Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Der Graf von Hohenthal-Knauthain, der das Gut Lauer gekauft und mich zuweilen in der Schule und bei Kirchenprüfungen mit einigem Wohlgefallen gesehen hatte, hatte bei meines Vaters Tode erklärt, er wolle für mich sorgen und mich etwas lernen lassen. Was dabei seine Gedanken waren, weiß ich nicht. Meine Mutter und ich deuteten auf irgendein Handwerk; wenigstens verstrich eine ziemliche Zeit, fast von zwei Jahren, ohne daß wieder etwas darüber gesprochen wurde. Unterdessen nahmen sich der Pfarrer, M. Schmidt, und der Schulmeister Weyhrauch meiner wirklich sehr väterlich an. In meinen Kenntnissen kam ich zwar diese beiden Jahre nicht merklich vorwärts, da ich den Übrigen schon sehr voraus war und man sich höchst selten mit mir beschäftigte; aber es fing doch durch den Umgang schon an, sich der bessere Charakter der Humanität zu entwickeln. Mein Studium war biblische Geschichte aus Hübners biblischen Historien und Luthers Bibel selbst, nebst einigen alten asketischen Schriften, die mir der Schulmeister gab. Damals gewann ich eine solche Festigkeit und Gewandtheit in der Bibel, daß ich nur selten einen Spruch nicht hersagen oder angeben konnte, der verlangt wurde. Ich wußte sehr viele Psalmen und fast alle Evangelien auswendig, sagte ziemlich genau, wie viel jedes Buch Kapitel und sogar, wie viel jedes Kapitel Verse hatte, und wo und in welcher Verbindung die sogenannten Beweisstellen standen; so daß mir von dieser Zeit an die Gewohnheit geblieben ist, bei manchen Gelegenheiten eine Reihe Bibelsprüche anzuführen, worüber zuweilen selbst Theologen sich etwas wundern. Ob sie wirklich bewiesen, was sie beweisen sollen, danach fragte ich damals noch nicht; es war nur Sache des Gedächtnisses und eines lebendigen Ideenspiels ohne weitere Untersuchung. Im Examen wurde ich nur dann gefragt, wenn irgendein Knoten zu lösen war; oder die Übrigen verstummten, und dann setzte meine Belesenheit und der Strom meiner Beweisstellen nicht selten sogar den Pfarrer in Erstaunen. Nicht selten geschah aber auch ganz natürlich, daß die Sache anfing, mir Langeweile zu machen, und da war ich denn, wenn ich gefragt wurde, nicht gegenwärtig, sondern mit meinen Gedanken auf dem Turme bei den Sperlingen oder im Busche bei den Sprenkeln, die ich gestellt hatte. Das gab dann harte Verweise, die mich aber verhältnismäßig weniger rührten, weil ich anfing, etwas mehr zu ahnen als bloßes kaltes Spiel des Kopfs, wie ich endlich hier fand. Doch war das nicht immer der Fall; denn der Pfarrer, ein wahrhaft guter, warmer Mann, hatte nicht ganz gewöhnliche Rednertalente, und es machte jedesmal einen tiefen Eindruck auf meine Seele, dessen ich mir noch jetzt lebendig bewußt bleibe, wenn er irgendeinen wichtigen moralischen Satz mit eignen, oder, wie ich nachher fand, erborgten Worten feuervoll vortrug. Dem Menschen ist sehr bald das Reinmenschliche heilig; so wie er bald gleichgültig gegen das wird, was sein Kopf nicht begreift und was sein Herz in keine Bewegung setzt.

