Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Fortsetzung von Seumes Leben, mitgeteilt von C.A.H. Clodius

»Und nun« – das sind die letzten Worte, welche Seume geschrieben hat; das Folgende ist leider nur Erzählung aus den Erinnerungen einiger Freunde des Verewigten. Ihnen, welche ihn genau gekannt und innig geliebt haben, ist das Bild, welches er selbst gezeichnet hat, ein Vermächtnis, in welchem er bei ihnen fortlebt. Sie glauben ihn noch vor sich zu sehen und reden zu hören, weil sein Leben sich ebenso anspruchslos und wahr, ebenso heiter und gleichmütig in Worten und Handlungen darstellte, als er es, während einer schmerzhaften Krankheit, beschrieben hat. Seine Selbstbiographie zeigt uns seine Jugend, seine übrigen Schriften zeigen den Mann, und folgende Züge von einer Hand, welche mit Treue zeichnet, werden die Schilderung seines edlen und liebenswürdigen Charakters vollenden. Große Sorgfalt für sein Inneres, wenig für sein Äußeres; ernstes Denken, ruhiges Erwägen und Tiefe des Gemüts; Mangel an Nachgiebigkeit und Reichtum an Nachsicht; Bewußtsein seines Wertes und Bescheidenheit eines gebildeten Menschen; Freundlichkeit und Liebe im Herzen, oft finster um Stirn und Auge; empfänglich für das Schöne und Erhabene; flammender Eifer für die Gerechtigkeit und eine gesetzmäßige Freiheit; selbständig ohne Furcht; bitter gegen schlechte Menschen aus Liebe zur Menschheit – so war Seume.

Wieland nannte Seume, wegen seiner Tugenden und wenigen Bedürfnisse, den edlen Zyniker, einen Menschen von großem Wert. Dieses Lob des berühmten und liebenswürdigen Mannes hat ihn sehr glücklich gemacht und wird ihn ehren bei allen, welche den Beifall der Besten unter den Menschen für den höchsten Ruhm halten, den ein Sterblicher gewinnen kann. Einer seiner Freunde, der allen seinen entfernten Geliebten ein Sternbild widmete, wobei er ihrer in stillen Nächten gedachte, wurde von Seume gefragt: wohin er denn ihn einmal künftig einquartieren würde? und als er darauf im scherzenden Ton antwortete: »Sie haben schon lange Ihren Platz in dem hellen, nicht untergehenden Gestirn des großen Bären«, sagte Seume mit Lächeln: »So, so! Meinetwegen!« – Die Begebenheiten, welche hier angeknüpft werden, sind Beweise zu dem Lobe, welches eine unparteiische Freundschaft ausgesprochen hat, und können als Belege dienen, daß ein widriges Schicksal der Hebel edler Naturen wird.

*

Das gutmütige Volk der guten Stadt Bremen drängte sich als eine Schutzwehr um Seume herum und schob gewissermaßen den Fremdling hilfreich zum nächsten Tore hinaus. Seume, ein trefflicher Läufer, flog wie ein Pfeil. Demungeachtet waren seine Verfolger, die hessischen Jäger, ihm immer ganz nahe und trieben ihn endlich in den Sack zwischen den beiden Flüssen der Hunte und der Weser. Hier glaubten sie, könnte er ihnen nicht entspringen, und er hielt sich verloren; denn wollte er sich ins Wasser stürzen, so tötete ihn, den durch und durch Erhitzten, der Schlag; blieb er stehen, so war er das Opfer seiner Flucht. Zum Glück sah er in einem Weidenbusche am Ufer der Hunte einen Fischerkahn und sprang hinein. Der mitleidige Fischer, welcher der Menschenjagd zugesehen hatte, hieß ihn sich gleich auf den Boden niederlegen und stieß augenblicklich vom Lande ab. Nun kamen auch die Jäger und schossen; aber die Kugeln flogen über das Schiff, und der gleichmütige Schiffer arbeitete ruhig durch die Gefahr, bis er glücklich das jenseitige Ufer erreichte. »Hier, Freund«, sagte der Mann, »seid Ihr frei und auf oldenburgischem Grund und Boden. Gott helf' Euch weiter!« Das Leben war gerettet, die Kette zerbrochen, und der Landgraf litt einen Verlust von einer Handvoll Taler, die er aus Seumes Verkauf zum zweiten Male hätte lösen können.

