Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Meine erste Poeterei war in Borna, wo wir zuweilen aus Gellert und Hagedorn so vel quasi deklamieren mußten. Das hatte mich beschäftigt, da ich sonst eben nichts zu tun hatte; ich setzte mich also hin und machte eine satirische Fabel: der Hasenschwanz. Man pflegte sich nämlich zum Abwischen der schwarzen Tafeln der Hasenpfoten oder auch wohl der kurzen Hasenschwänze zu bedienen. Nun war einer der Alumnen, der sich eben nicht durch Talente und Fleiß auszeichnete, beständig damit beschäftigt, allerhand possierliche Spielwerke mit dem Hasenpörzel zu machen. Dabei blieb der Junge ein Geck, ein Dummkopf und ein Hasenschwanz. Das war die sehr sinnreiche Erfindung, und sie erhielt ungeheuern Beifall, weil denn doch wohl seit der Schwedenzeit in der Klasse von einem Zögling nichts Ähnliches war ans Licht gestellt worden. Es liefen Kopien herum; ich hoffe zu Gott, es ist keine mehr vorhanden. Die Erfindung sieht man; der Vortrag wird wohl toll genug gewesen sein, und über der Sprache, die bei mir überhaupt nicht sehr glatt ist, hätte man füglich die Schienbeine brechen können, soviel ich mich noch aus einigen Ausdrücken erinnere. Wenn ich mit Martinis Versen fertig war, fing ich nun zuweilen wohl auch noch an, eigene zu zimmern; sie fielen aber alle sehr hart und holperig aus, und ich war wohl etwas ärgerlich und neidisch, daß einer meiner Nachbarn, der das Handwerk nicht fortgesetzt hat, sie so fließend und rieselnd hervorbrachte. Der Rektor Martini kam einmal dazu, als ich eben einmal einige zu einer Feierlichkeit hatte drucken lassen, und war anfangs höchlich aufgebracht über die Keckheit, wie er es billig nannte; indessen verlängerte er den Strafsermon doch nicht weiter, nachdem er sie gelesen hatte, woraus ich schloß, daß sie doch nicht so ganz hundelos in seinen Augen mochten gewesen sein. »Man sollte so etwas doch nicht unternehmen«, sagte er; »man hat noch nicht Gewandtheit und Routine genug.« Mir kam der ästhetische Urteilspruch sehr sonderbar vor, nach dem, was ich schon hier und da bei den Alten und Neuern über die Sache gelesen hatte. Ich machte sogar griechische Verse, Gott sei bei uns, die nicht in der Schulordonnanz lagen: denn es wurde nur deutsch und lateinisch geverselt; in dem Deutschen meistens Alexandriner, die ich seit der Zeit nicht recht habe leiden können, und im Lateinischen verstieg man sich nicht über den Hexameter und das Distichon. Ich hatte zwar nicht das Herz, meine griechischen Verse geradezu dem Rektor zu übergeben, legte sie ihm aber doch so in den Weg, daß er sie füglich sehen konnte; er nahm aber keine Notiz davon. Seit der Zeit habe ich nur einige Male im philologischen Übermut einige gedrechselt; aber zum Glück ist keiner übriggeblieben, ob ich gleich mit einigen damals nicht übel zufrieden war und sie mit großem Wohlgefallen wohl zehnmal durchskandierte. Martini pflegte mich selten in meiner Dachstube zu besuchen, und allemal war er Aristarch, der in den Orbilius überzugehen drohte. Ich hatte, wenn ich nicht Lust hatte zu arbeiten, ein gutes Talent zu schlafen: und tat mir etwas Gütliches im Morgenschlaf, da mich vor Mitternacht die Wanzen in dem alten verdammten Baue nicht ruhen ließen. Das sagte ich ihm geradezu; und er brummte. Einmal fand ich, als ich etwas spät aufstand, von seiner Hand mit Kreide an die Stubentüre geschrieben: Sex septemve horas dormisse sat est iuvenique senique. Ich veränderte das ve in que; und nun lautete es: Sex septemque (sechs und sieben, also dreizehn) horas. – So blieb es stehen, bis er wieder kam. »Ei seht doch die Variante«, rief er halb komisch, halb strafend, »nicht übel, gar nicht übel für Faulenzer, wie wir sind.« Hätte er den Hexameter nicht ungebührlich zum Heptameter verlängert, so hätte die Schnurre nicht stattfinden können.