Ich konnte lange zu keiner Wahl einer Lebensart kommen, so unbestimmt waren noch meine Ideen vom Leben überhaupt. Solange mein Vater lebte, wurde ich halb und halb zum Kaufmann bestimmt, da er einige Bekanntschaft dieser Art in Leipzig hatte; und ich hatte damals gerade nichts dagegen. Allein das zerschlug sich mit seinem Tode, und ein Handwerk sollte wahrscheinlich der Gipfel meiner Bestrebungen werden. Aus einer angebornen Neigung zum Soliden entschloß ich mich endlich, ein Grobschmied zu werden. Meine Mutter erschrak, und M. Schmidt lachte, als ich mit dem Resultat meiner Überlegung herausrückte, und beide hatten viele Mühe, mir die Sache auszureden. »Junge, du bist ja nur ein Zwerg und sinkst mit Hammer und Zange vor dem Amboß zusammen wie ein Taschenmesser«, sagte der gutmütige Pfarrer; »dazu gehört ein Zyklope und kein Liliputer, wie du bist.« Ich verstand das letzte nur halb, gab aber doch dem Einreden meiner Mutter nach und den vulkanischen Vorsatz auf; doch gehe ich noch jetzt selten vor einer Schmiede vorbei, wo nicht der alte Hang zur Solidität zurückkehrte. Nun bestimmte ich mich zum Dorfschulmeister, wollte etwas Latein und Musik erlernen und dachte mit dem Übrigen nach einiger Vorbereitung schon nicht übel durchzukommen; denn ich galt für einen gewaltigen Katecheten. Noch bei Lebzeiten meines Vaters hatte ich einmal gelegentlich von ungefähr gesagt, es müßte nicht gut sein, wenn ich nicht über einen Satz hundert Fragen bilden wollte, ohne eben am Ende zu sein. »Das traue ich ihm zu«, sagte der Schulmeister, dem es gesagt wurde; »und die Fragen würden toll genug sein.« Der letzte Zusatz war mir eben nicht sehr willkommen und machte mich aufmerksam. Seit der Zeit habe ich mich geflissentlich vor vielen voreiligen Fragen gehütet, habe die Sache wahrscheinlich zu weit getrieben und dadurch manches nicht erfahren, was ich hätte erfahren können und sollen. Ein Narr fragt mehr, fiel mir immer ein, als ein Weiser beantworten kann. In der Bestimmung zum Dorfschulmeister mochte wohl ganz leise der Blick auf Herrn Weyhrauch, sein herrliches Bienenhaus, seine vortrefflichen Spargelbeete und seine schönen Rosen und Nelken auch mitwirken; denn es schwebte mir vielleicht dunkel vor, daß bei gehöriger Einleitung und Ausdauer das alles mein werden könnte. Jede sitzende Lebensart war mir verhaßt, und obgleich ein Schulmeister auch sitzen muß, so begriff ich doch schon damals, daß sich viel Wesentliches in seinem Amte sehr vorteilhaft peripatetisch abmachen ließe. »Junge, was du für Einfälle hast!« sagte M. Schmidt bei dieser neuen Entdeckung; »werde doch lieber Leinweber; ein Dorfschulmeister ist ein jämmerliches Tier. Denkst du denn, sie haben es alle wie unser Weyhrauch?« Und nun fing er an, mir ein gar schreckliches Gemälde der armen Dorfschulmeisterlein in Thüringen und Meißen zu zeichnen. Ich ließ mich aber nicht abhalten und meinte, jeder Stand habe seine Plage und seinen Frieden. »Nun, wir wollen sehen, wie weit es geht«, sagte er und tat Meldung an den Grafen.

