archivar stand auf: »Ich rate Ihnen dringend, keinen Pfennig in das Unternehmen zu werfen und sich die ganze Angelegenheit aus dem Kopf zu schlagen. Den Herrn aus Berlin halte ich für einen – entschuldigen Sie den Ausdruck – Bauernfänger.«

»Aber das ist doch zu stark!« rief sie und rauschte zur Türe.

»Kein Ausdruck ist zu stark für solche Leute«, sagte der 231 Archivar höflich, öffnete die Türe und geleitete seinen Besuch hinaus.

Ärgerlich kam er zurück.

»Eine holländische Millionenerbschaft. Natürlich auf dem toten Punkt angekommen – besser gesagt immer auf dem toten Punkt gewesen. Eigentlich eine erbarmungswürdige Frau! Könnte so behaglich dahinleben und ihre arme Seele mit besserer Nahrung versorgen. Aber nein! Der Erbschaftsteufel hat sie am Kragen, der Vogel sitzt ihr im Hirn, und sie kann nichts anderes mehr denken bei Tag und bei Nacht. Was habe ich mir schon für Mühe gegeben, sie von ihrer fixen Idee abzubringen! Und immer wieder kommt sie und bittet mich um meinen gütigen Rat, und immer wieder geht sie hin und tut genau das Gegenteil von dem, was ich ihr gütigst geraten habe. Und das Ende vom Liede ist jetzt, wie gewöhnlich, daß ein gerissener Schwindler all den verrückten Erben ihre letzten Groschen herauspreßt.«

»Du meine Güte!« rief der Major und machte ein klägliches Gesicht. »Wenn ich auch nicht nach holländischen Millionen jage, so fürchte ich doch beinahe, daß ich auch mit einer fixen Idee behaftet bin. Und den toten Punkt habe ich ebenfalls glücklich erreicht.«

»Ei, Herr Major, dann muß ich Ihnen schon sagen, es gibt in der Tat eine Krankheit, die uns Archivaren aus der Praxis wohl bekannt ist.«

»Das wäre?«

»Genealogische Besessenheit.«

»Könnte sein, daß ich an ihr erkrankt bin!«

»Ei, dann rate ich Ihnen aber ganz entschieden wieder einmal, wie schon des öftern in den letzten Monaten: Geben Sie die Jagd auf!«

»Damit ich wieder in die tödliche Langeweile versinke, die mich vor einem Jahre hierher und ins Archiv getrieben hat? 232 Herr Archivar, ich fürchte, das wäre kein guter Rat. Lassen Sie sich nur gestehen, ich habe mich noch nie – fast noch nie – so glücklich gefühlt, als jetzt hinter diesen vergitterten Fenstern. Solche Familienforschung hat starke Ähnlichkeit mit der Jagd – Sie haben den richtigen Ausdruck gebraucht. Spürsinn und Ausdauer sind Jägereigenschaften –«

»Die Sie in hervorragendem Maße besitzen,« sagte der Archivar. »Ich gestehe, ich habe in der langen Zeit oft Gelegenheit gehabt, Sie zu bewundern. Aber es ist auch meine Pflicht, Sie auf die Gefahren aufmerksam zu machen und Sie allen Ernstes zu fragen: Ist es schließlich der Mühe wert, daß Sie diese Jagd mit ganzer Seele betreiben?«

»Allerdings, was habe ich bei der oft so aufregenden Jagd bis heute erreicht?« rief der Major. »Nichts! Ich habe jedes Blatt der vielen, vielen Akten aus der Zeit der Gegenreformation vorn und hinten studiert, kein Namenszug, keine Siegelumschrift ist mir entgangen – aber nirgends habe ich einen Mann des Namens Titus gefunden. Und doch – bis in meine Träume verfolgt mich die Jagd. Wäre ich abergläubisch, dann könnte ich mich für verhext halten. Denn ich komme nicht mehr los von der Vorstellung: du mußt ihn noch finden! Dabei bin ich unleugbar auf dem toten Punkt angelangt und erwarte alle Tage, daß Sie sagen: Die Angelegenheit ist erledigt, suchen Sie sich ein anderes Feld Ihrer Tätigkeit.«

Der Archivar lachte: »Das dürfte Ihre geringste Sorge sein. Entginge mir doch selbst etwas, wenn Sie dem Archiv untreu würden.«

»Feurigen Dank!« rief der Major. »Denn ich kann mir mein Leben ohne archivalische Forschung gar nicht mehr vorstellen. Aber was habe ich hier noch zu suchen, nachdem die letzte Hoffnung entschwunden ist?«