Den folgenden Tag kamen hessische Offiziere mit freundlichen Worten, brachten Pardon, boten Geld, versprachen Beförderung; aber Seume ließ sich nicht verleiten, empfahl sich höflich und ging aus ihrer Gesellschaft weg nach der Stadt Oldenburg. Der damalige, jetzt noch in Rußland lebende Herzog dieses Landes, ein gebildeter, edler Fürst, unterstützte den einnehmenden, interessanten jungen Deserteur und tat Vorschläge zu künftigen Lebensplänen; als aber Seume die Sehnsucht nach der geliebten Mutter und dem Vaterlande äußerte, entließ er ihn mit einem ansehnlichen Geschenk. Durch diese Großmut konnte der so lange Geplagte und Verkaufte nun bequem, frei und froh die Rückkehr zur lieben Heimat antreten, und der gerettete Sohn konnte wieder in die Arme der Mutter eilen. Schon hatte er wohlgemut die oldenburgische Grenze überschritten, als das unglückliche Vergessen, die hessische Uniform mit einem Zivilrock zu vertauschen, ihn gerade in den verhaßten Dienst brachte, dem er durch seine Flucht hatte entgehen wollen, und ihm in einem Augenblick wieder Freiheit, Hoffnung und kaum genossenes Glück raubte. Preußische Werber hielten ihn an und schleppten ihn als Deserteur ohne Umstände nach Emden, wo er gemeiner Soldat werden mußte. Den Käfig, in welchen man ihn, wie alle unfreiwillig genommenen Soldaten, eingesperrt hatte, zu zerbrechen, dem ehemals strengen preußischen Dienst und der verächtlichen Behandlung der Soldaten wieder zu entgehen, das war die einzige tröstliche Aussicht, welche ihm hier in der Garnison übrigblieb und die ihn reizte, sobald als möglich zu entfliehen. Einst in einer sternenhellen Nacht führte er seinen Entschluß wirklich aus. Er mochte ungefähr eine Stunde gelaufen sein, als die Lärmkanone seine Flucht ankündigte und die ganze Gegend zum Verfolgen aufrief. Seume ließ sich dadurch nicht schrecken; aber ein dicker Nebel verhüllte ihm den Weg, machte ihn irre und führte ihn wieder gerade nach Emden in die Hände derer, welchen er zu entgehen glaubte. In seinem Arrest schrieb er mit Kreide einen lateinischen Vers an die Türe der Wachtstube, welcher die traurige Stimmung seiner Seele ausdrückte. Der wachthabende Offizier fragte, wer den Vers geschrieben habe? »Vermutlich der kleine schwarze Arrestant«, antwortete die Wache. Das Kriegsverhör begann mit der Untersuchung über den Hexameter, und ein Kapitän behauptete: er sei nicht richtig. Seume bewies aus der Prosodie, daß er vollkommen schön sei, und lehrte die Richter, was zu einem guten Hexameter erfordert werde. Als aber demungeachtet der Kapitän seine Kritik noch zu behaupten suchte, brachte Seume einen Beweis vor, der entscheiden mußte: er zog seinen Virgil aus der Tasche und zeigte, daß jener Vers aus dem größten Künstler der lateinischen Poesie genommen war. Die Untersuchung über eine Stelle aus dem Virgil führte zu der Frage, wie er in den Dienst gekommen sei? und als Seume hierauf finster antwortete: »Durch Gewalt von den Preußen wie von den Hessen«, ließ man Gnade für Recht ergehen und befreite ihn von dem Arrest. Der brave General Courbière, welchen die Preußen nach der Schlacht bei Jena mit Achtung öffentlich genannt haben, nahm sich seiner an, erleichterte ihm den Dienst, trug ihm auf, seine Kinder zu unterrichten, und empfahl ihn mehreren Familien. Jetzt hatte Seume keine Not. Aber weil er nicht hoffen durfte, wieder loszukommen, und keine Aussicht hatte, befördert zu werden bei der Einrichtung Friedrichs II., nach welcher nur die Adeligen Offizierstellen erhalten konnten, dachte er an einen neuen Versuch, zu entfliehen, ungeachtet der erste so wenig gelungen war. Es war Winter; die grundlosen Wege und Felder in Ostfriesland mochten eben hart und die weiten, tiefen Gräben eben zugefroren sein, als Seume seinen Posten verließ und, in Dunkelheit der Nacht, das Weite suchte. Noch in ebender Nacht fing es an zu tauen; der Regen strömte vom Himmel und machte die Felder, worauf Seume seinen Weg in der Entfernung von der Landstraße und den Dörfern suchen mußte, zu tiefen Morästen. Länger als vierundzwanzig Stunden war er, durchnäßt und erhitzt, fortgewatet, durch das Eis in tiefe Gräben gesunken und hatte mit fast übermenschlicher Anstrengung sich bis nahe an die Grenze gearbeitet, als er sich erschöpft fühlte und der Ohnmacht nahe in ein Dorf ging. Die Leute halfen ihm; aus seinen Stiefeln floß das Blut; man legte ihn in ein Bett. Der freundliche Amtmann des Orts besuchte ihn, gab ihm Erquickungen und sandte ihn den anderen Tag auf einem Wagen sorgfältig in Stroh gepackt, unter einer handfesten Bedeckung, wieder nach Emden in die Ketten zurück. Wer vermochte jetzt den Unglücklichen, welchen jedermann schon froh in Sicherheit glaubte, den seine Offiziere selbst mit Jammer wieder eingeliefert sahen, zu retten? Zum Unglück war der General, sein Gönner, mit dem Obersten des Regiments gespannt; keiner traute dem andern, um etwas für den Arrestanten gegen die fürchterlichen Kriegsgesetze zu wagen. Die angesehensten Männer in Emden verwandten sich für Seume mit allen Kräften, doch ohne glücklichen Erfolg; vergeblich bat fast die ganze Stadt. Endlich kam die Jugend, an ihrer Spitze die eigenen Kinder des Generals, und baten mit Tränen und Händeringen für ihren geliebten Lehrer um Gnade. »Kinder«, sagte der General, konnte aber vor Wehmut kaum sprechen, »Kinder, ich kann nicht, so gern ich wollte.« – Man nahm Seume die Ketten ab und stellte ihn vor das Kriegsgericht, welches ihn zu zwölfmal Spießruten verurteilte. Finster und schweigend trat er ab, als der Oberst »Halt!« rief. Seume trat wieder vor. Der Oberst sprach weiter: »In Rücksicht des sonstigen guten Betragens des Arrestanten, seines moralischen Lebenswandels und des guten Gebrauchs, welchen er von seinen Talenten macht, auch wegen der Art und Weise, wie er in den Dienst gekommen ist, verwandelt das Kriegsgericht die bestimmte Strafe in sechswöchiges Gefängnis bei Wasser und Brot.« – Der General setzte halblaut hinzu: »Arrestant wird es wohl auch nicht übelnehmen, wenn ihm die Bürger zuweilen ein Stück Braten spenden.« Dieser Wink wurde gut verstanden. Seume schmauste während der sechs Wochen seines Arrestes durch die Gutmütigkeit der Bürger in Emden besser als der General und konnte noch von seinem Überfluß den Kameraden reichlich mitteilen.

Diese letzte Flucht, die blutige Strafe, welche die preußische Disziplin für eine zweite Desertion bestimmte, und die unerwartete glückliche Wendung, mußten Seume noch bekannter machen, als er es schon vorher war, und ihm allgemeine Teilnahme erwecken. Die Sache hatte durchaus keine nachteiligen Folgen für ihn; der Dienst wurde ihm nicht schwerer gemacht, seine Freiheit nicht beschränkter, als sie vor seiner Entfernung war; er konnte seine Lehrstunden wieder fortsetzen, und es fehlte ihm an nichts als an Unabhängigkeit vom preußischen Dienstzwange. Einst fragte ihn ein begüterter, braver Mann, ein Bürger der Stadt: »Warum, Seume, suchen Sie nicht Urlaub, um einmal nach Sachsen zu reisen?« »Ich würde ihn nicht erhalten.« »Sie werden ihn gewiß erhalten; bieten Sie nur eine Kaution.« »Das kann ich nicht, denn ich habe nicht so viel Geld.« »Dann habe ich. Bieten Sie achtzig Taler; sprechen Sie morgen mit dem General!« »Ich komme nicht wieder.« »Was geht das mich an? machen Sie das, wie Sie wollen; achtzig Taler stehen parat.« Seume bat um den Urlaub, erhielt ihn und kam glücklich bei seiner glücklichen Mutter in Poserne an.

