August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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16. Frühling.

Es war an einem sonnigen Nachmittag im April, als der Archivdiener dem Amtsvorstand meldete: »Seine Exzellenz wünschen abzureisen.«

Und schon trat der schlanke Herr mit dem wehenden Backenbart und dem Monokel über die Schwelle.

»Herr Archivar, ich komme, mich zu verabschieden!« Er streckte dem alten Herrn beide Hände entgegen.

Höflich rückte auch dieser mit einer Hand heraus, und der vornehme Archivgast schüttelte sie heftig.

»Darf ich Exzellenz bitten, Platz zu nehmen?«

»Einen Augenblick – sehr verbunden. Werde aber Ihre kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen.« Und schon saß er mit übergeschlagenen Beinen und umklammerte sein spitziges Knie.

»In der Tat, Herr Amtsvorstand, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, ich habe noch in keinem Archive solches Entgegenkommen gefunden. In den meisten Archiven werden einem Familienforscher die Register vorgelegt, und dann heißt es einfach – such dir selber zusammen, was du brauchst! Sie dagegen, wohl der beste Kenner der oberpfälzischen Adelsgeschichte, – Ihre Zusammenstellung des gesamten archivalischen Stoffes auf Foliobogen ist geradezu vorbildlich. Drei Tage habe ich nun bei Ihnen gearbeitet, bin vollkommen orientiert und kann mir nach Belieben diese und jene Stücke zur Benützung nach München schicken lassen. In Ihrem Archive herrscht eine musterhafte Ordnung. Ihr Amtsbetrieb ist großartig. Ich werde nicht verfehlen, bei allernächster Gelegenheit an maßgebendster Stelle meiner Bewunderung Ihrer Tätigkeit lebhaften Ausdruck zu verleihen.«

Der Archivar hatte den Wortschwall schweigend über sich 286 ergehen lassen. Jetzt verneigte er sich leicht und sagte höflich: »Es freut mich, wenn Exzellenz vom Ergebnis Ihrer Forschung befriedigt sind.«

»Hochbefriedigt, Herr Archivar! Nun aber noch eine Kleinigkeit, die ich mit Ihnen zu besprechen wünsche.«

»Ich stehe Exzellenz zu Diensten.«

»Die Vorbedingungen zum Eintritt in den höheren Archivdienst sind mir natürlich bekannt: juristisches Universitätsexamen oder philologisches Staatsexamen oder Doktorexamen, einerlei ob Jus oder Philosophie. Dann dreijährige Archivpraxis und endlich eine staatliche Prüfung in archivalischen, juristischen und historischen Disziplinen. Gut. Wären Sie unter Umständen bereit, einen jungen Mann als Archivpraktikanten bei sich aufzunehmen?«

»Unter Umständen – warum nicht, Exzellenz? Das erste Jahr der Praxis kann auch an einem äußeren Archive geleistet werden. Dann allerdings –«

»Ich weiß es, dann muß er nach München. Und Sie wären in der Tat bereit? – Famos, ganz famos! Also hören Sie gefälligst: der Sohn eines Vetters von mir, eines sehr hohen bayerischen Beamten, ebenfalls oberpfälzischer Adel, hat – ich spreche ganz offen – jüngst nach einer Studienzeit von sechzehn Semestern mit Ach und Krach das juristische Universitätsexamen bestanden. Er hat leider etwas flott gelebt, wurde deshalb auch krank, erlitt eine kleine Einbuße seiner geistigen Fähigkeiten und soll nun – ich spreche ganz offen – soll untergebracht werden.«

»Untergebracht werden«, wiederholte der Archivar gedehnt.

»Gewiß. In einem staatlichen Berufe, der unter Umständen – ich bitte mich ja nicht mißzuverstehen – nicht allzu große Anforderungen an den Mann stellt. Auf einer Insel gleichsam im Getriebe der Staatsverwaltung. Und da haben wir in erster Linie ans Archiv gedacht.«

287 »Sehr gütig, Exzellenz«, sagte der Archivar.