»Die Regensburger Kirchenbücher enthalten also nicht die geringste Nachricht?«

233 »Ich bin doch vier Wochen dortgesessen und habe die Bücher von 1628 bis 1650 Blatt für Blatt durchgearbeitet. Nach diesen Büchern hat damals kein Titus in Regensburg gewohnt. Und er hat in Wirklichkeit doch dort gewohnt; denn in diesem Punkte kann unsere Überlieferung nicht irrig sein. Es ist wie verhext.«

»Dann rate ich Ihnen, hängen Sie den ganzen Georg Titus vorderhand an den Nagel und werfen Sie sich auf ein anderes Gebiet. Schreiben Sie zum Beispiel die Geschichte Ihres Schlößchens und derer von Moos! Und im übrigen vertrauen Sie dem Zufall, der oft ganz seltsame Sprünge macht, – namentlich, wenn es sich um genealogische Forschungen handelt.«

»Und es ist Ihnen also recht, wenn ich auch in Zukunft regelmäßig bei Ihnen arbeite?«

»Recht? Es ist meine – in diesem Falle angenehme – Amtspflicht, Ihnen auch bei neuen Arbeiten helfend zur Seite zu stehn.«

Die Herren schüttelten sich die Hände, und der Archivar sagte: »Erinnern Sie sich unseres ersten Ganges durch die Archivsäle?«

»Gewiß, lebhaft.«

»Dann denken Sie vielleicht auch noch an meine Prophezeiung?«

Der Major lachte hellauf: »Sie schrumpfen ein –«

»– verlieren Arme und Beine –«

»– der Leib wird walzenförmig! Zu Befehl, Herr Amtsvorstand, ich glaube selbst, ich bin zum Archivwurm geworden.«

*

Der Major begab sich gegen Mittag betrübten Herzens zum Bahnhof. Die Sonne hatte den Nebel besiegt, und ein blauer Himmel sah in die alten Gassen herein. Der Mariahilfberg stand hoch und langgestreckt, geschmückt mit den 234 flammenden Farben des Spätherbstes, über dem Bahngebäude, und von den Linden am Stadtgraben rieselten die gelben Blätter. –

Der Zug dampfte zwischen den Stoppelfeldern durch das sonnige Land und hielt nach kurzer Zeit in Moos.

Mit gesenktem Haupte schritt der Major hinüber zu seinem Heim.

Es war ja so freundlich vom Archivar, daß er ihn auf ein anderes Gebiet archivalischer Studien hinwies. Und er würde auch schließlich gar keine andere Wahl haben, als etwa die Ortsgeschichte von Moos zu schreiben, – wollte er nicht in Langeweile verkommen. Aber war's nicht eigentlich zum Lachen? Hatte er die Heimat verlassen, um die Geschichte eines öden Nestes zu erforschen, das ihn gar nichts anging und vielleicht in Wirklichkeit gar keine Geschichte besaß? Der alte Herr war sehr verstimmt. –

Auch von der Linde am Schlößlein fielen die Blätter, als schneite es, und der dunkle Stamm wuchs wieder, wie damals vor einem Jahre, gleichsam aus einem großen, leuchtend gelben Teppich heraus.

Auf der Lindenbank saß der Briefbote. Er hatte die Ledertasche neben sich gelegt, seine Dienstmütze abgenommen, den Stecken zwischen die Beine gestellt, und die gebräunte, knochige Hand trocknete mit dem blauen Taschentuch den kahlen Schädel.

»Ich hab' Sie kommen sehen, Herr Major, und möcht' mir die Stieg' ersparen. Drei Brief', die Zeitungen – und hier noch ein Paket. Etwas Eingeschriebenes.«

Der Major nahm es in Empfang.

»Ihren Schnaps, Filger! Um den sollen Sie nicht kommen. Gehen Sie mit in den Hof. Ich schicke Ihnen die Franzi herunter.«

Schmunzelnd hing der Bote seine Tasche um: »Bin halt so grob, Herr Major!« –

235 »Das Essen ist fertig!« rief Liselore unter der Küchentüre im ersten Stock.

»Sogleich, meine Liebe! Sorge nur, daß der Filger seinen Schnaps bekommt. Ich habe da ein Paketchen, das muß ich noch öffnen.«

Mit raschen Schritten ging er in seine Stube – unverwandt auf die steifen Buchstaben der Anschrift und des Abschnittes der Begleitanschrift blickend. ›Brief im Paket. Mit Hochachtung Auguste Möller.‹

Auguste Möller – das war ja doch, jawohl, die Wirtschafterin des verrückten, eingemauerten Vetters!