Jetzt faßte er den Plan, sich in Leipzig ganz den Wissenschaften zu widmen, und während er seinem Körper nach so vieler Anstrengung Erholung gewährte, den Geist in größere Tätigkeit zu setzen. Wovon aber sollten die achtzig Taler Kaution, die ihm so edelmütig gegeben waren, wiedererstattet werden? Die gute Mutter hätte gewiß den letzten Heller für den geliebten Sohn und das wiedergefundene Glück hergegeben; aber der gute Sohn verschwieg die Schuld sorgfältig, weil er wollte, daß die liebende Mutter sich um seinetwillen nichts versagen und in keine Verlegenheit kommen sollte. Der Kreissteuereinnehmer Weiße, der liebenswürdigste Mensch, den ich in einem Zeitraume von einem halben Jahrhundert habe kennenlernen und dessengleichen ich auf meinen Reisen nirgends gefunden habe, schaffte Rat und half Seume auch aus der Not, die ihm jetzt noch auf dem Herzen lag. Weiße gab Seume einen englischen Roman, Honorie Warren, zum Übersetzen; als dieser mit der Arbeit fertig war, ging jener damit zu dem Buchhändler Göschen, sagte ihm den Zweck derselben und erzählte ihm die Geschichte des Übersetzers. Dieser Roman ist 1788 gedruckt erschienen. Das Honorar dafür wurde nach Emden an den Mann gesandt, welcher durch seine Großmut Seumes Befreier geworden war und auf die Wiedererstattung wahrscheinlich gar nicht gerechnet hatte.

Vielleicht haben wenige Schriftsteller ihre Laufbahn aus so edlen Absichten als Seume begonnen; denn sein erstes Werk ist ein rührendes Denkmal des Edelmuts eines Bürgers in Emden, der Dankbarkeit, Redlichkeit und kindlichen Liebe des Verfassers, wodurch dieses Buch jedem fühlenden Herzen interessant werden muß.

Jetzt widmete sich Seume, nach einer langen und prüfungsvollen Unterbrechung, ganz den Wissenschaften mit aller der Freiheit, die er sich ehemals gewünscht hatte und mit angeborener Liebe und Ausdauer, an dem Orte, den er ehemals aus freiem Entschluß verließ. Der Abweg, welchen er damals von seiner akademischen Laufbahn einschlug, hatte ihn durch scharfe Dornen, durch ein zwar schmerzliches, doch läuterndes Fegefeuer geführt. Die wirkliche Welt, der Umgang mit edlen und niedrigen Naturen, die sonderbaren Verhältnisse wilder, roher und disziplinierter Menschen im Kampf untereinander und mit den Elementen hatten ihm Lektionen gegeben, welche eine herrliche Vorbereitung zu den Studien der Wissenschaften wurden und ihn vor Pedanterie, Schulstaub, Gehaltlosigkeit und Übertreibung sicherten. Um den Aufwand für die geistigen und leiblichen Bedürfnisse auf der Universität zu gewinnen, gab er Unterricht in lebenden Sprachen. Seine Methode war erleichternd für das Gedächtnis, bildend für den Geist, erweckend für das Gemüt; sie und die große Anhänglichkeit der Schüler an ihren Lehrer sind ein Beweis, daß ein vorzüglicher Mensch auf jedem Standpunkt das Rechte trifft und Achtung und Liebe einflößt.

1792 wurde Seume Magister. Der Küster Rothe an der Thomaskirche gab ihm dazu das Geld, zutrauensvoll, ohne Eigennutz, aus reiner Achtung und Zuneigung; ihm ist das Gedicht in den Obolen: »An meinen Freund Rothe« gewidmet.

Zum Beweise hinlänglicher Geschicklichkeit zu einem Magister gehörte damals auch die Ausarbeitung einer Chrie nach hergebrachter Form. Das Formwesen war niemals Seumes Sache gewesen und war es noch weniger jetzt. Da gab es denn beim Examen, statt der Fragen und Antworten, Diskussionen über das Wesentliche in der Meisterschaft der Kunst und in dem Gebiete der Wissenschaft, welche dem Examinator sehr bedenklich und anmaßend vorkommen mußten. Als aber Seume seine Disputation: Die Waffen der Alten, verglichen mit den Waffen der Neuen, verteidigte, war man zufrieden und hielt ihn des Rechts, Vorlesungen zu halten, vollkommen würdig. Der Soldat war in einen Magister verwandelt, oder, welches die Eitelkeit lieber hört, in einen Doktor der Philosophie. Man kann nicht mit Gewißheit entscheiden, ob die Natur Seume mehr Anlage zum Militärstande oder für die Wissenschaften gegeben habe. Sein Körper war stark wie seine Seele. Aber es schien, als ob er zur Mathematik, die einem Anführer in Feldzügen unentbehrlich ist, weniger Talent und Neigung hätte als zu den schönsten Wissenschaften, der Philosophie und Philologie. Damals scheint Seumes Absicht gewesen zu sein, sich für eine akademische Lehrstelle zu bilden. Er hatte vermutlich deshalb, als Vorbereitung, die Stelle eines Instruktors und Erziehers gesucht und eine solche gefunden in dem Hause der Gräfin Igelström durch seinen Gönner Weiße, welcher, durch seine Kinderschriften, das Zutrauen begüterter Eltern in halb Europa erworben hatte und ganz Deutschland mit Hofmeistern versorgte. Jene Dame hielt sich in Leipzig auf, solange ihr Sohn, der Seume zum Führer erhielt, dort studierte. Der Eleve war wild und sein Erzieher nicht wenig mutig und rasch. Einst, als die jetzt verewigte edle Fürstin, Luise Henriette Wilhelmine von Dessau, bei der Gräfin von Igelström zum Besuch war und bei ihr in einer stillen Laube des Gartens saß, jagten die beiden Herren wie ein paar feurige junge Rosse so gewaltsam vor den nervenschwachen Freundinnen vorüber, daß die Fürstin gar sehr erschrak. »Wer ist der finstre, wilde junge Mann?« fragte sie. »Der Führer meines Sohnes«, antwortete die Gräfin mit Lächeln. »Führer?« wiederholte die Fürstin und schüttelte den Kopf. »Ja«, sagte die Gräfin, »und zwar ein sehr guter, wohlunterrichteter Führer! ein sehr redlicher, interessanter Mann.«

