August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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14. Weihnachtstage.

Sechs Tage waren gekommen und waren gegangen. Sechs kurze Tage und sechs lange Nächte.

Vom grauen, niedern Himmel fiel der Schnee in feinem Geriesel. Auf den Fenstersimsen lagen dicke, weiße Polster. In der kahlen Linde krächzten die Raben. Aus den Kaminen des eingeschneiten Dörfleins stieg der mittägige Rauch und kämpfte erfolglos gegen den fallenden Schnee.

Mit gefalteten Händen stand Liselore am Schreibtisch neben ihrem Vater: »Kannst du denn gar nicht aus deinen Gedanken heraus?« fragte sie flehend.

Er antwortete nicht und starrte vor sich hin.

»Darf ich dir dein Rasierzeug bringen? Du hast es seit acht Tagen nicht mehr gebraucht.«

»Wozu denn?« kam die Antwort mühsam zurück.

»Es ist heute heiliger Abend, lieber Vater.«

»Und ich habe gar nichts für dich!« rief er mit kläglicher Stimme.

»Ich will ja nur dich!« sagte sie. »O bitte, bitte, mach dich recht fein – du hast auch keinen Hemdkragen an, weißt du das? – Dann feiern wir den heiligen Abend. Darf ich das Bäumchen schmücken – darf ich? O Vater, wie wäre das schön!«

»Laß mich! Weihnachtskerzen – ich könnte ihren Glanz nicht ertragen. Aber eines möchte ich wohl – es muß mit dem Archivar eine Verbindung hergestellt werden.«

»Du willst wieder ins Archiv?« sagte sie mit verhaltener Freude. »Nur schade, daß die Feiertage vor der Türe stehen.«

»Wer sagt dir, daß ich ins Archiv will? Was habe ich noch im Archiv zu suchen? Nein – aber du mußt hineinfahren und mir einen großen Gefallen erweisen.«

263 »Jeden, jeden!« rief sie.

»O gelt, ich habe es ja gewußt. Du bist ein gutes Kind. Aber es wird ein saurer Gang für dich werden.«

»Zu dem freundlichen alten Herrn? Vater, du scherzest.«

Er stöhnte und sagte lange nichts. Dann war es, als raffte er sich zusammen. »Ich habe nämlich etwas auf dem Gewissen. Das drückt mich unsagbar. Schändlich –: mache ich da vor ein paar Monaten Auszüge aus einem sehr interessanten Akte, habe daneben ein Gläschen mit roter Tinte stehen, stoße unvorsichtigerweise daran und schütte die Tinte über einen Teil des Aktes. Anstatt nun mein Ungeschick dem Archivar sogleich zu bekennen, trockne ich den Schaden, so gut ich's vermag, mit Löschblättern und gebe das kostbare Archivale wohlgeborgen in einem Aktenstoß zurück. Solch eine Feigheit!«

»Vater – ist das alles?«

»Mir genügt es.«

»Glaubst du, daß der Schaden wirklich so groß ist?«

»Ob groß, ob klein. Dieser rote Flecken ist ein Flecken auf meiner Ehre.«

Sie blickte angstvoll auf sein bleiches, eingefallenes Gesicht. »Vater, ist es das, worüber du nun immer grübelst?«

»Das andere natürlich auch. Jetzt aber macht mir vor allem dieses zu schaffen. Und ich sehe schon – der Gang wird dir zu sauer.«

Sie lächelte traurig und zog ihre Taschenuhr: »Es ist noch Zeit, ich erreiche den Zug. Ich spreche ohne Aufschub mit dem Archivar, darauf kannst du dich verlassen. Und wenn ich ihn in seiner Wohnung aufsuchen müßte.«

»Daß mir aber niemand außer ihm von der schändlichen Geschichte erfährt! – Hörst du?«

»Ich werde alles in deinem Sinne besorgen.«

*

264 Eine Stunde später saß Liselore in dem tiefen Lederstuhle, dem Archivar gegenüber.

»Also ein Malheur, wie es uns Tintenmenschen immer wieder begegnen kann?« sagte er freundlich. »Nun, wenn es Ihrem lieben Herrn Vater zur Beruhigung dient, will ich sogleich nachsehen. Sie haben die Nummer des Aktes aufgeschrieben?«

Liselore zog ein kleines Notizbuch aus dem Beutel. »Nr. 208 b

Der Archivar erhob sich und nahm den Schlüsselbund vom Haken.

