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21.

Geradeaus von den Witzbergs begab sich Augustinowicz ins Spital, wo er die ganze Nacht verblieb. Schwarz befand sich schlecht, sehr schlecht. Der Typhus hatte sich dieses kräftigen Organismus bemächtigt und drohete ihn ganz zu vernichten gegen Mitternacht fing der Kranke zu delirieren an, sprach mit sich selbst und disputierte dann hartnäckig über die Unsterblichkeit der Seele mit einem schwarzen Kater, den er am Bettrande sitzen sah. Es schien, als ob er den Tod fürchte, denn es malte sich auf seinem Gesichte einige Male eine unendliche Angst. Er fürchtete sich und zitterte sichtbar bei jeder Berührung Augustinowiczs, manchmal sang er mit bebender Stimme und gleichsam wie im Schlafe verschiedene heitere und traurige Lieder oder unterhielt sich mit Bekannten. Es lag sogar ein erschütternder Humor in dem natürlichen Tone dieser Gespräche. Augustinowicz, der schon durch die Vorfälle der frühern Tage ganz verstört war, regte das furchtbar auf. Mit bangem Sehnen sah er dem Morgen entgegen und blickte öfters durch die Fensterscheiben, die wie zum Trotze immer gleich schwarz waren. Draußen herrschte tiefe Finsternis und ein Sprühregen, der an die Scheiben spritzte, erfüllte das Spitalstübchen mit einem monotonen und unangenehmen Klange. Schon lange waren in dem Kopfe Augustinowiczs nicht so düstere Gedanken wie in diesem Momente aufgetaucht. Die Ellbogen auf die Kniee gestützt und das Antlitz mit der flachen Hand bedeckend, dachte er über das wunderliche und bittere Gewirre von Ereignissen in den letzten Tagen nach. Zuweilen erhob er den Kopf und warf einen wachsamen Blick auf den Kranken; manchmal schien es ihm, als ob auf die vertrockneten scharfen Züge Schwarzens das Dunkel des Todes falle. Augustinowicz bedachte, dass dieser Mensch, der vor kurzem erst so tätig und weitgreifend gelebt, in ein paar Tagen vielleicht nur eine tote Masse sein werde, die man in die Erde vergräbt und ... finita la Comedia! Ach! ein alltäglicher, ein gewöhnlicher Gedanke und täglich gleich bitter für die, die so denken müssen: Ende! ... Staub! ... Und doch, als er mit seinem vollen Leben lebte, urteilte er, wählte, wirkte er vielleicht tatkräftiger als die anderen. Wie der Pflug den Acker aufwirft, so holte er aus dem Lebensgrunde von den Schichten des Guten und Bösen das Gute und ...? Unwillkürlich fragt der Mensch nach dem moralischen Sinne dieses Märchens. Wo, wann, auf welchen Sternen, auf welchen Planeten findet sich die Grabesantwort für die Lebenden? Unsterblichkeit! ... In dem Ozeane der menschlichen Taten leben vielleicht irgend welche moralische Atome der Taten des Verstorbenen, aber jenes mächtige, energische, sich selbst bewusste Ich – wo ist es? Und jene Tatenatome, sie gleichen der Leiche des Matrosen, der vom Schiffe in den Meeresgrund versenkt wird. Wo sind sie zu suchen und wer findet sie? fängt Gott einmal einige dieser userlosen Wellen auf und schafft aus ihnen neue, sich selbst bewusste Wesen? »si non è vero, è bene trovato!«

Die Bitterkeit dieser Gedanken lagerte jetzt auf der schläfrigen Stirne Augustinowiczs und indessen begannen die schwarzen Scheiben grau zu werden ... Es brach der Tag an. Der Schein der Kerze im Stübchen, anfangs rosig, wurde nach und nach schwächer, die Gegenstände begannen sich aus dem Schatten hervorzuheben, auf den Korridoren wurden schon die Schritte der Spitaldiener hörbar. Nach einer Stunde trat der Arzt ein.

– Wie geht's dem Kranken? fragte er.

– Schlecht, – erwiderte Augustinowicz kurz. Der Doktor schob mit Ernst die Unterlippe vor, runzelte die Stirne und fühlte dem Kranken den Puls.

– Was glauben Sie? – fragte Augustinowicz.

– Was ich denke?! Ich denke gar nicht – es ist schlimm, sehr schlimm!

Über das Gesicht Augustinowiczs flog ein ironischer Zug.

– Aber ich denke etwas, Herr Professor, ich denke nämlich, dass die Medizin ein gar tölpelhaftes Kind, das meint, es brauche sich nur bei den Fersen zu fassen, um sich in die Höhe zu heben – ist's nicht so?