Als der junge Graf seine akademischen Studien geschlossen hatte, holte ihn sein Vater von Leipzig ab. Dieser nahm auch Seume mit und führte ihn zu seinem Bruder, dem russischen bevollmächtigten Minister und General en chef. Er wurde Sekretär des Generals, kam mit demselben 1793 in Warschau an, gewann die Achtung desselben und erhielt von ihm eine Offiziersstelle bei den Grenadieren, damit er Gelegenheit zum Emporsteigen bekommen möchte. Im Besitze des unbeschränkten Vertrauens mußte er alle wichtigen diplomatischen Papiere in jener kritischen Periode, welche der Teilungsgeschichte Polens folgte, für die große Kaiserin Katharina die Zweite ausarbeiten. Der General hatte nicht unterlassen, den Verfasser dieser Aufsätze der Kaiserin zu nennen, und diese hatte ihm die Beförderung seines Grenadierleutnants empfohlen.

Igelström und Seume! Das war eine Verbindung eigener Art. Der alte Hof- und Staatsmann war üppig, prachtliebend, sinnlich, verständig und klug; aus Diensteifer ein tüchtiger politischer Despot, übrigens ein braver Soldat, großmütig und gutmütig. Man hat ihn vieles Bösen beschuldigt; aber Seume hat ihn mit Unparteilichkeit gerechtfertigt in einer Schrift, welche er über die damalige Lage der Dinge in Polen geschrieben hat und welche gleich erwähnt werden wird. Diesem Manne stand Seume zur Seite, wie wir ihn kennen, Seume, der immer die Wahrheit unverholen sagte und von den polnischen Angelegenheiten ganz andere Ansichten hatte als der General und die Kaiserin. Demungeachtet bewies Igelström seinem Sekretär privatim und öffentlich die größte Achtung und ein aufrichtiges Wohlwollen. Der polnische General Kosciuszko hatte die Russen geschlagen; diese nannten ihn einen Meuterer und Bösewicht; Seume sagte, er sei der edelste und bravste Pole, und Igelström erwiderte nichts weiter darauf als: »Mon cher, Sie sind ein sonderbarer Mensch.« Wenn Seume in seinem schlechten Oberrock manchmal von seinem Schreibtisch aufsprang, um den General über etwas zu fragen, und ohne Toilette durch das Vorzimmer eilte, worin die vornehmen Polen und Russen vom Militär- und Zivilstande auf Audienz warteten, so hielten ihn diese für einen Domestiken des Generals und behandelten ihn herablassend; er sie dagegen ohne Komplimente, wie seinesgleichen. Der Mensch kam ihnen noch sonderbarer vor, wenn sie ihn hernach an der Tafel mitten unter sich sitzen sahen, wenn der General ihn nicht anders als mon cher nannte und ihm auch wohl eine seltene Schüssel sandte, wenn er wußte, daß Seume sie gern aß. Die Erscheinung war ihnen ein Rätsel, das sie manchmal aus dem Takt brachte und dessen Auflösung oft komisch genug war. Der Ton an des Generals Tafel war ungezwungen, heiter, interessant und witzig. Nicht selten fochten die dort anwesenden Kriegsmänner mit Epigrammen gegeneinander, und unter ihnen waren mehrere, welche, unbeschadet ihrer militärischen Verdienste, mit den Musen so vertraut waren, daß sie während des Essens sehr schöne Verse aus dem Stegreif machen konnten. Der junge, schöne Major von Igelström, ebenso mutig als geistreich und gut, ein naher Verwandter des Generals und ein glänzender Stern in jener Gesellschaft, war vorzüglich Seumes Freund.

Nach und nach wurde es in Warschau bekannt, daß der Sekretär bei seinem Chef viel galt; da versuchte man denn eine Zeitlang, ihn zu allerhand vorteilhaften Spekulationen zu benutzen, bis seine Uneigennützigkeit und Redlichkeit ebenso bekannt wurden als die Gunst des Generals und bis die Bestecher sich einander ins Ohr flüsterten: »Mit dem Menschen ist nichts anzufangen.« Unter anderm bat ein Jude um seine Protektion bei Gelegenheit eines Magazinverkaufs. Er meinte, es sei doch besser, daß ein so verdienstvoller Mann wie der Sekretär und ein so ehrlicher Mann als er, der Kauflustige, bei der Sache gewönnen, als ganz fremde und habsüchtige Menschen. »Was wollen Sie denn geben?« fragte Seume; der Jude nannte eine Summe. »So viel«, sagte Seume, »ist die Sache nicht wert; es scheint, Sie haben sich sehr verrechnet. Sie werden Ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllen können. Bleiben Sie davon!« »Was?« erwiderte der Jude empfindlich, »ich mich verrechnen? Ich versichere Ihnen, daß noch eine hübsche Summe schöner Dukaten für Sie und für mich ein ganz honettes Profitchen übrigbleibt.« Seume wies den Mann zum General und fertigte ihn mit der Versicherung ab, daß er sich in ihm sehr geirrt habe und auf ihn gar nicht rechnen dürfe. So muß man es anfangen, wenn man arm, aber ruhig leben und sterben will.

Der General Igelström versuchte den Stoiker ein wenig zu sybaritisieren; aber auch er sagte sehr oft in guter Laune: »An dem Menschen ist Hopfen und Malz verloren.«

Auf heiteres Wohlleben folgten nun wieder Schrecken des Todes. Die Kaiserin verlangte eine Reduktion der polnischen Nationaltruppen; die Polen widersetzten sich, und es brach die Revolution, welche schon lange unter der Asche glimmte, endlich in vollen Flammen aus. Über hunderttausend Polen hatten sich verschworen, und, was unglaublich scheint, diese aus Menschen aller Art zusammengesetzte Verschwörung blieb zwei Jahre lang verschwiegen. Die interessante Begebenheit, ihre Veranlassung und Folge, erzählt Seume in einer Schrift unter dem bescheidenen Titel: »Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen im Jahre 1794, Leipzig 1796«, welche er dem Herrn Grafen von Hohenthal auf Knauthain aus Dankbarkeit zugeeignet hat. Er sagt in der Vorrede:

»Es war einer der schönsten Tage meines Lebens, als ein rechtschaffner Mann mich Ihnen, verehrungswürdiger Wohltäter, einst mit den Worten empfahl: Er ist ein Knabe guter Art; der Segen seines Vaters ruht auf ihm. Seine Empfehlung galt, und noch jetzt tut dem Kriegsmanne die Erinnerung im Herzen so wohl, als sie dem Jünglinge oft am Grabe des Vaters tat.«

Nachdem er die Verbindlichkeit, welche der Graf ihm aufgelegt, öffentlich bekannt hat, fährt er fort:

»Wenn irgendeine gute Seele bei einer gutgedachten und gutgesprochenen Stelle mir mit einer leisen Empfindung des Dankes lohnen sollte, so übergebe ich Ihnen den Zoll, den ich durch Ihre Güte zu empfangen in den Stand gesetzt wurde.«

Die Darstellung jener fürchterlichen Tage in der genannten Schrift, als ein wichtiges Stück aus Seumes Leben und von ihm selbst geschrieben, muß hier mit seinen eigenen Worten eingeschaltet werden.

»Nachdem die Russen von den Polen geschlagen waren, fingen die Unruhen auch in Warschau an. Der General Igelström nahm dagegen Maßregeln, und nun brach das Blutbad am grünen Donnerstag aus. Die Polen glaubten das Prävenire wählen zu müssen. Ungefähr viertausend Mann polnisches Militär befand sich in Warschau, für welches ihre Chefs mit ihren Köpfen zu bürgen versprachen; aber ihre Bürgschaft half den Russen nichts. Das Verständnis war nur unter einigen kleinen Offizieren von der Krongarde zu Fuße und zu Pferde und von der Artillerie, kaum einigen hunderten Gemeinen und einigen hunderten der unternehmendsten Köpfe von der Populace. Sehr wenige Stabsoffiziere entschlossen sich, Partei zu nehmen. Die Subalternen führten ihre Kompanien, als ob es zum Exerzierplatz ginge, und alles gewann bald ein ziemlich wohlgeordnetes Ganzes. Um Mitternacht brachten die Kosaken schon Rapport von häufigen Bewegungen. Die Mirsche Kavallerie tat früh ungefähr um fünf Uhr den ersten Angriff auf einen russischen Posten von zwei Kanonen, nicht weit vom eisernen Tore, hinter dem sächsischen Palaste, war glücklich in schneller Überraschung, hieb den größten Teil der Leute nieder; vernagelte die Kanonen, und bald lief das Feuer durch die ganze Stadt. Die Russen waren sogleich auf ihren bestimmten Posten, aber alles war noch wie in einer fremden Welt und wußte so wenig von der Absicht der andern bei dem Lärm, daß russisches und polnisches Militär noch mit Honneurs voreinander vorüberzogen. Mit vieler Geschicklichkeit hatten die Polen, welche natürlich die russischen Posten wußten, die verschiedenen Kommandos abgeschnitten. Nun gab es erst Erklärungen, und in kurzem war alles in Feuer. Die Polen öffneten das Zeughaus und führten ihre zahlreiche ziemlich wohlbediente Artillerie heraus und fingen an aus allen Kräften mit derselben zu arbeiten. Bis ungefähr um zehn Uhr war das Gefecht noch sehr furchtsam von seiten der Polen, indem die Populace sich noch scheute, sogleich tätig Partei zu nehmen. Aber um diese Stunde hatte man schon einige Offiziere gefangen, einige Posten und einige Kanonen genommen; und alles strömte nun nach dem Zeughause, um Waffen und Munition zu holen, welche man denn auch an alle und jede mit Vergnügen austeilte. Auch war schon an verschiedenen Orten Munition aufgeführt. Man stelle sich vor, daß von den Russen nicht mehr als fünftausendfünfhundert Mann unter dem Gewehr standen, daß fast eine gleiche Anzahl polnischer Soldaten und gewiß über zwanzigtausend Bewaffnete aller Art gegen dieselben fochten, daß die Polen eine Überlegenheit in der Menge ihrer guten und wohlbedienten Artillerie hatten, daß sie überall den Vorteil der Position in den engen Gassen und allen Plätzen durch genauere Kenntnis der Lokalität sich zu erwerben wußten, daß sie nicht von Enthusiasmus, sondern von Wut hingerissen blind auf den Tod liefen; nehme man dieses alles, und man kann fast nach mathematischer Berechnung den Ausgang der Aktion bestimmen. Einige Bataillons der Unsrigen gingen unstreitig etwas zu frühe unter dem Kommando des Generals Novitzky aus der Stadt; und das Ganze konnte also deswegen noch weniger einen Vereinigungspunkt gewinnen. Hätte der General Igelström am Donnerstage das ganze Unternehmen der Polen, alle ihre Vorteile und die ganze augenblickliche Lage der Seinigen gekannt; ich bin versichert, er würde nicht mit Hartnäckigkeit die Stadt haben behaupten wollen, da ihm der Rückzug noch frei stand. Aber Mangel an Kommunikation ließ selbst den kommandierenden General nur einen Teil der Geschichte übersehen; und diese Kommunikation war unter den Umständen gar nicht so leicht, als mancher wohl glauben dürfte. Es wurden viele Kuriere erschossen oder gefangen, die von einem Posten zum andern geschickt wurden. Das Gefecht dauerte mit abwechselndem Glücke den ganzen Donnerstag fort. Eine offene Feldschlacht ist nach dem Zeugnis aller alten Offiziere ein Spielwerk gegen eine solche Mönchsklepperei, wo der ehrliche Kerl aus dem Winkel niedergeschossen wird, ohne einen Feind zu sehen. Die Schüsse flogen von den Ecken, aus den Kellern, aus den Fenstern, über die Mauern, von den Dächern; und von unten und oben und von allen Seiten und überall war Tod, und niemand zeigte sich. Ungefähr siebzig Kanonen von verschiedenem Kaliber arbeiteten ohne Aufhören durch die Plätze und Gassen der Stadt; bald drängten die Russen, bald die Polen. Das Rikoschet der Kartätschen rasselte grell von einer Mauer zur andern und schlug nieder, was die geraden Kugeln nicht fassen konnten. Schon waren die Straßen mit Leichen bestreut. Man konnte schon deutlich sehen, daß wir uns unmöglich würden halten können. Die Nacht brach ein; das Postengefecht dauerte fort. An allen Ecken und Plätzen der Stadt arbeitete das Geschütz; und das kleine Gewehr machte von allen Quartieren eine grelle Musik während der Pausen. Die Nacht war furchtbar schön. Der Himmel schien sie gemacht zu haben, um den Menschen Spielraum zu ihrer Torheit zu geben; mit glänzender Ruhe blickte der Mond auf den Wahnsinn der Elenden herab. Die beiden Abende werden lange, vielleicht immer ihr Bild in meiner Seele lassen; es ist groß und schrecklich. Der ferne und nahe Donner der Stücke, der sich fürchterlich dumpf durch die Straßen brach, das Geknatter der kleinen Gewehre, der hohle Ton der Lärmtrommeln, der Totenlaut der Sturmglocken, das Pfeifen der Kugeln, das Heulen der Hunde, das Hurrageschrei der Revolutionäre, das Klirren ihrer Säbel, das matte Ächzen der Verwundeten und Sterbenden; nehmen Sie dieses alles in der tiefen, hellen, herrlichen Mitternacht, und vollenden Sie das Gemälde nach Ihrem eigenen Gefühl. Ich vergaß unter der Größe des meinigen der Gefahr und freute mich einige Augenblicke, bei der schaurigen Szene gegenwärtig zu sein. Schon den Donnerstag nachmittag waren die Polen in das Hinterteil des Igelströmischen Palastes, wo der Ingenieurgeneral von Suchteln stand, einmal eingedrungen und hatten aus demselben alle Hofzimmer, unter denen die Gesandtschaftskanzlei war, mit ihren Kugelbüchsen zerschossen; wurden aber nach einer Stunde wieder daraus vertrieben. Von allen Seiten wurde der Palast bedrängt, und schon gegen fünf Uhr abends das hintere Tor, welches die Polen mit Gewalt zu erbrechen suchten, verrammelt und der Torweg mit toten Pferden gesperrt. Zu bewundern war es, daß nichts Feuer fing; indem das Schießen von beiden Seiten so heftig war, daß man vor Dampf keine Handbreit im Hofe sehen konnte. In der Nacht selbst gab der General die Hoffnung auf, sich länger halten zu können. Die Zeit eines glücklichen Rückzugs war verstrichen, und nun dachte man bloß auf Rettung. Der General schickte verschiedene Offiziere als Kuriere zu dem damaligen Brigadier Mokronowsky, der an der Spitze der Revolutionäre stand, um wegen des Auszugs zu verhandeln; aber keiner kam zurück; und wenn man auch dieses Verfahren der Polen mit der allgemeinen Verwirrung entschuldigen wollte, da man ihnen durch die Wut des Pöbels keinen sichern Rückweg schaffen konnte, so ist doch das folgende Benehmen der Herren, die durchaus mit ihren Kanonen Gerechtigkeit predigen wollten, sonderbar genug, indem man alle diese Offiziere, unter welchen selbst der Brigadier Bauer sich befand, hernach als Kriegsgefangene behielt, da sie doch auf Treu und Glauben mit Trompetern gekommen waren; eine von den vielen Inkonsequenzen, die man in der ganzen Geschichte findet. Der General Igelström schaffte sich endlich mit ungefähr vierhundert Mann, nachdem er sich im engsten Gedränge noch bis den Freitag nachmittag geschlagen hatte, mit Gewalt nach der Seite von Povonsk einen Ausweg. Hätten die Polen Disposition und Entschlossenheit genug gehabt, so wären wenige Russen durchgekommen, gestehen selbst einige wackere Offiziere von den Unsrigen, die bei der Retirade waren; aber die Russen fochten wie Russen. Die Grenadiere wiesen jeden Vorschlag und Zuruf, sich zu ergeben, mit Verachtung zurück und sagten: ihre Bajonette würden ihnen schon Durchgang verschaffen. Auch schleppten sie wirklich Schwerverwundete unter dem heftigsten Feuer von allen Seiten bis vor die Stadt hinaus, wo sodann die herbeieilenden Preußen ihren Rückzug deckten. Ich hatte das Unglück, da ich eben einen schwerverwundeten Kameraden, den ich schon einige Male besucht hatte, auf noch einige Augenblicke sehen wollte, in der Eile zurückgelassen, abgeschnitten, von einem Ort zum andern getrieben und endlich gefangen zu werden. Was seit der Zeit im Felde vorgegangen ist, kann ich nicht als Augenzeuge, sondern nur durch Nachrichten und aus der Wirkung wissen, die es auf Warschau hatte; und auch dieses nur unzulänglich, da unsere Gefangenschaft so enge war, daß wir Kriminalverbrechern ziemlich ähnlich sahen.