»Es ist mir peinlich – Sie müssen sich selbst bemühen?«

»Meine Leute haben diesen Nachmittag frei. Es ist ja heiliger Abend. Gedulden Sie sich nur ein wenig. – Ja so, es trifft sich ganz gut, daß Sie zu mir gekommen sind. Ich habe da kürzlich in einem alten Klosterbuch eine hübsche Sage von einem Bildschnitzer gefunden. Hier – Sie sehen, es war schon für Sie bereit gelegt.« Er nahm einen Schweinslederband vom Schreibtisch und schlug ihn auf.

Dann ging er, und Liselore las die eingemerkte Stelle. –

Nach einiger Zeit kam er wieder, hängte den Schlüsselbund an seinen Haken, legte den Akt auf den Tisch und begann geschäftsmäßig Stück für Stück des ungehefteten Bündels zu prüfen.

Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie ihm. Endlich, in der Mitte des Aktes, fand er ein Schriftstück, das er etwas höher schob. Dann blätterte er weiter, langsam und bedächtig, bis zum letzten Stück.

Kopfschüttelnd schlug er den Akt an der Stelle auseinander, wo das höher geschobene Stück lag, hob es heraus und reichte es seinem Besuche hinüber. »Das ist alles, Fräulein Titus – Sie sehen selbst: ein roter Klecks auf einem unbeschriebenen Blatt.«

»Gott sei Dank!« rief Liselore mit einem tiefen Seufzer

265 »Ich werde also den Akt mitsamt dem Klecks wieder zu den übrigen Akten und hunderttausend Klecksen unseres Archives verstauen lassen, grüße meinen lieben Freund herzlich und wünsche Ihnen beiden recht gesegnete Feiertage.«

»Sie sind so gütig, Herr Archivar,« flüsterte sie und sah ihn mit großen, traurigen Augen an. »Möchten Sie mir – ich wage ja kaum zu bitten – möchten Sie mir das nicht mit ein paar Zeilen schriftlich geben?«

»Schriftlich? Gleichsam ein amtliches Zeugnis wegen solcher Kleinigkeit?«

»Es ist keine Kleinigkeit,« hauchte sie. »Mein Vater möchte wähnen, daß ich ihm aus eigener Machtvollkommenheit Beruhigendes sage.«

»Sie erschrecken mich, Fräulein Titus. Ist Ihr Herr Vater –?«

Sie nickte: »Er ist krank.«

Da nahm der Archivar ohne weiteres einen Briefbogen aus der Schublade und schrieb: ›Verehrter Herr Major. Ich habe auf Ihren Antrag den von Ihnen benützten Akt 208 b. einer eingehenden Prüfung unterzogen und beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß der aus einhundertundachtzig Schriftstücken bestehende Faszikel vollkommen in Ordnung ist. Nur auf dem unbeschriebenen Produkte 105 hat sich ein etwa talergroßer, roter Tintenflecken neueren Datums gefunden. Indem ich Ihnen hiemit gerne bezeuge, daß dieser Tintenflecken überhaupt nicht der Rede wert ist, bringe ich den lebhaften Wunsch zum Ausdruck, Sie möchten doch recht bald zu Ihrer Archivarbeit zurückkehren. Sie sind uns nun seit Jahr und Tag ein lieber Gast, und ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit wohl sagen, daß die Sorgfalt, mit der Sie das archivalische Staatsgut je und je behandelt haben, bei uns Archivbeamten geradezu sprichwörtlich geworden ist. Ich habe die Ehre, zu zeichnen als Ihr ganz ergebener usw.‹

»Ist's recht so?«

Liselore las, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wie ein echter Seelenarzt«, sagte sie und gab ihm den Brief zurück.