Hier las ich in meinem sechzehnten Jahre den ersten Roman, und zwar den Siegwart, den mir mein Vetter Hahn, ein Weißenfelser Gymnasiast, semmelwarm aus der dortigen Presse zuschickte, und zwar alle drei Bände auf einmal. Diese fertigte ich in einer Nacht ab mit ungeheuerm Heißhunger. Die erste Wirkung war auf die Phantasie gewaltig; als ich aber prüfte, fand ich schon damals alles zu sehr Spielwerk und Tändelei der Einbildungskraft, die des Menschen bessere Zeit ohne Nutzen in Beschlag nimmt. Nur das Wirkliche fing an, mich zu interessieren. Warum sollen wir mit solchen leeren Dichtungen ins Blaue hinaus greifen? Ohne mich auf den Wert dieser Dichtungsart einzulassen, kehrte ich von der Konfektnäscherei immer sogleich zu der echt nährenden gediegenen Diät der Geschichte zurück. Auch Werther, der damals erschien, fiel mir sogleich in die Hände, und ich muß bekennen, er spielte dem jungen Kopfe gewaltig mit; desto mehr, da alles dort der Geschichte so gleich ist, und vielleicht meistens Geschichte ist. Da aber meine Seele noch ohne Leidenschaft aller Art war, außer dem allgemeinen Enthusiasmus für das Große, Gute und hohe Schöne, so verflog die Wirkung bald wieder, da ich die Katastrophe nicht in den Annalen der Geschichte verknüpft wiederfinden konnte. Nun hätte man glauben sollen, ich habe mit vieler Anstrengung Geschichte studiert. Das war aber auch nicht der Fall. Das Studieren war mir Bedürfnis, und war dieses gestillt, so pflegte ich fast unwillkürlich lange Zeit das Gelesene zu ruminieren, bis ich wohl zuweilen in das sogenannte selige far niente, den behaglichen, halb dunkeln, ziemlich reinen, bloßen Existenzgenuß zurücksank, der vorzüglich der Kindheit eigen ist. Lange hielt ich natürlich diesen nicht aus, und der Geist schritt zu etwas anderm.

Meine Seele hat von der frühen Kindheit an unbestimmt sehr an der Natur gehangen; dies ward nun zur Neigung. Das Einfachste war mir immer das Liebste, ein gutes Butterbrot und reines Wasser mein bester Genuß. Ich erinnere mich darüber eines drolligen Auftritts. Mein Vater nahm mich einmal mit nach Leipzig; ich mochte ungefähr ein Bube von sieben Jahren sein. Er traf einen alten Bekannten, und beide wurden einig, ein Frühstück in einem Italienerkeller zu nehmen. Da ich nicht Lust hatte mitzugehen und er mich nicht nötigen wollte, wies er mir eine Peripherie an, aus welcher ich nicht kommen sollte, und den Eckstein, an welchem man nach einer Viertelstunde mich wieder treffen würde, und gab mir einige Groschen, sie auf dem Markte nach meinem Belieben zu verzehren. Als er zurückkam, hatte sich noch ein Bekannter angeschlossen. »Nun, hast du auch ordentlich gefrühstückt, Junge?« fragte er mich. »Ja, Vater.« »Wie hast du denn dein Geld angewendet?« »Ich habe mir eine Semmel gekauft und Rüben dazu.« »Was für Rüben?« fragten sie neugierig. »Solche weiße Rüben, wie sie sie hier haben«, antwortete ich, indem ich hin auf die Gärtner zeigte. Alle lachten laut. »Für wieviel denn?« »Für zwei Groschen.« »Junge, bist du toll? Für zwei Groschen weiße Rüben? Für einen Dreier bekommst du ja draußen auf dem Dorfe so viel, daß sich sechs Fuhrknechte satt essen können.« »Wo denn?« »Draußen überall.« »Ich habe nichts gesehen.« »Kannst du nicht warten, bis sie groß sind?