Den Freitag nachmittag hatte sich also der General Igelström mit den einigen Hunderten, die er noch zusammenziehen konnte, durchgeschlagen und sich mit den Preußen vereinigt. Die Zurückgebliebenen wurden meistens niedergemacht, wenn sie nicht so glücklich waren, einem vernünftigen Militär oder sonst menschlichen Menschen in die Hände zu fallen. Ich verbarg mich im Hotel des Grafen Borch, wo mein verwundeter Freund lag, in welches ich, als ich zu den Unsrigen retirieren wollte, von einer Partei zurückgetrieben wurde. Das Gemetzel fing nun erst an recht wütend und grausam zu werden, da die Polen nun entschieden überall das Übergewicht hatten und der bewaffnete Pöbel selten Gefühl für Menschlichkeit hat; und das Schießen dauerte, wiewohl nicht so stark als gestern und heute vormittag durch die ganze Stadt fort bis ohngefähr um Mitternacht, wo sodann nur unterbrochen aus kleinem Gewehr gefeuert wurde. Den Sonnabend früh fing es in einzelnen Parteien, wo sich noch die Feinde trafen, zuweilen hartnäckig wieder an, indem sich einige Rotten Russen wie Verzweifelte wehrten; hörte aber gegen den Mittag ganz auf. Denn jetzt wurde zur Ruhe geschlagen und geblasen; und hier muß ich gestehen, so groß vorher das Geschrei, der Lärm, das wilde Geschieße und verworrene Geheul bei Morden und Plündern gewesen war, so schnell war nun alles stille; es fiel kein Schuß, kein Schlag mehr. Ich war so glücklich gewesen, vor der Wut der besoffenen Parteien mich verborgen zu halten, indem ich wirklich in den Todesstunden, wo keiner der Unsrigen, als nur Erschlagene und Halbtote, mehr zu sehen war, meine Retirade hinter ein großes Bollwerk alter Fässer auf einem der obersten Böden nahm. Unzählige Parteien zogen zu Mord und Raube unter und neben mir hin, rekognoszierten glücklich umsonst alle Schlupfwinkel um mich her und zogen mit dem tröstlichen Fluche fürbaß: Verdammt, hier sind keine Russen. Sie sehen, lieber Freund, daß ich sehr offenherzig erzähle, da niemand um die Geschichte weiß als ich selbst; denn daß ich die Nacht vom Karfreitag zum heiligen Sonnabend ganz ruhig hinter einer Batterie Tonnen auf einem der höchsten Böden Warschaus über Welt und Menschen und ihre und meine Narrheit philosophierte, wird man wohl schwerlich unter die Heldentaten rechnen.