Der Doktor wiegte ein paar Mal den Kopf, verschrieb irgend eine kühlende Arznei und ging. Augustinowicz warf einen Blick aufs Rezept, wiegte seinerseits den Kopf, zuckte mit den Achseln und setzte sich wieder ans Bett. Gegen Abend verschlimmerte sich der Zustand des Kranken noch – gegen Mitternacht war er fast sterbend. Augustinowicz weinte wie ein Kind und schlug den Kopf an die Wand der Zelle. Dann wachte er wieder die ganze Nacht am Krankenbette. Gegen Morgen schien er eine leichte Besserung zu bemerken, aber es war nur Täuschung. Es zeigten sich am Körper weiße und rote Flecke, was eben diesen Typhus charakterisierte. Gegen Abend kam Frau Witzberg, Augustinowicz gestattete ihr nicht, in die Krankenzelle einzutreten. Aus seinem Gesichte ersah sie, dass etwas Schreckliches eingetreten sein müsse.

– Lebt er?! – rief sie aus.

– Er stirbt! – erwiderte er kurz.

Einige Stunden darauf gab der Krankenhauskaplan dem Kranken die letzte Ölung. Augustinowicz hatte nicht die Kraft, diesem religiösen Akte beizuwohnen, er lief in die Stadt. Er musste seine Gedanken sammeln, er musste aufatmen; er fühlte, dass auch ihm die Gedanken sich zu trüben begannen – wahrscheinlich störte die Agonie Schwarzens ihr Gleichgewicht. Er hatte alles erwartet, nur nicht, dass Schwarz sterben werde. Er wusste selbst nicht, wohin er lief. Einige Male hielt er inne, wie aus Furcht zu spät zurückzukommen. Plötzlich tauchte ihm ein Gedanke im Kopfe auf. Er bemerkte, dass er vor Helenens Wohnung stehe.

– Ich gehe hinein. Sie soll von ihm Abschied nehmen. Eine halbe Stunde darauf kniete Helene an Schwarzens Krankenlager. Ihre aufgelösten Haare lagen in breiten Flechten auf dem Bette; mit den Händen hatte sie die Füße des Kranken umfasst, ihr Gesicht ruhete auf ihnen. In der Spitalzelle herrschte Grabesstille, man vernahm bloß den beschleunigten, abgebrochenen Atem des Kranken. So verfloss die lange, furchtbare Nacht, von der jede Minute für Schwarz die letzte zu sein schien. – Endlich trat am dreizehnten Tage die Krisis ein. Der Kranke befand sich entschieden besser. An seinem Bette saßen, ohne zu weichen, Augustinowicz und Helena; diese schien an diesem Bette die ganze Welt zu vergessen. Zugleich mit dem Leben Schwarzens kehrte auch sie zum Leben zurück. Sie freute sich bis zum Wahnsinn auch über das kleinste Symptom der Besserung. Endlich kam Schwarz zum Bewusstsein. Augustinowicz war gerade abwesend; die erste Person, die er erblickte, war Helene. Der Kranke blickte sie eine Weile an; auf seiner Stirne konnte man sehen, wie er die Gedanken zu sammeln suchte. Endlich erinnerte er sich ihrer. Er lächelte. Es war dies Lächeln sichtbar ein gezwungenes, wenn auch Helena mit Freudentränen sich auf die Knie warf. Augustinowicz bemerkte jedoch, gleich bei seiner Rückkehr, dass ihre Gegenwart den Kranken beunruhige, sogar quäle. Schwarz wendete keinen Moment das Auge von ihr ab, er folgte mit den seinen jeder ihrer Bewegungen. Die gewöhnlich alten oder kranken Leuten eigene Gestikulation bewegte feine Lippen. Augustinowicz verfolgte sorgfältig das Zacken der Papillen bei Schwarz. Er ahnte nichts Gutes. Indessen vergrößerte sich wie gewöhnlich gegen Abend das Fieber, aber trotzdem entschlummerte der Kranke. Augustinowicz beredete Helene, sich, um auszuruhen, nach Hause zu begeben.

– Ich verlasse ihn nicht auf einen Augenblick – erwiderte sie mit einer bei ihr ungewöhnlichen Entschiedenheit.

Augustinowicz setzte sich schweigend auf den Sessel und versank in tiefes Nachdenken; bald wurde ihm der Kopf schwer, die Lider waren schwer wie Blei, eine unbesiegbare Schlafsucht bewältigte ihn immer mehr, er ließ den Kopf auf die Brust fallen, wiegte sich nach rechts und links und schlief ein. Nach einer Weile erwachte er.

– Er schläft? – fragte er auf den Kranken blickend.

– Er schläft, aber unruhig – flüsterte Helena leise.

Augustinowicz ließ wieder den Kopf sinken. Da erweckte ihn ein Aufschrei Helenens. Der Kranke saß aufrecht im Bette in einem heftigen Fieberanfalle; das Gesicht flammte, die Augen funkelten wie bei einem Wolfe – er streckte Helenen den abgezehrten Arm entgegen.