Neugierig zerschnitt er die Schnüre und riß die Siegel ab.


Liselore wußte, daß der Vater sich beim Lesen der Post nur ungern stören ließ. Deshalb wartete sie geduldig eine geraume Zeit am gedeckten Tische. Endlich aber ging sie doch über den Gang zur Stube des Vaters und steckte den Kopf zur Türe hinein: »Ei, lieber Vater, wo bleibst du denn? Die Suppe wird kalt, der Braten verliert seinen Saft!«

»Suppe hin, Braten her – Liselore, da komm, da komm und lies und sieh!«

Sie schloß die Türe und ging an den Schreibtisch, auf dem das geöffnete Paket lag.

»Da – lies!«

›Euer Hochwohlgeboren. Indem ich Ihnen mitteile, daß Ihr Herr Vetter heute vor acht Tagen sanft verschieden ist, und daß gestern das Testament eröffnet worden ist, beehre ich mich, Ihnen einen Siegelstock zu senden, den ich unter dem Nachlaß meines verstorbenen Dienstherrn gefunden habe. Indem mir bewußt ist, daß Sie bei Ihrer letzten Anwesenheit nach einem solchen Siegelstock gefragt haben, und indem derselbe für mich und meine Tochter weiter keinen Wert hat, beehre ich mich, Ihnen denselben zu schicken. Wie ich glaube, 236 ist er aus echtem Silber, und es wird deshalb nicht unbillig aufgenommen werden, wenn ich dafür zwanzig Mark in Rechnung bringe. Die Zeiten sind schlecht, und die Verlassenschaft des seligen Herrn, die meiner Tochter testamentarisch zufällt, ist auch viel geringer, als wir gedacht hatten.

Mit Hochachtung ergebenst

Auguste Möller, Wirtschafterin.‹

Liselore lachte: »Immer die alte Heuchlerin. Haus, Garten, Barvermögen – da reichen doch hunderttausend Mark nicht, die sie geerbt haben?«

»Was kümmert mich die ganze Erbschaft!« rief der Major erregt. »Da guck, Liselore – den Siegelstock wiege ich ihr mit Gold auf, wenn sie's verlangt!«

Aufmerksam betrachtete Liselore das Petschaft mit dem Elfenbeingriff und dem talergroßen Siegelfelde auf der dicken, silbernen Platte.

Der Major aber zündete einen Wachsstock an und ließ roten Siegellack auf eine alte Besuchskarte tropfen: »So – gib her!«

Er drückte den Stock in den duftenden Siegellack. »Eine wundervolle Arbeit aus dem sechzehnten Jahrhundert. Edelste Renaissance. Und wie scharf der Abdruck geworden ist!«

»Ich sehe drei Hügel im Schildfuße, aus dem mittleren, erhöhten Hügel aber wachsen – ja, was ist das? Glaubst du, daß es wirklich unser Wappen ist?«

»Aber natürlich – was denn sonst?«

»Schön ist das Wappenbild ja nicht. Drei Schaufeln oder etwas Ähnliches, die hinter einem Hügel emporwachsen. Auf dem Stechhelm dasselbe Bild.«

»Und in der Umschrift ist der Geschlechtsname ausgekratzt«, sagte er nun tief enttäuscht. »Sieh her – S., das heißt Sigillum, JOHANN – und weiter nichts mehr.«

237 »Also nicht einmal Titus!« rief sie bekümmert. Sie fühlte in der Tat Mitleid mit ihrem Vater. »Demnach fehlt der Beweis dafür, daß es wirklich das Siegel eines Titus gewesen ist.«

Er starrte verärgert auf den Abdruck. »Wieder eine Enttäuschung und wieder ein Rätsel.«

»Aber wollen wir jetzt nicht zu Tische gehn?« bat sie.

»Daß mir der Bissen im Halse stecken bliebe!«

»Ei Vater! Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen, sagt Franzi. Laß deinen Siegelstock eine Viertelstunde liegen, wo er liegt. Du bist erregt. Ein Löffel Suppe wird dir gut tun.«

Er stand schwerfällig auf und folgte ihr ins Eßzimmer. Den Siegelstock aber nahm er mit sich und stellte ihn neben seinen Teller. Und während er zerstreut seine Suppe löffelte, griff er immer wieder hin und studierte Wappen und Schrift. Er aß auch vom Fleisch und vom Gemüse hastig ein paar Bissen, ein paar Löffel. Dann aber setzte er das Petschaft mit festem Klang auf den Tisch und erklärte, daß er in die Stadt müsse.