Einige Zeit darauf wurde Anstalt gemacht, mich zum Rektor Korbinsky nach Borna zu bringen. Hier kam ich denn wie ein halber Hurone, moralisch gut gebildet, wenigstens ganz unverdorben, aber wissenschaftlich ganz roh und wild an. Der alte Herr nahm mich freundlich väterlich auf und ist von allen meinen Lehrern derjenige, dem ich am meisten verdanke. Er hatte mehrere Pensionärs, unter denen ich der älteste und unwissendste war, ausgenommen meine Bibelweisheit, in welcher mir es auch dort niemand zuvortat. Das Haus war patriarchalisch gut, und seine Frau war mehr als meine zweite Mutter. Er gab mir kurze, gemessene, deutliche, sehr gründliche Anleitung; das Bedürfnis drängte, der Ehrgeiz spornte, und binnen einem Jahre stand ich so ziemlich mit den übrigen auf gleichem Fuße, die schon vier und fünf Jahre hier gewesen waren, und am Ende des zweiten war ich fast entschieden der Erste an Kenntnissen. Der Erste an der Tafel konnte ich mit Salomos Weisheit nicht werden; denn da waren zuerst Rücksichten, die ich schwer begriff und noch schwerer billigte. Das schien mir die einzige schwache Seite des guten Mannes: doch war sie bei ihm sehr unschädlich; denn es ging deutlich aus der Behandlung hervor, daß er etwas anders rangierte, als man in der Klasse saß; und ich war nun schon so weit, daß immer die schweren Stellen an mich kamen. Der Rektor überließ mich mir selbst, und da war ich denn zuweilen entsetzlich fleißig und zuweilen entsetzlich faul. Das zweite übersah er zuweilen des ersten wegen: und ein Hm hm mit Kopf schütteln oder ein »du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!« waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen. Wie ich im Lateinischen und Griechischen deklinieren und konjugieren gelernt habe, weiß ich selbst kaum. Ich las und las, bis es fest blieb; dann las ich Stellen und analysierte und setzte wieder zusammen, da denn die logische Notwendigkeit sich meiner Seele aufdrang, daß es so sein müsse und auf diese Weise nicht anders sein könne. Die Ausnahmen, wenn man sie nur einige Male gelesen hat, fielen deutlich genug in die Augen.

Hier ließ mein Bibelstudium ziemlich nach, und an dessen Stelle trat die Beschäftigung mit lateinischen Sprichwörtern, welche Weisheit des Lebens lehren. Der Rektor Korbinsky selbst hatte eine Sammlung solcher Sprichwörter in Altenburg drucken lassen: ein sehr nützliches Buch für junge Anfänger, das aber wenig bekannt zu sein scheint. Da ich im Leben schon etwas Gewandtheit besaß und mein Vater gern in Sprichwörtern redete, machte sich der Rektor ein Vergnügen, mich die Übersetzung auch sprichwörtlich versuchen zu lassen, wobei denn zuweilen barockes Zeug zum Vorschein kam. So kam einmal das Horazische Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi vor; der Rektor forderte es sprichwörtlich. »Wenn sich die Könige raufen, müssen die Bauern Haare lassen«, sagte ich. »Recht gut, recht gut!« versetzte der Rektor; »nur etwas zu sehr vom Dorfe, etwas zu – zu ...«, ich verstand, er wollte sagen zu grob. Ich entgegnete, daß das lateinische delirant und plectuntur eben auch nicht sanft sei und daß man eine solche Sache recht handgreiflich sagen dürfe. »Nun gut, es mag gehen«, sagte er, da er selbst nicht gleich ein feineres Sprichwort finden konnte. Die Frau Rektorin gab sich alle ersinnliche Mühe, mich fein und artig zu machen, so wie der Herr sich bestrebte, mich zur Tugend und Weisheit zu bilden. Inwiefern es dem Rektor gelang, kommt mir nicht zu, zu bestimmen; aber ihr gelang es sehr schlecht. Mein Anzug war immer sehr nachlässig, meine Haare grotesk, struppig und meine Schuhe schmutzig. Vor allem hatte sie ihren Krieg mit meiner Stirne, die ich nach ihrer Meinung unerträglich runzelte. Ehe ich mir's versah, versuchte sie eine Glättung mit der Hand oder auch wohl mit der Bürste und drohte sogar mit der Striegel, aber alles umsonst. Sobald ich in Gedanken geriet und etwas Eigenes oder Fremdes ruminierte, traten die Runzeln wie Furchen auf die Stirne, und die Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Das ist geblieben, und man hat mich oft für melancholisch mißmutig gehalten, wenn ich meine seligsten Gedanken hatte. Der Rektor nahm davon keine Notiz, da er selbst etwas von der nämlichen Unart besaß und es wahrscheinlich für ein Adiaphoron hielt. Er gab mir selbst das Zeugnis, daß ich bei ihm in zwei Jahren so viel getan habe als andere in sechs Jahren, und drang bei meinen Gönnern auf meine Entfernung, weil ich nunmehr meine Zeit besser anwenden könne und müsse. Ich hätte bei ihm noch lange, noch sehr viel lernen können; allein seine Zeit erlaubte ihm nicht, sich mit mir besonders zu beschäftigen.