– Was gibt's denn?! rief Augustinowicz aus.

Helena fasste ihn konvulsivisch am Arme, er fühlte, wie sie am ganzen Körper bebte.

– Quäle mich nicht! – flüsterte mit röchelnder, abgebrochener Stimme der Kranke. – Du hast Gustav getötet, nun willst du mich töten ... Fort! ich liebe dich nicht! fort! ...

Er fiel aufs Lager zurück.

– Lula! Meine Lula! rette mich! – flüsterte er.

Augustinowicz führte Helene fast mit Gewalt aus der Krankenstube. Auf dem Korridore vernahm man eine Weile ihr hastiges Gespräch und wiederholt den Namen der Gräfin. Endlich kehrte Augustinowicz allein zurück. Er war blass, dicke Schweißtropfen rannen ihm von der Stirne – Alles ist zu Ende! – flüsterte er.

*

Helena lief davon, von der Verzweiflung gejagt. Die Worte Schwarzens und das kurze Gespräch mit Augustinowicz beleuchteten mit einem blutigen Blitzstrahle viele ihr bis jetzt dunkel gebliebene Umstände. Sie lief ziellos vorwärts. Die Gedanken brannten sie wie Feuer, ja es waren keine Gedanken mehr, sondern ein in ihrem Gehirn wirbelndes Feuerrad. Die Stadt war in der Abendstunde von Tausenden von Lichtern erhellt, überall blickten auf sie die hellen Scheiben des stillen häuslichen Herds – sie lief immer vorwärts. Auf den Straßen strömten wie immer Menschenhaufen – einige Vorübergehende schaueten sich nach ihr um; ein junger Mann sprach sie mit einem Lächeln an, zog sich aber, als er ihr ins Auge blickte, erschrocken zurück: sie lief immer vorwärts. Endlich verwandelten sich die Straßen in Gässchen, wurden leer und dunkel – in den Fenstern sah man kein Licht mehr – die dortige Arbeiterbevölkerung schlief bereits nach des Tages Glut – selten nur leuchtete eine Laterne auf, oder erschallte das Echo von Tritten. Es war eine feuchte aber ruhige Nacht, eine das Gemüt darniederdrückende Schwere hing in der Luft; vom Dniepr nur wehete es rauh; der Wassernebel legte sich in Tropfen auf die Bekleidung und das Haar Helenens. Sie lief immer vorwärts. Nervöse Zuckungen verzerrten ihr Gesicht. Trotz der Kälte schien es ihr, dass Feuer vom Himmel ihr aufs Haupt, auf Brust und Arme fiel. Diese Flämmchen schienen um sie im Kreise zu tanzen und in jedem sah sie abwechselnd die Gesichter Schwarzens und Gustavs. Sie verlor ihre Hülle, der Wind riss ihr den Hut vom Kopfe, die Feuchtigkeit löste ihre Haare. Sie fiel einige Male zu Boden. In Kürze fand sie sich allein in der nächtlichen Öde. Es schien sie nur noch das ferne Getriebe der Stadt und das Gebell der Hunde in diesem Stadtteile, durch den sie lief, zu verfolgen. Sie lief immerfort vorwärts. Sie fühlte weder Ermüdung noch Schmerz, ihre Gedanken liefen in einem Mittelpunkte zusammen und der war ihr unglückliches Los. Nicht einen Teil des Lebens hat ihr die getäuschte Liebe geraubt – für Helene war die Liebe alles, für sie hatte das weitere Dasein jeden Sinn eingebüßt. Der Liebeskelch war zerschellt. Es gab für sie kein Vergeben, wenn sie auch »viel geliebt«, es gab für sie nur Ruhe – nicht im Leben, sondern außerhalb des Lebens. Indessen lief sie immer vorwärts, doch die Kräfte verließen sie. Ihre Lippen waren verbrannt, die Augen getrübt, die Kleidung mit Kot bespritzt, von Nässe durchtränkt. Sie fiel öfter zu Boden, manchmal hob sie den Kopf in die Höhe, gierig nach Luft schnappend. Der Boden, auf dem sie lief, wurde immer feuchter. Man hörte aus der Ferne das Brausen der Wellen und das eigentümliche, halb kapriziöse, halb wehmütige Zwiegespräch der Wasserwogen. Helena hielt eine Weile am Ufer an. Plötzlich schloss sie die Augen, streckte die Arme aus und stürzte vorwärts. Gleichzeitig mit dem Plätschern des Wassers erschallte ihr kurzer, dumpfer, ihr letzter Aufschrei. Dann herrschte wieder Stille. Am Himmel war es stockfinstere Nacht.


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