Nachdem ich einmal das Unglück gehabt hatte, zurückzubleiben; und wer damals zurückblieb, den konnte man eben nicht geradezu der Poltronnerie zeihen; nachdem ich mich ferner ziemlich mathematisch überzeugt hatte, daß ich allein wohl schwerlich Warschau behaupten würde, so fing ich omnibus modis an darauf zu denken, wie ich nun meinen Hirnschädel endlich sichern möchte; und der Himmel war so gnädig, mich zu schützen. Der fürchterlichste Augenblick meines Lebens war der Sonnabend morgen, als das Gefecht in einzelnen kleinen Partien wieder anfing. Es hatten sich nämlich noch einige von unsern Soldaten mit mehreren Bedienten, Weibern und Kindern von der Ambassade auf einen Boden des andern Flügels von dem Gebäude retiriert, den von mir nur eine dünne Bretterwand schied. Eine starke Partei vermutlich von gestern oder schon wieder heute besoffener Polen drangen auf den Boden, und die russischen Soldaten wollten den Angriff zurücktreiben. Das Gefecht fing also oben an. Stellen Sie sich vor, auf einem Obergebäude das Krachen der Schüsse, das Geklirr der Gewehre, das wütende, unartikulierte Gebrülle der Polen, das Geschrei der Russen, das Kreischen der Weiber und Kinder in der Todesangst; es ist doch etwas ganz anderes, als wenn man dergleichen nachgemacht auf dem Theater sieht und hört. Ich selbst war für mich in diesem Momente in Sicherheit; aber mein Gefühl ergriff mich mächtig; ich bebte, ich fühlte Kälte durch meine Glieder fahren, die Haare starrten unter dem Hute; ich glaube, es war selbst Todesangst: es war eine unnennbare schreckliche Empfindung, die ich in meinem Leben weder vorher noch nachher gehabt habe. Mir war diese Erfahrung Bestätigung einer Meinung, die ich immer gehabt habe; um das Gefühl eines Mannes zu seiner Höhe zu treiben, gehört notwendig die ganze Macht der Sympathie: Zufälle seiner eigenen abgesonderten Individualität reißen ihn nie so sehr außer sich, daß er sein Gleichgewicht verlöre, oder er verdient nicht mehr, daß man ihn Mann nenne. Ich hatte während der ganzen Zeit meiner Kryptomilitärschaft hinter den Tonnen meinen Degen in der Faust, um ihn an vernünftige Leute mit Anstand abzugeben oder ehrlich in der Arbeit zu sterben, wenn mich eine Rotte Bedlamisten entdeckte; ein Tertium war schwerlich denkbar. Ich hatte seit Mittwoch abend nichts als einige Bissen Konfekt gegessen, die mir ein Soldat vom Raube reichte, und einige Male einen Trunk Wasser getrunken; Sie können also leicht denken, daß mich den Sonnabend früh Hunger und Durst plagte. Ich rekognoszierte von oben herab die Straße, als sich der Lärm etwas zu legen anfing; aber alles war noch voll Verwüstung und Verwirrung. In dem Hofe des Palastes waren zum wenigsten noch einige Hundert bunten Gesindels aller Art, mit Waffen aller Art, schrien Sprachen aller Art durcheinander; und nur zuweilen brach mit unaufhaltbarer Gewalt der Jubel: Freiheit und Kosciuszko! durch den Haufen. Ganz matt warf ich mich auf den Boden und schlief recht ruhig ungefähr eine Stunde, als mich der hohle Lärm von Fußtritten und das Stampfen der Gewehrkolben weckte: ich fuhr auf und setzte mich wieder in meine alte Positur; aber auch diese Gesellschaft ging fluchend vorüber, ohne mich zu wittern. Ich wartete noch eine Weile; Hunger und Durst fingen von neuem an gewaltig zu werden; ich hesitierte noch etwas, denn wer hesitiert nicht ein wenig, ehe er den Fuß rückt, wenn der Schritt den Kopf gilt? auch wenn er ziemlich hungrig und durstig ist. Nach kurzer Überlegung ließ ich den Degen liegen, riß die Kordons vom Hute, warf Feldzeichen und Feder weg und marschierte so entschlossenen Mutes, da ich zum Glück nur einen blauen Überrock an hatte, durch das Getümmel. Zwei Schildwachen standen am Eingange des Hauses, viere am Tore; niemand bemerkte mich unter der Verwirrung. Alle Straßen lagen voll toter Pferde, Sättel, Mäntel, Monturen, Kasken und Exuvien aller Art; die Kadaver der Gebliebenen hatte man gleich des Morgens zusammengesammelt und in den verschiedenen Gegenden der Stadt in Haufen gestapelt, um sie zu zählen und von da sie zu begraben oder in die Weichsel zu werfen. Mich deucht, in der Geschichte mehr Beispiele gelesen zu haben, daß man bei Warschau die Toten in die Weichsel warf. So philosophisch man auch denken mag, empört ein solches Verfahren doch immer das Menschengefühl: ehemals sah man es als etwas Charakteristisches der alten Barbarei an, und jetzt kann es ein Beispiel sein, daß unser Jahrhundert sich von derselben bei weitem noch nicht völlig losgemacht hat. Alles fand ich auf der Straße; die Revolutionäre mit noch blutigen Waffen unter Hurrarufen, die andern als Neugierige, und nicht wenige zeigten sich zu ihrer eigenen Sicherheit; indem niemand sicher war, der nicht wenigstens an der Freude äußerlich teilnahm. Pistolen und bloße Säbel waren in aller Händen; und ich habe selbst Männer wandeln gesehen, die zwei Paar Pistolen im Gürtel trugen, in der einen Hand den Säbel hatten und am andern Arm eine Dame führten. Sie können sich leicht vorstellen, daß meine Promenade keine der angenehmsten war; ich durchwandelte ohne geflissentlich