»So, nun stecken wir ihn ordentlich in einen amtlichen Umschlag – Sie aber, liebes Fräulein Titus – – Sie sehen ja ganz verstört aus! Wollen Sie mir nicht anvertrauen, wie das alles gekommen ist? Aber nicht hierinnen. Wenn es Ihnen recht ist – es schneit nicht mehr – begleiten Sie mich auf meinem Gang um die Stadt.«


Es war schon dunkel, als die beiden durch das Ziegeltor zum Bahnhof gingen. Hinter den Fenstern brannten da und dort die Christbäume.

»Also Kopf hoch, Fräulein Titus, und morgen veranlasse ich einen Besuch des Arztes. Er ist ein vortrefflicher Praktikus, an dem Sie für alle Fälle eine Stütze haben werden. Er ist auch Eisenhuts bewährter Hausarzt. – Und nun etwas ganz anderes: haben Sie die zehn oder zwanzig Zeilen in dem alten Klosterbuch gelesen?«

»Gewiß.«

»Nicht wahr, eine feine Sage? Mir will dünken, so ganz nach Ihrem Geschmack. Das Buch enthält, wie Sie wohl gesehen haben, eine Geschichte des Klosters, des Schauplatzes der Sage, manches über die Verfassung des Ordens und besonders über den Verfall der Klosterschule. Ich könnte einschlägige Literatur beschaffen. Was meinen Sie – wäre das nicht ein Stoff, wert liebevoller Bearbeitung?«

»Wem sagen Sie das, Herr Archivar?«

»Ihnen, Fräulein Titus! Und Gott segne Sie in dieser heiligen Zeit. Doppelt heilig. Denn es sind nicht die Menschen, die Ihnen Leid gebracht haben, es ist nicht ein blindes Fatum, das sich an Ihnen erfüllt – nein, es ist der Ewige, Allgütige selbst, der sich herabläßt, mit Ihnen zu reden.«

267 Er zog den Hut, und sie reichte ihm die Hand: »Ich bin Ihnen unsäglich dankbar, Herr Archivar.«

*

Es war am ersten Weihnachtstage gegen drei Uhr, und es war ein echter, rechter Weihnachtstag mit Sonnenschein und blinkendem Schnee.

Jonas Eisenhut ging grüßend durch das Gewimmel der festlich geputzten Menschen die Bahnhofstraße entlang und strebte der Vorstadt zu. Er ging mit gesenktem Haupte, und es war nicht eitel Sonntagsfreude, die aus seinem Antlitz leuchtete.

»Holla– wohin mit der Miene eines Leichenbitters?« rief eine helle Stimme neben ihm, und eine kräftige Hand packte ihn am Arme.

»Leichenbitter?« sagte Eisenhut ein wenig gereizt.

»Wenn's Ihnen lieber ist – mit der Kümmernis eines Mannes, der die ganze scheußliche Weltgeschichte auf dem Buckel tragen muß«, lachte der Doktor.

»Daß Sie doch immer spotten müssen!« rief Eisenhut und machte sich frei.

»Lassen Sie mir doch das bißchen Spott; es ist das Salz auf dem kärglichen Kommißbrot meines Daseins,« bat der andere gutmütig. »Und Sie wissen doch selbst, es ist nicht so böse gemeint. Aber was treiben Sie denn?«

»Ich besuche den Archivar«, sagte Eisenhut, schon wieder besänftigt.