Doch gab er mir noch einige hebräische Stunden, so daß ich auch hierin ihm den ersten Grund dankte. Ich kam sozusagen ohne die geringste Kenntnis zu ihm und las doch meinen Cicero und ein leichtes griechisches Buch ziemlich geläufig, als ich nach zwei Jahren sein Haus verließ; nicht zu erwähnen, daß ich ihm den besten Grund in der Geschichte, der Geographie und andern ernsthaften Wissenschaften verdanke. So habe ich bei niemand wieder die Reformationsgeschichte so deutlich, gründlich und pragmatisch gehört als bei ihm. Er war überhaupt in der Kirchengeschichte sehr stark, studierte unermüdlich und ließ nichts Gutes in jedem Fache ungelesen. Auch Fischer, der mehrere Reisen mit Beifall geschrieben hat, und Mahlmann sind seine Schüler, und ich zweifle nicht, sie werden gern das Wesentliche unterschreiben, was ich hier von ihm gesagt habe. Das Haus dieses Mannes nebst meines Vaters Hause sind der Grund alles Guten, was ich vielleicht in meinem Charakter habe. Ich habe erst nachher durch Vergleichung recht gefunden, wie rein die Sitten und wie fein zugleich in meines Vaters Hause waren. Ich höre jetzt oft in den besten Gesellschaften und in sonst sehr guten Häusern Gesinnungen und Ausdrücke, für die uns der Vater aus dem Hause in den Viehhof würde geschickt haben. »Dergleichen Reden schicken sich wohl bei Tische«, sagte er oft fürchterlich skoptisch, wenn jemand etwas Ungesittetes äußerte, »nur nicht beim Mistladen.« Wenn das Gesinde nicht gesittet sprechen konnte, mußte es schweigen; das war mit die erste Bedingung bei der Annahme. Ohne je ein Wort Latein gelernt zu haben, übte niemand strenger als er das sit reverentia pueris! Er wußte, ich weiß nicht wie, die meisten Stellen unserer damals neuesten Dichter, und Bürgers Weiber von Weinsberg erinnere ich mich zuerst von ihm gehört zu haben, mit Varianten bei mißlichen Stellen, deren sich vielleicht kein Kritiker hätte schämen dürfen. Woher er alles das hatte, weiß ich nicht, da er wenig las und wenig Zeit dazu hatte. Bei Korbinsky wurde dieses feinere moralische Gefühl sorgsam genährt. Niemand verstand die unschuldige Eutrapelie des Lebens besser als der alte Mann. Er nannte z. E. den Schwager nie anders als Herr Bruder, die Schwägerin Frau Schwester usw., und das mit viel wahrer Herzlichkeit. Alle seine Zöglinge waren wie seine Kinder, und er nahm auch nachher den wärmsten Anteil an ihren Schicksalen. Es war ein Unglück im Hause, wenn einer seiner ehemaligen Schüler etwas getan hatte, das einem schlechten Streiche ähnlich sah. »Du lieber Gott, was soll aus dem Menschen werden? das macht mich sehr unruhig.« Und das verderbte ihm wirklich Schlaf und Mahlzeit. Über mich soll er in der Folge oft abwechselnd getrauert und gejubelt haben, bis er sich endlich fest überzeugt habe, ich werde auf keine Weise seiner Erziehung Schande machen, glücklich oder unglücklich; dann sei er ruhig geworden. Nur das Laster hielt er mit den Alten für beweinenswertes Unglück. Der Aufenthalt bei ihm ist mir immer die schönste, reinste Erinnerung gewesen und wird es immer bleiben. Segen seiner Asche!


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