Abwehrend streckte ihm der hohe Beamte die inneren Handflächen entgegen. »Bitte wiederholt, mich nicht mißzuverstehen. Weiß sehr wohl, welches Maß von Gelehrsamkeit, welchen Scharfblick, welche Findigkeit ein richtiger Archivar besitzen muß. Aber Sie wissen ebensogut wie ich, daß diese Anforderungen durchaus nicht an alle gestellt werden, gestellt werden können, – daß – –«

»Sehr wohl, Exzellenz, daß es solche und daß es solche, daß es Arbeitsbienen und daß es Drohnen gibt – bei uns ebenso wie in andern Ämtern.«

Die Exzellenz biß sich auf die Lippe. »Gewiß, wie überall – nur dürfte es beim Archiv nicht so auffallen; denn Ihre Arbeit vollzieht sich eben doch mehr oder minder unter Ausschluß der breiten Öffentlichkeit. Also, daß ich mich kurz fasse: es käme vor allem darauf an, den jungen – übrigens recht gutmütigen – Mann unauffällig in die Archivpraxis zu bringen und ihm für seinen Abgang nach Jahresfrist und für den Übergang zur Archivhauptstelle ein möglichst wohlwollend gehaltenes Zeugnis zu sichern. Das übrige würde sich dann von selbst finden; da wäre uns nicht bange. Und zu diesem Zwecke erscheint mir und dem, ich betone, außerordentlich einflußreichen Vater meines Schützlings vor allem andern Ihr Archiv und Ihre Persönlichkeit geeignet zu sein.«

Der Archivar saß stocksteif und antwortete nichts.

»Wären Sie nun geneigt, uns in unserer – ich rede ganz offen – nicht geringen Verlegenheit die Hand zu bieten?« fragte die Exzellenz mit gewinnender Freundlichkeit.

»Nein!« sagte der Archivar.

Die Exzellenz glaubte, nicht recht verstanden zu haben, legte die Hand hinters Ohr und fragte: »Wie beliebt?«

»Nein!« wiederholte der Archivar.

288 »Und warum nicht, wenn die Frage erlaubt ist?« Die Exzellenz klemmte das Monokel fester ans Auge.

»Weil staatliche Ämter keine Pfründen für Faulpelze oder für Minderwertige sein dürfen. Gewiß, auch ins Archivwesen sind schon wiederholt solche Leute eingeschmuggelt worden. Aber diese Rasse ist denn doch im Aussterben begriffen. Ich biete meine Hand nicht zur Züchtung eines Nachwuchses. Jeder Beruf erheischt Hingabe und Gewissenhaftigkeit. Auch der Beruf eines Scherenschleifers. Der Beruf eines Archivars macht hier keine Ausnahme. Im Gegenteil: eben deshalb, weil unsere Arbeit vielfach Forschungsarbeit ist, kann sie im einzelnen gar nicht so genau kontrolliert, in ihren Ergebnissen keineswegs an der Stundenelle gemessen werden, wie Amtsarbeit anderer Art. Und folglich müssen Archivleute auch besonders gewissenhafte Menschen sein – ob sie nun in leitender Stellung amtieren oder die in ihrer Art ebenso wichtigen Geschäfte eines Amtsdieners besorgen. Dies, Exzellenz, ist meine Auffassung von Standesehre im allgemeinen und von Archivarspflicht im besonderen.«

Die Exzellenz schnellte aus der Tiefe des Lederstuhles empor. Über einem verbindlich lächelnden Munde zitterten zwei Nasenflügel, und über diesen stachen zwei schwarze Augen zornig auf den Archivar. Aber wie vordem, im Tone gewinnender Freundlichkeit, sagte er: »Ihre Ausdrucksweise hat wenigstens den Vorzug rückhaltloser Deutlichkeit. Im übrigen – nochmals meinen Dank für die Förderung meiner Studien.«

Der Amtsvorstand gab dem Archivgast das Geleite bis an die Haustüre.

Da, zwischen den hohen Aktengestellen, äußerte die Exzellenz plötzlich, halb rückwärts über die Schulter, in ausgeprägten Nasaltönen: »Wie gesagt, ich bewundere Ihre eminente Kenntnis der oberpfälzischen Adelsgeschichte; 289 bewundere sie doppelt und dreifach, nachdem doch vermutlich weder eigene Herkunft noch persönliche Beziehungen zu unsern Kreisen solche genealogischen Liebhabereien einigermaßen erklärlich machen.«

Nun flammte es auch in den blauen Augen des alten Mannes zornig auf. Nur einen Blick lang. Beide Herren standen an der Türe, und der Archivar sagte mit der ihm eigenen Gelassenheit: »Da haben Sie ganz richtig gesehen, Exzellenz. Mein seliger Vater ist Königlich bayerischer Landrichter gewesen, schlicht und recht, und eines fränkischen Bauern Sohn. Und so darf ich mit Doktor Martin Luther bekennen: ›Mein Großvater und mein Ahnherr sind Bauern gewest‹. Und wenn ich nun so über den oberpfälzischen Adel hinblicke, dann sehe ich eben natürlicherweise auch nur mit den Augen eines Bauern, der vor seinem Kartoffelfelde steht, und mache mir dieselben Gedanken wie dieser.«

