Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Der russische Konsul in Leipzig, Herr Hofrat Schwarz, suchte für einen jungen angesehenen Mann einen Begleiter bis Dorpat. Seume ergriff diese Gelegenheit, um den längst gefaßten Vorsatz auszuführen, seine Freunde und ehemaligen Kriegsgefährten in Petersburg einmal zu überraschen. Diese merkwürdige Reise durch Rußland, Finnland und Schweden hat er in dem Werke: »Mein Sommer«, beschrieben, und er hat auch dieses Werk benutzt, um das Leben seiner Seele ohne Schleier darzustellen. Die Vorrede zu diesem Werke ist meisterhaft und gehört in dieser Rücksicht zu dem Besten, was die alte und neue Literatur in diesem Fache aufgestellt hat.

Die oft genug wiederholten Behauptungen Seumes waren jetzt eingetroffen, die Franzosen wurden Beherrscher des Kontinents, und er sah den Folgen in der Stille und Abgezogenheit zu. Er hatte einige Bogen Papier zusammengeheftet und den Titel: »Schmieralien« darauf geschrieben. Die verhängnisvolle Zeit brachte gewissermaßen in jedem Menschen, nach seiner Individualität, Schmieralien hervor, Zunder, welchen die Begebenheiten entzündet hatten und der bei andern bald erlosch, dem aber Seume in seiner Seele Nahrung gab und dann in sein Magazin trug, welches, nach seinem Tode, unter dem Titel: »Apokryphen« 1811 erschien. Im Jahre 1808 erschien sein »Miltiades«. Dieses Werk ist kein Spiel, bestimmt, gesehen zu werden und weichen Seelen zu Tränen zu verhelfen; es ist ein Bild für die Seele des Jünglings und des Mannes, der in Flammen für das Vaterland ausbrechen soll.

Gegen Johannis des eben genannten Jahres litt der Vielgewanderte an einer Schwäche des Fußes, welche er seit den amerikanischen Feldzügen, wiewohl ohne große Beschwerde, schon zuweilen empfunden hatte, die aber jetzt so groß war, daß er einige Wochen das Bett hüten mußte. Das war ein Vorbote der größeren Leiden, die bald über ihn ausbrachen. Am Ende des Augusts begann eine Krankheit des Unterleibs, der Blasen-Katarrh, eine Krankheit, die mit den qualvollsten Schmerzen verknüpft ist, ihm fast allen Schlaf raubte und, was noch grausamer für ihn war, ihm weder das Lesen noch das Schreiben, ja nicht einmal das Sprechen verstattete. Während dieser Pein hat er seine Trauer und seinen Trost in dem rührenden Gedicht »Kampf gegen Morbona« ausgedrückt. Möge es niemand ungelesen lassen! Sein edler Freund, der treffliche Doktor Braune, tat, was er vermochte; er linderte die Schmerzen, hob die gesunkenen Kräfte immer wieder empor und stellte ihn so weit wieder her, als es möglich war. Mit Anfang des Jahres konnte er wieder ausgehen und seine Freunde besuchen; jedoch blieb er immer schwach, weil der Same des Todes im Wachstum zwar geschwächt, aber nicht erstickt werden konnte. Die treueste Freundschaft hat für ihn während dieser Krankheit gesorgt und ihn gepflegt. Der Kaufmann Haußner ließ sich ehemals von Seume in der englischen Sprache unterrichten und nahm ihn hernach, um seinen Umgang zu genießen, in seine Wohnung auf. Mehr kann kein Bruder für den Bruder, kein Sohn für den Vater tun, als dieser Mann für seinen Freund während der ganzen Krankheit mit Delikatesse, mit Aufopferung, mit einer Art von Eifersucht gegen die Freundschaftsbezeigungen anderer getan hat.