»Dann grüßen Sie mir den alten, prächtigen Herrn. Und Sie können ihm ja gleich sagen, ich bin heute mittag in Moos gewesen.«

»In Moos – ist im Schlößchen jemand krank?«

»Der Major.«

»Ernstlich?«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Vorderhand läßt sich noch gar nichts sagen.«

268 »Dieser kernhaft gesunde Mann?«

»Ist auch nicht gefeit gegen Krankheit«, lautete die trockene Antwort. Dann aber blieb der Arzt plötzlich stehen: »Ist vielleicht ganz gut, daß ich Sie getroffen habe, lieber Freund. Hören Sie – Sie sind ja Hausfreund da draußen. Übrigens – alle Wetter – kein übler Geschmack!«

»Ich muß Sie ernstlich bitten, lieber Doktor, ich bin lediglich mit dem Vater befreundet.«

»Aber ich habe meines Wissens auch lediglich von dem Vater gesprochen«, sagte der Arzt mit unschuldiger Miene.

Eisenhut biß sich auf die Lippe.

»Und es handelt sich lediglich um den Vater Titus. Er befindet sich nämlich in einem sogenannten ›Zustand‹, und aus diesem ›Zustand‹ muß er sobald als möglich heraus!«

»Ein Zustand, was ist das?«

»Ein Zustand ist das Ergebnis eines plötzlich hereingebrochenen Unglückes oder auch der widerstandslosen Angst vor drohendem Unheil oder dergleichen mehr – mit einem Worte, ein Zusammenbruch der Nerven. Und ich wiederhole, der Major befindet sich in einem solchen ›Zustand‹ und muß möglichst bald wieder aus diesem Zustand heraus. Verstanden? Und dazu sollen Sie helfen.«

»Ich –?«

»Jawohl, Sie! Sind Sie etwa nicht im Nebenamt der patentierte Krankenbesucher unserer Stadt?«

»Schon wieder dieser Spott!«

»Keine Spur von Spott – nein, die ungeheuchelte Hochachtung,« beteuerte der Arzt. »Der Major muß aus diesem ›Zustand‹ heraus. Und zu diesem Zweck muß er täglich seine zwei, drei Stunden spazieren gehen – nein, nicht gehen, sondern laufen. Dann wird das arme, mit Blut überfüllte Gehirn entlastet und« – nun machte er ein sehr ernstes Gesicht – »dann ist die Hoffnung vorhanden, daß nichts Ärgeres 269 daraus entsteht. Er wird aber nicht wollen, er wird behaupten, solche Bewegung strenge ihn an, es sei ihm gesünder, wenn er in seinem Lehnstuhl sitze, und was dergleichen Redensarten mehr sind. Hier soll nun Ihre ersprießliche Tätigkeit einsetzen. Sie werden ihn Tag für Tag, bei jedem Wetter, drei Stunden spazierenführen, bis ihm der Schweiß ausbricht.«

»Aber der Major hat doch seine Tochter?« warf Eisenhut zögernd ein.

»Die wird ihn niemals aus seiner Höhle bringen. Dazu gehört ein Mann. Und der Mann sind Sie. Ich wüßte gar keinen, der dazu geeigneter wäre. Halb Krankenschwester, halb Seelsorger.«

Eisenhut stampfte.

»Nein, nein!« rief der Arzt. »Es war wirklich nicht böse gemeint. Ich bitte Sie doch um etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Glauben Sie mir, wenn ich das bißchen Humor nicht besäße – nicht zum Aushalten wär's, so Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr von einem Jammer zum andern laufen müssen. Und wenn es von irgend welchem Eindruck auf einen ohnedies verlorenen Ketzer wäre, dann wollte ich Ihnen alles in allem versichern: Herr Jonas Eisenhut, hier ist Gelegenheit zu einem guten Werk! Verstanden?«

»Ich bin ja schon bereit!« rief Eisenhut gerührt. »Morgen reite ich nach Moos. Aber ich weiß freilich noch gar nicht, ob man dort überhaupt meine Dienste begehrt.«

»Einerlei, ob man will oder nicht. Sagen Sie nur, ich habe es angeordnet: Alle Tage, Eisenhut – drei Stunden lang, Punktum. Gott befohlen, und meinen Dank im voraus. Wie steht's mit der Verdauung?«

»Ausgezeichnet, Sie Wundertäter! Ich bin Ihnen zu immerwährendem Danke für Ihre Wohltat verpflichtet.«

»Nun also – geben Sie's weiter!«

*

270 In einem großen Garten vor dem Tore stand das Haus, das der alte Archivar mit seiner Schwester zur Miete bewohnte. Zu ebener Erde hatte die Besitzerin drei Stübchen inne. Eine steile, enge Stiege führte ins obere Stockwerk, das vier Zimmer und eine Küche umfaßte. Ganz oben, unter dem Dache, hatte die Magd ihre geräumige Kammer.