« »Warten, ja warten«, sagte ich und kratzte mich hinter dem Ohre. Es war noch früh im Jahr; ich hätte wenigstens noch einige Monate auf mein Lieblingsgericht warten müssen. Man lachte immerfort über den Dreier für die Semmel und die zwei Groschen für weiße Rüben dazu. »Ei, so laßt doch den Jungen zufrieden«, sagte der alte Verwandte; »es ist doch wohl besser, als wenn er Pfeffernüßchen und Zuckerbrot gekauft hätte.« Ich war bloß dem Instinkt und der Neigung gefolgt; aber als man vernünftig darüber nachdachte, trat man denn doch auf meine Seite. Der nämliche Alte war auch mein Advokat gegen den Kaffee, der mir sehr zuwider war. Die ganze Familie trank ihn zum Frühstück; ich sollte also auch. »Wir werden dem jungen Herrn ein Süppchen apart kochen«, sagte meine Mutter, und wollte mich zur allgemeinen Kaffeepartie nötigen. »Ei, so laßt ihn doch zufrieden«, sagte der Alte; »es wird ihm vielleicht einmal recht lieb sein, wenn er sich nicht an die verdammte Lorke gewöhnt hat.« Meine Mutter glaubte, Butterbrot und kaltes Wasser zum Frühstück ohne etwas Warmes würde mir übel bekommen; da sie aber das Gegenteil sah, ließ sie mich ruhig meinen Weg gehen. An dem Brunnen waschen und trinken war also die nämliche Partie; übrigens lief ich meistens allein in allen Dickichten herum, und kein Elsternest war mir zu hoch, ich mußte hinauf. Das setzte ich denn etwas verändert in Borna und Leipzig fort. Ich trank durchaus weder Wein noch Bier, bekümmerte mich nichts um Backwerk und feinere Gerichte; aber die schönsten Kirschen und Pflaumen wurden immer reichlich gekauft, sie mochten noch so teuer sein, und mein Aufwand darin ging für meine Umstände zuweilen fast bis zur Verschwendung. Jetzt verband ich meine Streifereien mit meinen Studien. Man sah mich seltener auf öffentlichen Promenaden; sondern ich lag in irgendeinem Dickicht oder dem versteckten Winkel einer Wiese und las ohne weitere Wahl, was mir in die Hände gefallen war: selten Romane, fast ebenso selten Gedichte im Deutschen, aber desto mehr ausgesuchte Stellen aus den Römern und Griechen. Es freute mich besonders, nun bei den letzten die Schwierigkeiten überwunden zu haben und mit Leichtigkeit vorwärtszugehen. Die eklektischen Sprüche der Alten verdrängten immer mehr die biblischen; doch hinderte das nicht die Wirkung, die auch hier und da ein tief aus der Seele gegriffenes und in die Seele gesprochenes Wort eines Hagiographen tat.

In dieser Periode gab ich dem jetzigen Professor Höpfner in den Anfangsgründen der hebräischen Sprache Stunde, und wir haben nachher manchmal darüber gelacht, nachdem mir der Schüler als Herausgeber des Golius so gewaltig zu Kopfe gewachsen war. Zuweilen setzt mir's wohl der Eitelkeitsteufel in den Sinn, daß er meiner guten Unterrichtsmethode im Anfange den schnellen Fortgang nachher verdanke.

Die gegenseitige Unzufriedenheit zwischen mir und dem Rektor stieg immer höher. Ich ging durchaus nicht seinen Weg, und er wollte mich den meinigen nicht gehen lassen. Moralische Fehler, außer etwas Geiz, habe ich an dem Manne nicht wahrgenommen; aber desto mehr Grillen und psychologisch-pädagogische Irrtümer und Schwachheiten. Überdies machte mir mein Stubenfreund, Herr Korbinsky, ein Schüler Fischers und ein gewaltiger Purist, dessen lateinischen Stil verdächtig, und man weiß, was eine Sünde hierin bei einem Schulrektor für ein Piaculum ist. Herr Korbinsky hätte wohl besser getan, mir darüber keine Silbe zu sagen, zumal da die Sache ihre Richtigkeit hatte. Man weiß, daß Quisquilien die Welt mehr hudeln als Sachen vom größten Belang.