Im Frühlinge 1810 wagte Seume ungeachtet seiner Schwäche eine Reise nach Weimar zu seinem verehrten Freunde Wieland. Dieser, erschüttert durch die Hinfälligkeit des ehemals so kräftigen Mannes und besorgt wegen einer vielleicht hilflosen Zukunft, ging zu seiner Gönnerin, der Erbprinzessin von Weimar, einer der seltenen Fürstinnen, die alle guten und edlen Menschen liebt und von allen geliebt wird, erzählte ihr Seumes Geschichte und führte den edeln Mann selbst bei ihr ein. Sie nahm sich desselben an und verlangte von ihm, daß er an ihren Bruder, den Kaiser Alexander, nach Petersburg schreiben sollte. Seume schrieb nach seiner Art wahr und würdig. Wieland fürchtete, der Ton des Briefes möchte hier und da dem Kaiser auffallend sein, die Großfürstin fand es nicht; nahm den Brief und sandte ihn selbst an ihren erhabenen Bruder ab. Der gütige Monarch bestimmte für Seume eine Pension; aber leider bedurfte er derselben nicht mehr, er hatte das Ende seiner irdischen Wanderschaft und das Ende aller Sorgen erreicht.

Nach seiner Zurückkunft von Weimar fand er seine Wohltäterin und Freundin, die Frau Elisa von der Recke, und den Dichter Tiedge, der ihn unbeschreiblich achtete und liebte, im Begriff nach Töplitz in das Bad zu reisen. Er wurde dadurch zu dem Entschlusse bewogen, ihnen zu folgen und in ihrer Gesellschaft zu versuchen, ob auch er an jener Quelle Heilung und die Kraft seines Lebens wieder gewinnen könnte. Bei seinem Abschiede übergab er dem Dr. Braune als ein Pfand seiner Liebe die Handschrift des von ihm selbst niedergeschriebenen Lebens. Wir sehen aus diesem und aus dem Gedichte »Morbona«, daß bis jetzt die Krankheit seinen Geist nicht überwältigt hatte. Ließen die Schmerzen nur etwas nach, so war sein Gespräch heiter, freundlich, lehrreich und oft witzig. Er war immer herzlich gegen die Freunde, zuweilen sanfter als gewöhnlich, aber ebenso stark und bitter als sonst gegen alle Feinde der Vernunft, des Lichts und der Humanität.