Es war ein echtes Gartenhaus: Im Frühling gebettet in blühende Bäume, umzwitschert von Vögeln, umduftet von Rosen. Im Sommer versunken im undurchdringlichen Grün der Blätter, übersponnen mit Weinlaub. Und an hellen Wintertagen umleuchtet vom blinkenden Schnee.

Die Geräte in der geräumigen Wohnstube stammten aus dem Anfang des Jahrhunderts. So manches mochte ererbt sein. Anderes wieder war bei Gelegenheit mit liebevollem Bedacht und feinem Geschmacke dazu gekauft worden. Nichts Modernes störte das einfache, zierliche Gesamtbild.

Drei Fenster, über Eck nach Westen gelegen, gewährten dem Lichte reichlichen Einlaß, und hinter dem schneebeladenen Gewirre der Äste und Zweige stand, purpurrot aus dem Nebelflor des Spätnachmittages leuchtend, mächtig groß die Scheibe der Sonne.

An den Wänden hingen viele Holzschnitte, alle in gelben polierten Rahmen mit aufgelegten schwarzen Quadraten auf den Ecken, Zeichnungen von Ludwig Richter, Schwind und Rethel. Von der Längswand mit dem steiflehnigen Sofa grüßte Leonardo da Vincis Abendmahl in dem Stahlstich, der Karl dem Vierten von Spanien gewidmet ist.

Vor dem Sofa stand der gedeckte Kaffeetisch mit gutem Porzellan und silbernen Kännchen, Dosen und Körbchen und dazwischen ein japanischer Kasten mit goldumgürteten Weihnachtszigarren.

In einer Ecke glitzerte der deckenhohe Weihnachtsbaum, über und über behängt mit kleinen, goldenen Sternen, 271 besteckt mit weißen Lilien, und von Zweig zu Zweig übersponnen mit silbernen Fäden.

Im tiefen Lehnstuhl, auf dem Antritt eines Fensters, saß die gelähmte Schwester des Archivars. Ihre kümmerliche Gestalt war in Kissen gebettet, ihre Hände waren mit einem Strickzeug beschäftigt, und über ihr schneeweißes Haar und ihr kleines, faltiges Antlitz goß die sinkende Sonne einen rosigen Schimmer.

Auf dem Sofa hinter dem Kaffeetisch saßen, in die tiefen Ecken gedrückt, jeder mit Rauchen beschäftigt, der Archivar und sein Gast.

Alles in dieser Stube, sogar die Gelähmte am Fenster, war auf weihnachtliches Behagen gestimmt. Nur der alte Herr in seiner Ecke schnitt ein verdrossenes Gesicht, und die Art und Weise, wie er seine Zigarre achtlos paffend vertilgte, deutete auf mühsam unterdrückte Erregung.

»Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie jetzt auch noch die Glasindustrie des bayerischen Waldes eingehend studieren?« fragte er nach einer längeren Pause.

»Gewiß! Wie Ihnen bekannt ist, war ich jüngst in den Münchener Archiven und auf der Trausnitz ob Landshut und habe allerorten überreichen Stoff zu meiner Arbeit gefunden. Schon die flüchtige Durchsicht und das Verzeichnen der Akten und Urkunden hat mich tagelang beschäftigt. Und jetzt beabsichtige ich, mir alles nach und nach hierher schicken zu lassen, und bitte Sie, wie so oft schon, um Gastfreundschaft in Ihren heiligen Gewölben.«

»Und das alles zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?« lautete die fast feindselige Antwort.