Seine Exzellenz hatten die Hand auf dem Drücker und fragten hochmütig, halb rückwärts: »Wie beliebt?«

Mit einer höflichen Verbeugung antwortete der Archivar: »Das Beste liegt unter der Erde.«

Das Monokel fiel jählings herab und baumelte längelang an seiner Schnur. Der hohe Gast riß die Türe auf, schnarrte ein ›Gutentag‹ und entwich.


Ein paar Augenblicke später wurde die Kuhglocke gezogen.

»Ei, sieh da, Fräulein Titus! Sie sind in der Stadt? Ich schätze, das ist ein gutes Zeichen. Wie geht's denn zu Hause?«

»Gut, Herr Archivar!« rief sie und streckte ihm die Hand entgegen.

»Gut? Das ist ein Wort. Also herein, wenn ich bitten darf!«

Und nun saß Liselore Titus in dem tiefen Lederstuhl neben dem Arbeitstische.

290 Ihre Augen lachten, ihre Wangen waren leicht gerötet: »Er hat's überwunden, Herr Archivar!«

»Seit wann?«

»Sie wissen ja, daß er schon seit einiger Zeit wieder Interesse für seine Bücher zeigte. Oh, wie habe ich die alten Scharteken gesegnet, die mir früher ein Greuel waren! Und heute vormittag nun kam er plötzlich zu mir in die Wohnstube, strich mir –« sie wandte sich ab und kämpfte mit dem Weinen. »Entschuldigen Sie, meine Nerven sind ein wenig mitgenommen. Strich mir über das Haar und sagte ganz im alten Ton: ›Liselore, ich glaube, es ist jetzt vorbei. Es ist mir vorhin auf einmal gewesen, als fiele langsam ein Schleier, der mich ganz umhüllt hatte. Ich hatte das körperliche Gefühl, als löste sich eine Erstarrung. Gelt, armes Kind, ich bin die Zeit her oft recht unliebenswürdig gewesen?‹«

»Sie haben beide unsäglich gelitten«, sagte der Archivar tief bewegt. »Aber Sie haben das Schwere mutig getragen, Fräulein Titus. Ich habe es von Eisenhut gehört.«

»Eisenhut!« rief sie mit leuchtenden Augen. »Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn zurechtgekommen wäre. Hat er Ihnen auch das Erlebnis jener Nacht erzählt?«

»Kein Wort; er hat mich nur im allgemeinen auf dem laufenden erhalten.«

»Das kann ich mir denken – er ist das verkörperte Zartgefühl. Aber damals« – sie faltete schaudernd die Hände. »In Ihre verschwiegene Seele darf ich ja auch dieses erzählen – so gut wie in die eines Arztes. Es war eine greuliche Sturmnacht im März. Ich hatte mir schon längst heimlich in der Stube der Magd ein Bett aufgeschlagen. Heimlich; denn der Vater durfte ja nichts davon ahnen. Wir ließen immer die Türe auf den Gang hinaus offen stehen und hörten, wenn alles ruhig war, das Atmen des Schlafenden im schräg gegenüber liegenden Zimmer. Wir wachten 291 abwechselnd, jede von uns zwei Stunden. Da, in jener Nacht, es war eben die Reihe an Franzi, ich lag angekleidet in tiefem Schlafe und draußen tobte der Sturm, rüttelte mich die Getreue empor und lief in den Gang hinaus. Barmherziger Gott, der Vater! Ich rannte ihr nach und sah, wie sie sich vorn bei der Stiege an den Vater hängte und ihn zurückzuhalten suchte. Er stand mit der schwankenden Kerze in der Hand und suchte sich frei zu machen. Aber die Getreue hielt ihn fest, bis ich neben ihm war. ›Bring mich zu Eisenhut!‹ keuchte er in schrecklicher Erregung. ›Sofort! Hörst du?‹ – ›Vater, du mußt dich erst völlig ankleiden.‹ – ›Dann her mit dem Mantel, aber geschwind!‹ – Ich weiß nicht, wie wir aus dem Hause, durch Regen und Sturm ins Dorf gekommen sind. Wir wußten ja genau, wo die Fenster seiner Stube lagen. Er hatte sich zu ebener Erde eingemietet. Zum Glück. Er kam auf unser Pochen, führte den plötzlich willenlos gewordenen Vater zurück und brachte ihn zu Bett. Der Kranke griff nach seiner Hand, hielt sie krampfhaft fest, führte wirre Reden, klagte über einen schrecklichen Traum, der ihn aufgeweckt habe, wurde zusehends ruhiger und schlief nach kurzer Zeit ein wie ein Kind. Es geht eine seltsam beruhigende Kraft von diesem stillen Menschen aus. Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn über diese Monate gekommen wäre. Nun schläft er seit jener Nacht neben der Stube meines Vaters, der treue, treue Mensch.«