*

Gegen das Ende des Monates Mai 1810 traf Seume in Töplitz ein, wo er im Goldenen Schiffe, oder der sogenannten Töpferschenke, eine Stube bezog, welche ihm die heiterste Aussicht auf die Stadt und das Bad, von dem er noch entscheidende Hilfe hoffte, auf ein paradisisch grünendes Tal mit hohen, im Frühlingsdufte schwimmenden Bergen, aber auch auf die Stelle seines künftigen Grabes gewährte. Ganz nahe war er hier dem Fürstenhause, wo die Frau von der Recke und Tiedge wohnten, deren Umgang ihn den vorhergehenden Winter so oft zu einer wahrhaft menschenfreundlichen Heiterkeit gestimmt hatte und ihm auch nun seine letzten trüben Stunden erhellte. Auch konnte so am leichtesten aus der Küche der Frau von der Recke für seine nach einer strengen Diät angeordneten Speisen gesorgt werden, und dieses diente ihm zu keiner geringen Beruhigung, da er selbst diese Diät, wenigstens anfangs, sehr gewissenhaft hielt. Unterzeichneter, der ihn seit zwanzig Jahren kannte und schätzte, hatte seine Wohnung eine Treppe höher über ihm; bald sammelten sich auch einige andere Freunde und Bekannte um ihn her und waren daher ebenfalls im Stande, durch kleinere Dienste für ihn zu sorgen, die Seume mit williger Dankbarkeit und anfangs unter freundlichen Scherzen annahm. Ungeachtet Seume dieses Mal natürlich Pferd und Wagen bei seiner Reise zu Hilfe genommen hatte, so ward es doch bald bei Menschen aller Art in Töplitz bekannt, daß der berühmte Fußwanderer angekommen sei, um hier das Bad zu gebrauchen, und seine Ankunft sowohl als der mögliche Erfolg seiner Kur erregte allgemeine Teilnahme. Er selbst wünschte diese Kur möglichst beschleunigt. Denn die mitgebrachte nicht unbedeutende Menge von Dukaten seiner Barschaft, über welche er mit der Genauigkeit eines Finanziers häufige Revision hielt, wie auch die in seinem Taschenbuche aufgezeichneten Reiserouten und Städtenamen wiesen auf einen Lieblingsplan hin, den Rhein oder wohl gar die Schweiz zu besuchen. Leider schlugen aber bald die Äußerungen des würdigen Töplitzer Brunnenarztes, Dr. Ambrozy, den er wegen seines Zustandes um Rat fragte, seine und mit noch deutlichern Ausdrücken die Hoffnungen seiner Freunde nieder. Der Gebrauch des freilich weit wirksamem Stadtbades ward Seumen ganz untersagt und nur die Steinbäder, in dem eine Viertelstunde Weges entfernten Dorfe Schönau wurden gestattet, welche, bei günstiger Witterung gebraucht, wenn auch den Grund seiner Krankheit nicht ganz heben, aber ihm doch etwas Stärke geben, wenigstens nichts schaden würden. Die größte Schwierigkeit lag für Seume und seine Freunde darinnen, ihm ein medizinisch zweckmäßiges Getränk zu verschaffen. Das laue Trinkwasser in Töplitz ist bekanntermaßen, selbst nach seiner Erkältung, ohne Kraft und kaum trinkbar, weshalb man sich an die Biere und österreichischen Landweine oder einen selbst mitgebrachten Weinkeller halten muß. Allein alle diese Getränke waren Seumen gerade, aus medizinisch bekannten Gründen, bei seiner Krankheit verboten. Seume versuchte vom mineralischen Wasser der benachbarten Brunnenstadt Bilin zu trinken. Aber das Wasser dieses Sauerbrunnens war ihm zu schwer und vermehrte sein Übel. Im Kloster Mariaschein, eine Stunde von Töplitz, fließt das Mariabrünnlein, eine erfrischende, mit zierlicher Kuppel überdeckte Quelle, von der ich Seumen eine Flasche zur Probe mitbrachte. Allein auch diese Gabe der Heiligen wollte unserm Kranken nicht zusagen, und überdem war die Quelle zu entfernt. Seume war einmal an das Selterwasser gewöhnt, welches man anfangs aber in Töplitz vergebens suchte. Schon bemeisterte sich der Unmut unseres Freundes, und aus einer sehr gewöhnlichen Täuschung schob