Verwundert hob Jonas den Kopf und blickte in die andere Ecke hinüber: »Zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung, wozu denn sonst?«

»Der bayerische Wald gehört aber doch gar nicht mehr zu Ihrem Forschungsgebiet?«

272 »Sie wissen wie ich, Herr Archivar, daß die Glasindustrie in der alten Oberpfalz von geringer Bedeutung gewesen ist. Demzufolge mußte in meiner Wirtschaftsgeschichte dieses Kapitel äußerst dürftig ausfallen. Die eigentliche Heimat der Glasbläser sind die Landstriche nördlich der Donau, ist der bayerische Wald, der Böhmerwald gewesen. Deshalb muß ich zum Vergleiche unbedingt auch dieses nachbarliche und ursprüngliche Gebiet in den Bereich meiner Forschungen einbeziehen. Schon ein flüchtiger Blick in die Akten hat mir gezeigt, welch fürchterlicher Raubbau dort lange Zeit getrieben wurde, und wie die Wälder auf weite Strecken vor den wandernden Glashütten her in Rauch aufgegangen sind. Das alles ist kulturgeschichtlich von großem Belange, alles, einschließlich der Naturgeschichte der paar Familien, welche die ganze Industrie in Händen hatten, infolge ihres Wohlstandes eine wahre Herrenrolle spielten, gleich den europäischen Fürsten und den altbayerischen Bierbrauern immer wieder ineinander heirateten und in endlosen Gastereien die derben Freuden des Daseins bis auf die Hefe genossen.«

Jonas Eisenhut hielt inne und wartete auf freudige Zustimmung. Der alte Herr aber paffte ärgerlich und rief endlich aus einer dicken Wolke heraus: »Und wenn Sie damit fertig sein werden –?«

»Dann werde ich eine fränkische Wirtschaftsgeschichte in Angriff nehmen«, lautete die harmlose Antwort.

»Und das alles zu welchem Zweck?« fragte der Archivar zum zweiten Male. Und ohne zu warten, fuhr er fort: »Einzig und allein zu dem Zwecke, daß die beschriebenen Papiermassen in Ihrer Höhle ins Ungemessene wachsen. Herr – ich frage Sie, ist das wissenschaftlicher Betrieb? Und ich sage Ihnen: Nein und dreimal nein, es ist wissenschaftliche Hamsterei; eigensüchtige, neidische Hamsterei, weiter nichts!«

»Aber verehrter Herr Archivar!« unterbrach ihn Eisenhut.

273 »Nichts da!« rief der alte Herr. »Es muß jetzt heraus; denn es würgt mir schon lange beinah den Hals ab. Erlauben Sie, daß ich Ihnen einmal gründlich den Text lese. Meine gute Schwester hört ja gar nichts davon; denn sie ist bekanntlich taub. Also: Wann ist Ihre Dissertation aus der Presse gekommen? Warum habe ich noch kein Pflichtexemplar für meine Amtsbibliothek erhalten?«

»Weil ich die Handschrift niemals in eine Druckerei gegeben habe«, sagte Jonas kleinlaut.

»Ich verstehe – Sie werden also doch in Bälde das ganze Werk veröffentlichen und haben nur deshalb vermieden, den kleinen Ausschnitt vorweg zu nehmen?«

»Ich denke gar nicht daran.«

»Also werden Sie Ihr ganzes Leben lang so weiterforschen und weiterschreiben, und das Ergebnis wird sein, daß nach Ihrem seligen Ende ein lachender Erbe Ihre kostbaren Manuskripte an eine Käsehandlung verkauft! Da darf ich Ihnen denn doch ein Bedenken nicht vorenthalten: Einzig und allein zum Privatvergnügen eines Benützers sind die staatlichen Archive nicht vorhanden. Wer seit mehr als fünfzehn Jahren unsere Hilfe so in Anspruch nimmt wie Sie, der verpflichtet sich zugleich stillschweigend zur Veröffentlichung des Ergebnisses.«

»Sie werden doch nicht –?« rief Eisenhut erschrocken.