»Recht so, Fräulein Titus, der treue, treue Mensch,« sagte der alte Herr und blickte sie unverwandt an. »Und ein liebevoller Mensch! Sollte Ihnen das entgangen sein? Wohl dem Schifflein, das in solche Liebe seinen Anker senken dürfte!«

Ihr bleiches Antlitz rötete sich, und ihre Augen schwammen in Tränen. Aber sie senkte den Blick nicht, als sie antwortete: »Sie könnten wohl recht haben.«

Der Archivar wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus 292 in den zartsprossenden Frühling des Gärtleins. Dann fuhr er fort: »Nicht wahr, es ist doch ein wundervolles Gefühl, wenn man aus einem so tiefen Tal emporsteigt, plötzlich auf dem Gipfel steht und geblendet vom Glanze der aufgehenden Sonne die Augen schließen muß?«

Liselore nickte. Dann aber sagte sie nachdenklich: »Allerdings greifen noch immer die schweren Schatten herein. Vater ist genesen, aber die alten Sorgen, von denen Sie wissen, sind unterdessen nicht kleiner geworden.«

»Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte der alte Herr, strich seinen weißen Bart und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Wissen Sie was, Fräulein Titus? Sie müssen ihm die Sorgen abnehmen, Sie müssen sich auf eigene Füße stellen!«

»Auf eigene Füße?« Sie lächelte schmerzlich. »Wie könnte ich das? Wie dürfte ich unter solchen Umständen meinen Vater verlassen?«

»Verlassen? Wer spricht davon? Aber haben Sie vielleicht dazwischen die Muße gefunden, ein wenig in dem alten Klosterbuch zu lesen?«

»Ich habe nicht nur dieses gelesen – ich habe auch alles, was Sie mir sonst noch geliehen haben, mit der Feder in der Hand durchgearbeitet,« rief sie lebhaft. »Und ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet; denn auch diese Bücher haben mir bei Tag und Nacht über manche schwere Stunde hinweggeholfen.«

»Und –?« Er beugte sich vor und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich – ich habe auch versucht, die schöne Sage –«. Sie errötete, öffnete ihren Armbeutel und brachte eine Papierrolle zum Vorschein. »Hier, Herr Archivar – und daran sind Sie schuld, nur Sie.«

Der Archivar streifte das blaue Band ab und strich glättend über die gerollte Handschrift: »Bravo, Fräulein Titus, bravissimo!«

293 »Ich dächte, Sie sollten es erst lesen,« bat sie schüchtern.

»Bravo, bravissimo!« wiederholte der alte Herr. »Und Sie geben mir das volle Verfügungsrecht über die Handschrift?«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie erschrocken.

»Ei, das volle Verfügungsrecht. Wenn es nichts ist, dann erhalten Sie's morgen zurück. Wenn es aber etwas ist – ich kenne den Schriftleiter eines bedeutenden Wochenblattes, er ist nebenher eifriger Familienforscher und mir zu einigem Dank verpflichtet. Es kostet mich ein paar Zeilen an ihn. Schlagen Sie ein!«

Zögernd legte sie die Rechte in seine Hand. »Aber Sie haben's ja noch gar nicht gelesen!«

»Allerdings,« lachte er, »deshalb auch mein Vorbehalt. Entweder Sie haben es morgen mittag wieder in Händen oder –!«

»Es ist mir wahrhaftig ängstlich zumute.«

*

Am nächsten Mittag erhielt Fräulein Titus mit der Post einen Brief:

›Morgen geht das Manuskript nach Leipzig! Und Sie wollten auch nur einen Augenblick an Ihrer Zukunft verzagen?‹


Zu gleicher Zeit saß der Archivar auf dem Sofa in seiner Wohnstube, rauchte eine von den goldumwundenen Weihnachtszigarren, nippte an seiner Kaffeetasse und las zum zweiten Male die Novelle. 294

 


 


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