er alle Schuld seiner Schmerzen nicht auf seinen unheilbaren Zustand, sondern auf den Mangel des Selterwassers, an das er gewöhnt sei. Es ist eine ebenso bewährte als rührende Erfahrung, daß die Hoffnung den Menschen selbst am Rande des Grabes nicht verläßt, um ihm, wenigstens durch ihren lieblichen Schein, die finstere Wahrheit der letzten Stunden zu verschleiern. Auch Seume war davon ein Beispiel. Sein Mut fand sich nicht wenig aufgerichtet und sein Hang zur Selbständigkeit vorzüglich geschmeichelt, als ihm selbst gelang, was keinem seiner Freunde gelungen war, bei einem Krämer in Töplitz noch einige Flaschen Selterwasser aufzutreiben. Aber bald sah er ein, daß auch diese seine Panazee das verlorene Gleichgewicht seiner Natur wieder herzustellen nicht mehr imstande war. Nichtsdestoweniger brauchte er, anfangs mit aller Vorsicht, einige Steinbäder und spürte auch deren gute Wirkung. Ja selbst der Gang nach Schönau und zurück, den er bei guter Witterung zu Fuß in dem alten Reisekostüm, das wir an ihm kannten, wacker unternahm, ermattete ihn so wenig, daß er gewöhnlich seinen Mittag noch bei seiner Freundin Elise zubringen und mit ihr und Tiedge nach alter Weise über die Welt und sein Zeitalter philosophieren konnte. Zuweilen äußerte er zwar hier im Schoße vertrauter Freundschaft den in seiner Lage wohl erlaubten Wunsch, durch den Tod bald von seinen Schmerzen befreit zu werden. Ja, er gab wohl nicht undeutlich zu verstehen, daß ihn bloß um der Schwachen und Toren willen die Pflicht des Beispiels abhielte, seinem für sich, und wie er meinte, für seine Freunde beschwerlichen Zustande ein Ende zu machen. Indessen wechselte diese trübe Stimmung mit andern der Lebensliebe und Lebenshoffnung wieder ab. Gewöhnlich wird die viele Sorge, welche ein Kranker an seine Heilung zu verschwenden pflegt, ein neuer Grund der Lebensliebe. Denn wer wünschte wohl vergebens gesorgt zu haben? Dies war auch bei Seumen der Fall, so wenig er sonst, in gesunden Tagen selbst, das Gut des Lebens zu preisen gewohnt schien. Diese abwechselnden Stimmungen brachten nun freilich einige Widersprüche in seinem Betragen, zuweilen ängstliche, übertriebene Folgsamkeit gegen die diätetischen Regeln, zuweilen auch halsstarrige Unfolgsamkeit, bald stoische Geduld, bald minder stoische Wunderlichkeit hervor, weswegen er denn manche moralische, wohlmeinende Vorhaltung von seinen Freunden anhören mußte, die er mit seinen gewöhnlichen Sarkasmen oder mit einem lakonischen: Schon gut! hinnahm. Leider war er aber keineswegs bei der rauheren Witterung, die dem ersten Scheinfrühlinge folgte, dahin zu bestimmen, das Baden ganz auszusetzen. Ja, an einem mit Regen drohenden Tage erwachte der alte militärische Geist in ihm so sehr, daß er die für Kranke, freilich mit mancherlei Beschwerlichkeit und Unkosten verknüpfte einzige Transportanstalt verschmähte und seinen Weg zu Fuß antrat, welcher denn mit einem von mir nachgebrachten Regenschirme rückwärts vollendet werden mußte. »Ich bin hierhergekommen, um zu baden«, sprach er, »folglich muß ich baden und kann nicht auf die Witterung warten.« Diese traurige Konsequenz, verbunden mit der kleinen Inkonsequenz, einmal nach dem Bade, der Einladung des gastfreien Prälaten von Ossegg zufolge, sich umzuziehen, und trotz aller Erinnerung bei Tische selbst seine diätetischen Regeln alle zu vergessen – war entscheidend. Nur ein paar Mal saß er noch gebückt, in seinen Mantel gehüllt und mit aschgrauer Gesichtsfarbe, in dem gewohnten Kreise und mußte seinen Sitz bald mit dem Sofa, endlich mit dem Bette vertauschen. Er konnte nun nicht mehr aufdauern, und alles, was ihm sonst lieb gewesen war, widerstand ihm.