»Vor vier Uhr geht ja gar kein Zug«, wandte sie schüchtern ein.

»Was Zug! Ich laufe. Ich muß den Archivar heute noch sprechen – unbedingt.«

»Dann darf ich dir wenigstens dein Pfeifchen stopfen? Du kannst auf dem Wege ein wenig rauchen. Das wird dich beruhigen!«


Die hellen Tropfen standen ihm auf der Stirne, als er die Kuhschelle zog, daß es hallte in den Gewölben des Archives.

Er schob den Diener zur Seite und stürmte zwischen den Aktengestellen hindurch.

»Herein – nur herein! Das ist der Herr Major, den kenne ich am Klopfen.«

238 »Hier habe ich das Petschaft!« Er stellte es auf den Schreibtisch und sank schnaubend in den Lehnstuhl. Und er trocknete seine Stirne genau wie heute mittag der Postbote; nur war das Taschentuch nicht blau, sondern weiß.

Der alte Herr griff zum Brennglas und begann das Wappen zu prüfen.

»Eine gute Arbeit aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts – ganz deutlich das Wappenbild – aber die Umschrift – –?«

»Ist teilweise abgekratzt«, fiel der Major bekümmert ein.

»Das ist nicht von Belang. Der Name Johann ist ja gut zu lesen, und das Wappenbild besagt das übrige. Es ist also tatsächlich in Ihrem Schlößlein gefunden worden? Merkwürdig. Das war doch leer wie ein ausgeblasenes Ei?«

»Gefunden? Bei uns da draußen? Keine Rede! Ich habe es vor ein paar Stunden mit der Post geschickt bekommen. Es ist ja das sagenhafte, heißersehnte Petschaft aus dem Besitze des verrückten Vetters, der nun plötzlich das Zeitliche gesegnet hat.«

Der Archivar blickte unverwandt durch das Glas. »Komisch, unleugbar komisch. Sie sehen doch selbst das Wappenbild –?«

»Die drei Schaufeln sehe ich freilich.«

»Schaufeln – was? Drei Schilfkolben sind's, und es ist das Wappen derer von Moos.«

Der Major riß das Petschaft an sich. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirne. »Ohne Zweifel! Daß mir das entgangen ist! Bin aber nun ich verhext oder der Stock da? Auf dem Stock da kann doch nur unser Wappen eingegraben sein – das Titus-Wappen.«

Der Archivar stand auf, ging an das Büchergestell und nahm einen Band heraus.

»Ganz richtig. Hier, lesen Sie: Johann von Moos geboren 1558, gestorben am 10. März 1618. uxor Margaretha von Heimhof. Söhne: Hans und Georg.«

239 »Ja, dann wären am Ende gar wir Titusse –?« Der Major kam heran.

»Halt!« rief der Archivar. »Nur keine übereilten Schlüsse! Der Siegelstock ist ein schwacher Beweis dafür, daß Ihre Familie aus der Oberpfalz stammt. Das heißt, er ist geeignet, Ihre Überlieferung zu stützen. Weiter nichts, aber auch gar nichts. Solange Sie nicht den urkundlichen Beweis finden, daß Ihr Vorfahre Georg Titus dieses Wappen rechtmäßig geführt hat, können Sie besten Falles annehmen, daß der Siegelstock durch eine Frau in Ihre Familie gekommen ist. Das ist alles. Und vorderhand geben Sie sich damit zufrieden. Aber immerhin ist es doch recht hübsch, daß zwischen Ihnen und Ihrem alten Neste da draußen ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen könnte. Wunderbares ist nicht dabei. Denn daß Ihre Familie trotz allen Mißerfolgen Ihrer Forschung dem oberpfälzischen Emigrantenadel angehört hat, glaube ich nach dieser Entdeckung annehmen zu dürfen, – wenn Ihnen auch natürlich kein Heroldamt daraufhin Brief und Siegel ausstellen wird. Und daß alle Familien ein und derselben Landschaft unter sich eng zusammenhingen, ist im Wesen des Adels begründet. Vielleicht löst sich das Rätsel am Ende doch noch – aber, wie gesagt, nur ja keine übereilten Schlüsse und überspannten Hoffnungen! – Haben Sie Lust, einen Gang um die Stadt zu machen? Das kühlt ab, wenn man erregt ist.«

»Für Abkühlung haben Sie ohnedies reichlich gesorgt«, lachte der Major etwas gezwungen. »Aber ich bin bereit, mein Zug geht erst um 6 Uhr 30 Minuten.« –

Und so wandelten die beiden durch die rauschenden Blätter der Lindenallee um die Stadt, und die Rechte des Majors hielt den Siegelstock in der Seitentasche des Überziehers krampfhaft umklammert.