Um diese Zeit war ein sächsisches Lager bei Schönau, an der Straße nach Weißenfels. Nichts kitzelt einen jungen Menschen mehr, als militärische Unternehmungen, wenn auch nur im Schattenriß, zu sehen, wo der menschliche Erfindungsgeist und die menschliche Kraft vereint mit furchtbarer Anstrengung für moralische, politische oder physische Existenz kämpfen. Einen Nachmittag hatte ich Erlaubnis erhalten hinauszugehen, zu schauen. Ich hatte einen Verwandten im Lager, steckte meinen Julius Cäsar zu mir, um doch auch etwas Militärisches an mir zu haben, und wandelte auf und davon. Im Lager traf ich, ich weiß nicht wo, den Grafen Hohenthal, der mir seinen Beifall über meine Neugierde zeigte und nichts gegen meinen Wunsch hatte, die Nacht hierzubleiben und das Manöver des folgenden Tages zu sehen. Diese Erlaubnis oder Quasierlaubnis, denn eigentlich mußte sie vom Rektor kommen, dehnte ich auf zwei Nächte aus und war in einer ganz neuen Welt, an die bisher meine Phantasie nur wenig gedacht hatte. Ich hatte damals schon mathematischen Sinn genug, mich um den glänzenden blitzenden Donnereinbruch der Reiterei weniger zu bekümmern, obgleich mein Vetter Dragoner war, und meine ganze Aufmerksamkeit auf die Behandlung und Bewegung des Geschützes und den Marsch, vorzüglich der Grenadierbataillone, zu richten. Das mucrone res agitur, ubi ad triarios rediit schwebte mir bei jeder Gelegenheit aus den Alten vor, und so verschieden auch unser Kriegssystem von dem ihrigen ist, hierin kommt es ganz gewiß mit demselben überein, wie die ganze Geschichte aller Feldzüge lehrt. Ohne eben Neigung zum Soldatenstande zu haben, las und studierte ich doch schon unwillkürlich solche Bücher, wo der Riesenkampf der menschlichen Natur hell und lebhaft geschildert war, und das fand ich mehr bei den Alten als bei den Neuern und finde es noch. Als ich nach Hause kam, runzelte der Rektor die Stirne und beutelte das Maul mehr als gewöhnlich, sagte aber sehr wenig, und es schien, als ob er mich als einen Refraktarium aufgegeben hätte. Da ich mein Unrecht fühlte, suchte ich durch Fleiß gutzumachen; da aber dieser Fleiß doch nicht über seinen Stock geschlagen war, konnte ich damit nichts gewinnen. Ich erhielt um die nämliche Zeit ein Schulstipendium von zehn Talern. »Wir haben zwar Talente und sind nicht müßig«, sagte er mir beim Aufzählen; »aber unsere Sitten haben diese Belohnung kaum verdient.« Nun machte er Miene, das Sümmchen wieder einzustreichen und es mir zu vier und vier Groschen gelegentlich für die kleinen Bedürfnisse zuzustellen, als ich ihm sagte, der Graf, mein Wohltäter, wolle mir dieses Geld als Aufmunterung zur eigenen Verwendung überlassen und für das Übrige Sorge tragen. Das schien er nicht zu billigen, wollte aber doch nichts dagegen haben. Ich erhielt das Geld, und da das für mich eine ungeheure Summe war, dünkte ich mir damit wenigstens ein Krösus zu sein. Vor allen Dingen wurde Obst gekauft, dann Bücher, hier und da einem Armen reichlicher mitgeteilt; dann ging es zum ersten Male in die Komödie. Man kann sich denken, wie lange und wie weit ich reichte. Meine Mutter brauchte damals nichts und wollte durchaus nichts als eine Kleinigkeit nehmen, um meine Gutmütigkeit nicht zu beleidigen, wie sie sich ausdrückte. Da sie von meinen Bedürfnissen wenig verstand, so konnte sie über meine Verwendung bestimmt weder Billigung noch Mißbilligung äußern. Man denke, wie ich kaufte. Ich kaufte, ich glaube vom jetzigen Professor Schäfer, der mein Schulnachbar war, eine Geschichte oder Geographie, in neunzehn Bänden, ich weiß nicht von welchem alten Knaster, für einen Speziestaler. Schäfer war froh, daß er das Schweinsleder loswurde, um Platz zu bekommen; und doch studierte ich in den Schwarten so ungeheuer, um die Lücken auszufüllen, daß ich wirklich glaube, ich habe daraus mehr gelernt als aus manchem langen Collegio von viel Zeit und für viel Geld. Als ich anfing, das Buch taxieren zu lernen, schaffte ich es mit wenig Verlust und viel Gewinn wieder fort.