Gern hatte er vordem in dem Zirkel der Frau von der Recke von deren Begleiterinnen die Lieder Elisens und Tiedgens zur Gitarre oder Schillers Ideale nach Naumanns tief ins Herz dringender Komposition zum Fortepiano singen hören und den Sängerinnen durch manche Herzlichkeit, ja selbst durch manche feinere Galanterie gedankt. Einst brachte er den beiden Begleiterinnen Elisens eine Rose. – »Ich habe nicht mehr, als die eine Rose«, sagte er zu ihnen, »und ich glaube Sie damit zu ehren, daß ich Ihnen beiden nur eine gebe.« – Noch in Töplitz, wo die Anwesenheit der liebenswürdigen und talentvollen Witwe Naumanns manche Veranlassung zu musikalischen Unterhaltungen gab, war Seume ein aufmerksamer Zuhörer. Ja selbst in den letzten Tagen, ehe er sich legte, ward er einst durch die Stelle in einem von Elisens Liedern:

»Hinter jenen Sternen
Hält die Liebe Wort.«

wunderbar ergriffen. Dieser Gedanke, welchen in einem späteren Liede Schiller auf eine ähnliche Weise ausdrückt, rührte unsern düster und in sich gekehrt dasitzenden Seume so sehr, daß er mitten unter dem Gesange mit Tränen in den Augen aufstand, Elisen die Hand drückte und sagte: »Elisa, das ist ein herrlicher Gedanke!« Dieses war aber auch die letzte Äußerung unseres Freundes, die von Gefühl für die Außenwelt und für das höhere Schöne zeugte, wiewohl sie hinreichend seine Überzeugung von der Fortdauer des edleren Daseins in uns beurkundet. Man bot ihm an, als er sich schon ganz in sein Krankenzimmer zurückgezogen und verschlossen hatte, ihn wenigstens noch von ferne Musik hören zu lassen; aber er verbat es, wie auch die Besuche selbst aller Freunde, die nicht sozusagen zu seiner medizinischen Wartung angestellt waren oder ihm dabei durch Handreichungen nützlich sein konnten. Ganz schien von nun an der kräftige Geist in sich selbst zusammengerollt, hatte das äußerliche Wesen den körperlichen Leiden, ja selbst den wehmütigsten Äußerungen derselben, überlassen und verkündete sich nur noch durch den starren, aber durchdringenden, prüfenden Blick, mit dem er die Umstehenden ansah. Selbst auf meine mit möglichster Schonung und Vorsicht an ihn gerichtete Frage, ob er noch einem abwesenden oder gegenwärtigen Freunde etwas zu entdecken und aufzutragen habe, antwortete er nicht mehr verständlich, wiewohl er seinen Leipziger Arzt und vertrauten Freund Dr. Braune mit Namen nannte. Den Trost einer höhern Welt, der in den herrlichsten Sprüchen der Weisen des Altertums ausgedrückt und in einem vor seinem Sterbelager aufgeschlagenen Bande der Reisen des jüngern Anacharsis gesammelt, mehr seine trauernden Freunde erhob als sein Ohr erreichte, schien er nicht mehr zu bedürfen. Über Seumes religiöse Überzeugungen, über welche auch sein bei Göschen 1811 erschienener Nachlaß moralisch-religiösen Inhalts befriedigenden Aufschluß gibt, habe ich, sowie von einigen andern Zügen seines Charakters, bei Gelegenheit einer frühern Handschrift seiner Gedichte in der Minerva 1812 einige Worte gesprochen. Es sei mir erlaubt, die hierher gehörige Stelle zu wiederholen:

»Freilich hatte wohl die Ansicht seines Zeitalters Seumen in den spätern Jahren seines Lebens manches Symbol geraubt, das zu einer andern Zeit ihm in dem letzten Kampfe seiner Natur eine heitere, minder bittere, versöhnte Stimmung hätte geben können. Freilich sprach er wohl zuweilen in ebendem rauhen Tone mit dem Himmel wie mit seinen nächsten Freunden und glaubte vielleicht den Himmel, den er mit seinen Bitten nicht bestürmen zu wollen erklärte, ebenso dadurch zu ehren wie seine Freunde. Allein der Mann, der unter dem Sturme von Warschau, in einer Stunde, wo achtzehntausend Menschen um einer politischen Maxime willen hingeschlachtet wurden, zu Gott betete – betete auch zu Gott, als einem Ewigseienden, in seiner Todesstunde und trat mit dem letzten Seufzer über das so grausende Gemälde des niedern Lebens an die Schwelle einer richtenden, aber auch versöhnenden Ewigkeit. Eine Sterbenacht ist schon an sich feierlich, und die Nacht, wo unser Freund seinen letzten Kampf zu kämpfen begann, ward es noch mehr durch die Umgebungen, durch das tief unter dem matt erhellten Krankenzimmer im Schatten liegende Töplitzer Frühlingstal, umringt und durchschnitten von grotesk gestalteten Bergen, deren Rücken sich bis an die Fenster zog, durch das fernher vom Begräbnisplatze leuchtende, ahnungsvolle Licht einer Kapelle, wo schon ein Leichnam bewacht wurde, der unserm Seume am folgenden Tage weichen mußte. Unmöglich konnte man in solcher Stunde die andächtigen Seufzer des sich verlassen fühlenden Sterbenden, der nur von einem Freunde und einem jungen Feldscher (auch einem Bewunderer des berühmten Fußwanderers) bewacht wurde, für bloß zufällige Wirkungen des Schmerzes, sein Aufstöhnen zu dem namentlich von ihm genannten Gotte (wie der ungläubige Lamettrie auf seinem Krankenlager selbst gesagt haben soll) für eine bloße Redensart erklären.« – Minerva 1812. S. 290.

Ein Umstand, der weniger den Sterbenden als seine um ihn versammelten Freunde in den letzten Stunden beunruhigte, trug dazu bei, dem schaurig romantischen Bilde seines Lebens eine ästhetische Vollendung zu geben, es gerade so wunderlich und flüchtig schließen zu lassen, als es begonnen hatte, um eine poetische Weissagung unsres Diogenes zu erfüllen, die sich in der frühern Sammlung seiner unvollkommnen Gedichte (s. Minerva am angeführten Orte S. 304) befindet.