*

240 Es war Abend. Der Major und seine Tochter standen vor dem großen Stammbaum, der noch immer die leere Eckstube im obern Stockwerk schmückte. Liselore leuchtete mit hocherhobener Kerze.

»Hier!« rief der Major und setzte den Zeigefinger auf ein Schildchen, das etwa in der Mitte des Stammes hing. »Johannes, geboren 1558, gestorben 1618, März 10. Und hier: Hans, geboren 1589, gestorben 1651. Und hier neben diesem: Georg, geboren 1591. Das Todesjahr fehlt, über sein Schildchen ragt ein abgebrochenes, blattloses Aststück heraus. Das ist der Emigrant – das ist unser Ahnherr! Und nun sieh mal, Kind, angenommen, er ist in der Tat unser Ahnherr, dann geht die Reihe unserer Vorfahren« – er fuhr mit dem Finger über Johann von Moos den Stamm herunter bis auf die Brust des ruhenden Ritters – »dann geht die Reihe ununterbrochen zurück auf das Jahr 1248. Mir schwindelt.«

»Der richtige Kometenschweif!« sagte sie. Und mit wehmütigem Lächeln fügte sie bei: »So wäre uns also gleichsam über Nacht auch einer gewachsen, nur etwas zu spät. Ist aber doch alles bisher nur eine Vermutung, lieber Vater, weiter gar nichts. Übrigens,« – sie machte nun ein sehr hochmütiges Gesicht – »ich nehme auch ohnedies an, daß unsere Vorfahren schon vor dem Jahre 1248 in geordneten Familienverhältnissen gelebt haben, ob sie nun gewappelt waren oder nicht.«

»Liselore, wie kannst du nur so scherzen? Ist dir nicht auch ganz feierlich zumute?«

»Vergib mir, lieber Vater! Wenn ich ganz ehrlich sein soll – es ist mir durchaus nicht feierlicher zumute als gestern und vorgestern. Aber« – sie streichelte seine Wange – »ich bin viel froher als bisher, weil ich dich so vergnügt sehe.«

241 Der Major war am nächsten Tage verhindert, ins Archiv zu fahren. Ebenso am übernächsten Tage. Da kam eine amtliche Karte des Inhalts, er möge sich doch gelegentlich mit seinem Siegelstock beim Vorstande einfinden.

Bebend vor Erwartung betrat er noch am selben Nachmittag die Stube.

»Ein Fund!« rief ihm der Archivar entgegen und hob eine Pergamenturkunde mit einer großen Holzkapsel wie eine Fahne empor.

»Ein Fund –«

»Aber halt, nur keine überspannten Hoffnungen! Ein Schritt weiter in der Forschung, sonst nichts. Geben Sie mir den Siegelstock!«

Mit zitternder Hand reichte ihm der Major das Kleinod, und der Archivar begab sich mit Urkunde und Petschaft ans Gartenfenster.

»Hübsch so etwas, in der Tat hübsch!« rief er nach einer Weile. »Ganz wie ich vermutet habe. Sehen Sie, Herr Major –!«

Er hatte die Urkunde auf das Arbeitstischlein des Archivgastes gelegt: »Sehen Sie, wie scharf das Siegel noch ist, als wäre es gestern abgedrückt worden? Und es hat sich auch keineswegs geworfen, wie das so oft vorkommt.«

Der Major sah es wohl, das große Siegelfeld im braunen Wachse, eingerahmt von der Holzkapsel, die so neu aussah, als hätte sie gestern erst die Drehbank verlassen. »Drei Schilfkolben, aus einem Dreiberg wachsend,« sagte er ganz andächtig.