Das erste Theaterstück, das ich sah, war Ariadne auf Naxos, von Benda, die damals neu war. Der bekannte mythologische Text rührte mich wenig; aber desto mehr die allgewaltige Magie der Musik, verbunden mit der schönen Darstellung und der mir ganz neuen zauberähnlichen Maschinerie. Das Letzte verschwand bald; aber die Wirkung der Musik blieb und ist geblieben, und noch jetzt kenne ich in der ganzen Peripherie meiner musikalischen Literatur nichts Lieblicheres als Bendas Morgenröte und nichts Malerischeres als seinen Sonnenaufgang in diesem Stücke. Noch jetzt, wenn es mir bei musikalischen Freunden recht heimisch gemütlich ist, pflege ich zum höchsten Genuß eines seligen Viertelstündchens mit dem Notenbuche in der Hand zu kommen: »Kinder, bringt mir die Morgenröte und laßt mir die Sonne aufgehen!« und nach dem Vortrage und der Aufnahme dieser Stellen die Seelen zu beurteilen. Die Theaterneigung bemächtigte sich bald meiner bis zur Epidemie, vorzüglich als ich zur Akademie überging.

Der letzte Vorfall, der wahrscheinlich meine Entfernung von der Schule bestimmte, war folgender. Wir lasen Xenophons Denkwürdigkeiten, ich mochte wohl etwas zerstreut gewesen sein, der Rektor war wegen einer andern Veranlassung schon aufgebracht und heftig; er wendete sich unversehens und kurz zu mir und verlangte die grammatische Auflösung eines schweren Wortes; ich machte sie; er schien schon in der Übereilung zu sein und fuhr mich hart epanorthotisch an: »Man ist nie, wo man sein soll; es ist der Infinitiv in diesem und diesem Tempus.« Es war freilich augenscheinlich der Infinitiv; über das Tempus war Differenz. Er fuhr im Hermeneutisieren fort, ich setzte mich, brummte ungläubig und suchte meine alte Grammatik aus dem Winkel hervor, wo ich denn fand, daß ich recht hatte. Das zeigte ich höchstwahrscheinlich selbstgefällig genug meinem Nachbar: »Was hat man schon wieder?« stürzte der Rektor auf mich zu. »Herr Rektor«, erwiderte ich ganz gelassen, »ich wollte mich bloß überzeugen, daß ich recht hatte.« Das brachte den Mann ganz aus seiner Fassung, er stürmte und wütete und wollte mich ins Karzer führen lassen. »Herr Rektor, bedenken Sie«, sagte ich ganz ruhig, »es könnte einige Folgen haben.« Er überlas die Periode noch einmal, besann sich und ließ mich ohne Antwort sitzen. Die ganze Klasse war stutzig. Ich wollte heute noch die Stelle im Buche wiederfinden. Nach der Stunde ließ er mich rufen, stellte mir etwas gelinde meine widerspenstige Sinnesart vor und gab mit einigen philosophischen Apophtegmen seinen Irrtum zu. Die Neckerei und das halbe Subordinationswesen war mir höchlich zuwider; ich kam förmlich mit der Bitte beim Grafen ein, mich noch einige Zeit nach Grimma oder Pforte zu schicken; hier würde ich nunmehr meine Zeit ohne großen Nutzen zubringen. Man war anfangs mit meiner Unzufriedenheit eher unzufrieden, mochte aber doch bei näherer Nachfrage finden, daß ich so ganz Unrecht nicht hatte, und beschloß eine Änderung zu machen. Auch wenn ich nicht Recht gehabt hätte, wie das vielleicht hier und da der Fall war, forderte es die richtige psychologische Pädagogik, meinen Wünschen nachzugeben und es auf eine andere Weise mit mir zu versuchen. Außer etwas Chorgesang in den öffentlichen Stunden hatte man mich weiter keine Musik treiben lassen, und ich sah daraus, daß man es mit mir nicht auf die Schulmeisterei anlegte. Ohne eben damit unzufrieden zu sein, bedauerte ich doch im stillen, daß ich eine so ganz unmusikalische Seele bleiben sollte; zumal da ich glaubte und noch glaube, daß in meinem Geiste sehr viel sehr schöne eigentümliche Musik zu wecken gewesen wäre. Ich selbst konnte den zweckmäßigen Unterricht nicht erschwingen. Ich gerate bei lebendigen, tief gegriffenen und tief eindringenden, einfach großen Stellen in die größte Rührung, wie das bei Mozart und Haydn und Händel und Bach und einigen andern oft der Fall ist; und eine lange, bloß künstliche Tonverstrickung läßt mich unbeschäftigt und leer.


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