Und weigerte man mir auch Sarg und Decke,
      Was liegt mir dran?
Flaum oder Stein ist eins, an welchem Flecke,
      Geht mich nichts an.

In einem Badeorte müssen die Wirte, welche Kranke einnehmen, eigentlich auf Todesfälle gefaßt sein. Indessen kann man es einesteils doch niemandem zumuten, schon Sterbende einzunehmen, andernteils einen Kontrakt auf längere Zeit gelten zu lassen, als man ihn eingegangen war. Seumes Logis war weitervermietet, und diese sehr vorteilhafte Vermietung konnte durch seinen Todesfall gehindert werden. Die Inhumanität lag also mehr in dem wunderlichen Spiele des Schicksals als in den Menschen, daß Seume in dem Augenblicke, da sein Engel (um einen Seumischen, militärischen Ausdruck zu gebrauchen) Abgelöst! rief, juristisch genommen eigentlich ohne Quartier war, und doch hätte dieser Umstand, wenn Seume anders in dem Zustand gewesen wäre, ihn noch zu beachten, seine Bitterkeit gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gewissermaßen rechtfertigen können. Alles war mit Seumes Bewilligung – (denn Sterbende verändern bekanntlich den Ort gern) – schon eingepackt, um ihn hinüber in seine neue Wohnung zu schaffen, als die Sänftenträger bei der unerwarteten Beschleunigung seiner Auflösung ebensowenig Lust bezeigten, einen schon halb zur Leiche gewordenen Menschen fortzutragen, wie der neue Wirt, ihn aufzunehmen. Mit vieler Mühe und nur durch die Dazwischenkunft der angesehensten Männer von Töplitz, ja der Polizei selbst, gelangen unsre Vorstellungen, die bisherigen Wirtsleute zu bewegen, ihm die Stätte, wo er krank gelegen hatte, auch zum Sterben zu lassen. Während man indes noch über diesen irdischen Wohnungswechsel stritt – löste Seume selbst den Knoten, brach seine morsche Hütte ab und vertauschte die irdische Wohnung mit der friedlichen und seligen im Schoße seines Schöpfers. Dieses geschah in den Vormittagsstunden des 13. Juni 1810. Seine schon zusammengepackte, für einen vorbeieilenden Wanderer nicht unbeträchtliche Verlassenschaft, indem außer dem baren Gelde seine Krankengarderobe sehr gut ausgestattet war, wurde nun dem Magistrat übergeben und Anstalt zu seiner Beerdigung getroffen.

Hier darf nun der Edelmut der katholischen Geistlichkeit von Töplitz nicht ungerühmt bleiben, die manchem frühern Herkommen zuwider, jedoch mit sichtbarer Zufriedenheit aller Einwohner, unserm in verschiedenem Glauben gebornen Freunde nicht nur das ehrenvollste Begräbnis ganz nach unsern deshalb geäußerten Wünschen, sondern auch auf ihrer ebenso durch die Natur als durch die Kirche geweihten Erde eine freundliche Ruhestätte gewährte. Und so ward Seumes, des unruhigen Wanderers, der über manchen menschlichen Mißbrauch im Leben geeifert hatte, Grabstein zugleich ein schönes Denkmal friedlicher Gesinnungen zweier getrennter Religionsparteien.