»Und nun sehen Sie weiter!« rief der Archivar und setzte die silberne Platte behutsam auf das Siegel. »Das Negativ sitzt wie angegossen auf dem Positiv – die Urkunde, ein Kaufbrief aus dem Jahre 1600, ausgestellt von Johann von Moos, ist mit ebendiesem Ihrem Petschaft gesiegelt worden.«

»Wunderbar!« rief der Major mit bebenden Lippen. »Welche Wünschelrute hat Sie zu dieser Urkunde geführt?«

242 »Wunderbar? Wünschelrute? Der alphabetische Renner zum Urkundenrepertorium des Archives, der Name ›Moos, von, Johannes‹ unter Litera M und der Hinweis auf Nummer 1278 unserer Urkundensammlung. Ein hübscher archivalischer Fund, bis jetzt weiter nichts. Nur keine überschwenglichen Hoffnungen! Sonst fallen wir unsanft auf den Erdboden der Wirklichkeit, wenn wir uns getäuscht haben. Vorderhand ist gar nichts bewiesen, als daß der Herr Major Titus merkwürdiger- und unerklärlicherweise einen Siegelstock besitzt –«

»– ererbt besitzt!«

»– gut, also ererbt besitzt, der im Jahre 1600 einem sicheren Johann von Moos gehört hat. Hier auf dem Abdruck die unverletzte Umschrift, die Legende, rund um das Siegelbild!«

Der Major seufzte tief auf.

Da lachte der Archivar: »Entschuldigen Sie, wenn ich dem Rad Ihrer Hoffnungen immer wieder einen Hemmschuh anlege. Aber nur Mut – jetzt hoffe ich selbst!«

»Ich werde nun mit Ihrer Erlaubnis jede Eingabe des Emigranten Georg von Moos genau untersuchen, Herr Archivar. Er muß doch einmal mit seinem vollen Namen Georg Titus von Moos unterschrieben haben.«

»Immer angenommen, daß er wirklich so geheißen hat, Herr Major. Aber der Weg ist ganz der richtige, gehen Sie ihn. Und viel Glück dazu. Ich habe einmal auf einem hübsch gestochenen Notariatszeichen diese Devise gelesen: ›Sei unverzagt und laß und laß nit ab!‹ Ein Wahlspruch, den man mit goldenen Lettern überall anbringen sollte, wo nach der Wahrheit geforscht wird.«

*

Mit Feuereifer stürzte sich der Archivgast von neuem auf die Akten aus der düsteren Zeit der Gegenreformation. Er las Wort für Wort die mannhaften Erklärungen des Landsassen Georg von Moos, worin dieser im Jänner 1629 243 der Landesregierung seinen Entschluß kundtat, daß er bei seiner Religion zu bleiben gedenke. Er las die Urschrift des Ausweisungsbefehles. Dann folgten mit ergreifender Regelmäßigkeit die Bittgesuche des nach Regensburg Ausgewanderten: – die Zeit der Aussaat sei gekommen, der einzige, katholisch gewordene Bruder befinde sich auswärts in Kriegsdiensten, die Knechte und Mägde müßten beaufsichtigt werden, man möge ihn nur auf vierzehn Tage ins Land herein lassen; die Zeit der Ernte sei gekommen, wenn nicht alles verloren gehen solle, dann müsse er auf vierzehn Tage nach Moos reisen. Und so wiederholten sich die Gesuche Jahr um Jahr. Dazwischen kamen Schilderungen des Elendes, in dem der Emigrant mit einer kranken Frau und einem sechsjährigen Söhnlein in zwei Dachkammern hause, oft nicht wissend, woher er das Brot nehmen solle. Bis ins Jahr 1638 reichte der Akt; da brach er plötzlich ab mit dem ›Fürschreiben‹ eines Reichsfürsten und der Urschrift einer Regierungsentschließung, wonach dem halsstarrigen Georg von Moos das Zureisen und Abreisen ein für allemal bei Strafe gefänglicher Einziehung strikte untersagt wurde. Doch immer wurde er nur Georg von Moos genannt, niemals unterzeichnete er selbst mit dem Doppelnamen Georg Titus von Moos. –

Als der Vater diese Aktenstücke in Abschrift nach Hause brachte, gab sogar Liselore zu, daß hier die Geschichte Fleisch und Blut gewinne, daß dieser Georg von Moos ein ganzer Mann gewesen sei, und daß sie nichts dagegen hätte, in ihm ihren Ahnherrn zu verehren. Aber freilich, er habe ja nicht Georg Titus, sondern nur Georg von Moos geheißen.

Worauf der arme Major nur immer beteuern konnte, er meine doch, er glaube, er sei der festen Überzeugung, daß –

Die Familienforschung war zweifellos auf dem toten Punkt angekommen, auf dem maustoten Punkt. 244

 


 


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