Der Archivar zuckte die Achseln: »So sagen Sie mir wenigstens das eine – warum haben Sie denn eigentlich im Frühjahr den Doktor gemacht?«

Jonas wurde sehr rot und stotterte verlegen: »Ach damals – ja, das war etwas anderes – da verfolgte ich allerdings einen Zweck –«

»Und heute?« drängte der Archivar.

»Heute will es mir als vollkommen zwecklos erscheinen.«

»Und darf ich Ihnen sagen, warum?« fragte der Archivar, und seine Stimme klang nun auf einmal ganz milde.

274 »Ja – nein – ich weiß doch nicht!« stotterte Eisenhut und legte seine Zigarre in den Aschenbecher.

»Auge in Auge, lieber junger Freund! Weil Sie damals an eine Frau Doktorin gedacht haben.«

Eisenhut hatte die Hände über den Knieen gefaltet und nickte schwermütig.

»Und weil Sie damals um das Fräulein Titus werben wollten«, fuhr der Archivar fort. Und auch er legte seine Zigarre weg.

»Ich habe geworben!« rief Eisenhut mit zuckenden Lippen.

»Sie haben geworben?« fragte der Archivar. »Und –?«

»Oh, lieber, väterlicher Freund –!« seufzte Eisenhut und neigte sein Antlitz. Dann aber raffte er sich zusammen: »Es ist gut so. Sie haben die eine Hälfte erraten; Sie sollen auch die andere Hälfte erfahren. Vielleicht wird mir dann leichter zumute als all die Zeit her.«


Die Sonne war längst untergegangen, in tiefer Dämmerung standen die schneebedeckten Bäume. In der Fensternische schlief die Gelähmte, und auf dem Sofa erzählte Jonas Eisenhut dem alten Manne mit stockender Stimme das Erlebnis vom Pfingstsonntag dieses Jahres. –

»Und das nennen Sie werben?« sagte der Archivar endlich.

»Die Abweisung war vor der Werbung gekommen«, erwiderte Eisenhut.

»Wissen Sie denn wirklich, ob das eine Abweisung war?«

»Was denn?« fragte Eisenhut mit tonloser Stimme.

»Jedenfalls hätte ich nicht eher geruht, lieber Freund, als bis mir entweder ein bündiges Ja oder ein bündiges Nein geworden wäre.«

Jetzt richtete sich Eisenhut in seiner Ecke empor und sagte mit ganz veränderter Stimme: »Nein, Herr Archivar, einen Korb einzustecken – dazu bin ich zu stolz. Die Aussprache 275 mit Ihnen hat mir das Herz erleichtert. Es ist mir, als sähe ich jetzt noch klarer als vordem. Und ganz unbefangen vermag ich morgen dem armen Major meine Dienste anzubieten. Das ist der Segen für meine Zurückhaltung. Aber wenn es Ihnen genehm ist, reden wir nicht weiter von dem allen. Und vielleicht geben Sie mir sogar recht, wenn ich mein Leid lieber in einer Ihnen unnütz erscheinenden Arbeit ertränke als in Bier oder Wein, und entziehen mir Ihre archivarische Gunst nicht.«

»Unnütze Arbeit?« murrte der Archivar und bot ihm die Hand. »Ich wünschte nur, daß Sie Ihre wertvolle Arbeit nicht in Ihren Truhen verschlössen. Im übrigen – Sie könnten ja für alle Fälle die Gesamtheit Ihrer Manuskripte dem Archive testamentarisch vermachen –?«

»Das wäre ein Gedanke!« rief Eisenhut.

»Ich aber will jetzt die Lichter am Christbaum anzünden – und die Hoffnung gebe ich noch immer nicht auf.«

Er verschwieg, welche Hoffnung er nicht aufzugeben gewillt sei. 276

 


 


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