Am Morgen des 15. Juni versammelten sich die in Töplitz anwesenden Freunde Seumes in der Wohnung der Frau von der Recke, dem sogenannten Fürstenhause, um in Begleitung einiger andern angesehenen Einwohner und Badegäste von Töplitz, die auch von fern den Namen des merkwürdigen Menschen geehrt hatten, und unter Vortritt des würdigen Geistlichen, Seumes Reste der Erde zu übergeben. Außer der Frau von der Recke und ihrer nächsten Umgebung befanden sich unter der Begleitung Herr Professor Fichte und seine Gattin, die Gattin des Herrn Hofrat Böttiger von Dresden, die Witwe Naumanns, Herr Dr. Weigel, der Seumen ebenfalls in den letzten Stunden mit medizinischer Hilfe beigestanden hatte und späterhin die Besorgung seines Grabsteines übernahm, Herr Hofrat Tittmann von Dresden, der Herr Graf Schönfeld der jüngere aus Wien, der sich Seumes bildenden Umgangs von Leipzig her dankbar erinnerte, und andere mehr, welche die in ganz Deutschland verbreiteten Freunde des Verstorbenen in dieser ernsten Stunde würdig vertreten konnten. Das Begräbnislied, das von den Schülern beim Eintritte in den kleinen, ländlich berasten Kirchhof aus ihren Notenbüchern gesungen ward, war zufälligerweise ganz in Seumes Sinne und als wenn er es selber gedichtet hätte, zumal der letzte Vers, von dem ich mich erinnere, daß er den stolzen Sieger mit dem Erobererschwerte so gut wie jeden andern Adamssohn, der dazu geboren ist, der Erde Früchte zu verzehren und sich – erobern zu lassen, vor das Totengericht und die Schaufel des Totengräbers lud. – Hierauf empfing die Leiche in der kleinen Kapelle den priesterlichen Segen als Mitgabe zu ihrer letzten Wanderung. – Der Sarg stieg mit den Überresten unsres Geliebten in die schwarze, rätselvolle Tiefe hinab, und unter dem Klange der Sterbeglocken, welche das sichtbare Bild des Freundes hinabriefen, sprach der Endesunterzeichnete vor dem Kreise der stilltrauernden umstehenden Freunde folgende Worte:

»Hier also, auf diesem Hügel kalter Erde, legt unser Seume seinen Wanderstab für immer ... nieder. Wohl ihm und uns, seinen Freunden, daß wir es sagen können von Grunde des Herzens! Nicht ziellos war seine Reise, nicht vergebens sein wundervoll reiches Leben, sooft er diesem Leben am Abend seiner Tage auch wohl zürnen mochte, überwältigt von Schmerzen der Seele und ihrer irdischen Hülle! ...

Was Seume war, ward er durch sich selbst. Nicht aus rohem Triebe durchwanderte unser geliebter Wanderer von Syrakus die Erde. Er suchte die Spuren der allwaltenden Ordnung in den Schönheiten und Schrecknissen der Natur, in den Trümmern gesunkener Völker, in den Mordszenen seiner Zeit ... in den Gesinnungen der Menschen, seiner Brüder. Ach, der rauhe Sohn der Natur, mit gradem Blick, mit dem tiefsten, brennendsten Gefühle des Rechts im Herzen und dieses Herz auf der Zunge tragend, konnte seine Menschen nur zürnend, nur murrend lieben. Dennoch liebte er sie, und die Edelsten seines Volkes entgegneten dankbar seine Liebe. Jetzt empfängt ein fremdes Land, in dessen heilenden Quellen er Milderung seiner Qualen suchte ... seine Asche und endet diese Qualen mit ewiger Ruhe. Segnet, Freunde, diesen heiligen Boden, der sein Grab ward! Unser Freund ward hier nicht getäuscht mit leeren Hoffnungen. Er wähnte hier von Schmerzen zu ruhen, die unheilbar waren, und fand hier das höchste Leben, das keiner Heilung bedarf. Friede seiner Asche! Die Erde deckt die Bösen, und die Guten drückt sie nicht.« –

Dieselben Freunde, welche hierauf mit Tränen Erde auf seinen Sarg warfen, unterzeichneten sich mit noch mehreren teilnehmenden Menschen zu einem kleinen Denkmal auf dem Grabe nahe an den Mauern der schützenden Kapelle. Unser Seume hat nun in fremder Erde, fern von den Seinigen, einen Stein, schwerer, fester und in die Augen fallender, als wohl jemals der unruhige Erdenpilger sich es hätte träumen lassen. Aber selbst der Totengräber hat dieses Denkmal des wunderbaren, menschenfreundlichen und menschenfeindlichen Weltbürgers lieb, und durch eine harmonische Veranstaltung des Schicksals besuchen und bekränzen an diesem von Fremden aller Völker wimmelnden Orte jährlich viele wandernde Fremdlinge das Grab desjenigen, der auf dieser Erde selbst immer ein pilgernder Fremdling blieb.

C. A. H. Clodius


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