viel Notiz zu nehmen einige Gassen. Das Haus des Generals Igelström war ganz zerstört, es stand nur das Gerippe davon da; in denjenigen einiger andern Russen hatte man nicht viel glimpflicher gehaust. Mein erster bestimmter Gang war zu dem sächsischen Major Herrn von Geßnitz, bei dem ich als einem Landsmanne mir die erste Nachricht von dem Ausgange und der Lage der Sachen holen wollte, da ich selbst weiter nichts wissen konnte, als daß die Unsrigen fort waren. Der Major kam mir mit weit größerer Angst entgegen, als ich selbst hatte, und bat mich um Gottes willen, nicht in sein Haus zu kommen. Dem Vater einer Familie mußte dieses Gefühl natürlich sein; ich versicherte ihn, daß ich durchaus nicht meine Sicherheit auf Kosten der seinigen erkaufen wollte, auch wenn man mich vor seiner Schwelle niederhauen sollte. Er konnte oder wollte nicht viel sprechen und schien meine augenblickliche Entfernung zu wünschen. Auf seinen Rat sollte ich nach dem Rathause in der Altstadt zu dem erwählten Präsidenten Sakreczewsky gehen und mich zum Arrest melden. Unwillkürlich marschierte ich von ihm fort durch den Sächsischen Hof, um einen andern Freund, den Doktor Blauberg, aufzusuchen, der als Arzt doch nicht mit bei der Schlächterei gewesen sein konnte. Hier erschien ich als ein Gespenst; denn ich sollte mit Gewalt den vorigen Tag nicht weit von dem Hause gefallen sein, und die Bedienten hatten noch die Identität meines Kadavers nach genauer Besichtigung behauptet. Kaum wollte man mir glauben, als ich selbst das Gegenteil versicherte. Den Doktor selbst hatte man eine halbe Stunde vorher als den Russen anhänglich abgeholt, und sein alter Schwiegervater bat mich inständig, ihn nicht in Gefahr zu setzen. Er bot mir Säbel und Pistolen an, damit ich unter der Maske eines Revolutionärs sicher in das Arsenal kommen könnte. Ich liebe nie die Maske; ich dankte ihm und wandelte voll Verdruß einige Gassen auf und ab. Der Mann meinte es gut; er war selbst Pole und konnte nichts anders tun, wir waren beide in Verlegenheit. Ich kam unvermerkt wieder in den Sächsischen Garten und hielt hier, auf dem besten Spaziergange in Warschau, mit mir selbst Kriegsrat, was ich wohl mit meinem Kopfe anfangen sollte. Alle Ausgänge waren besetzt, die Gegend wimmelte von Truppen und wilden Revolutionären; und vor der Stadt, sagte man mir im Hause des Doktors, wird alles niedergehauen, was man auffängt. Noch unentschlossen, was ich tun sollte, war ich in Gedanken in die Krakauer Vorstadt gekommen, und hier hielt das Schalinskische Regiment mit seinen Kanonen. Einige Offiziere sprachen französisch, und plötzlich fiel mir ein, es wäre am besten, ich bliebe hier; und sogleich war ich bei ihnen. Meine Herren, sagte ich, ich bin ein russischer Offizier, bei Ihnen kann ich hoffentlich sicher sein. Sie sahen mich voll Verwunderung an, und mir selbst war es nun unbegreiflich, wie ich, da ich doch Uniform-Unterkleider trug und der Hut mit Knopf und Litze noch ganz militärisch aussah, durch das wütige Gewimmel gekommen war. Meine erste Bitte war um etwas Trinken, und sie ließen sogleich aus der nahen Apotheke etwas Zimmetwasser holen, welches mir mit einem Stück Kommisbrot auf der Kanone recht köstlich schmeckte. Die Offiziere waren sehr höflich und artig und fragten und sagten manches über die Begebenheit; einige davon erinnerten sich nun, mich in der Uniform gesehen zu haben. Sogleich versammelten sich um uns her einige Dutzend von der Populace und fragten mit grimmigen Blicken: ob ich kein Russe wäre? da ihnen aber ein Offizier sagte, ich sei ein Franzose, und sie mich französisch sprechen hörten, gingen sie halb mißtrauisch weiter. Sie haben uns viel, sehr viel zu schaffen gemacht, sagte mir sodann ein Offizier, welcher deutsch sprach; unser Regiment hat zweihundertfünfzig Mann Verlust; aber wie konnte Ihr General die Stadt gegen unser Militär, unsere starke Artillerie, unsere ganze bewaffnete Bürgerschaft, gegen alle unsere Vorteile, die uns Lokalkenntnis gab, behaupten wollen? wahrlich, die Idee war gigantisch. Ich sagte ihm, daß man Vorfälle nicht immer vorhersehen könne und daß keiner gewinnen würde, wenn sich der andere nicht verrechnete. Alle waren sehr artig; und zwei von ihnen begleiteten mich nach dem königlichen Schloß, wo mich Makronowsky, der eben dort war, auf die Hauptwache bringen ließ.

Als ich den Sonnabend nachmittag im Schlosse anlangte, hatte man eben vor dem Schloßtore noch einige Russen niedergehauen, die die Wache nicht retten konnte. Nun fing die Ungezähmtheit und Gesetzlosigkeit an, ihre Kräfte zu zeigen. Alles trug Waffen; und nur sehr wenige hatten Vernunft genug, um zu sehen, was weiter geschehen würde. Es herrschte bloß Haß, Wut und Wahnsinn; und um die Grausamkeiten zu beschönigen, erdichtete man die lächerlichsten Beschuldigungen. Leicht ist es, die Rache des Pöbels zu reizen, aber sehr schwer, sie zu besänftigen. Man sprach von Freiheit, und niemand hatte davon einen Begriff; alles war zügellos, und bei der geringsten Veranlassung drohte man, alle Gefangenen ohne Unterschied zu morden. Die einstweilige Regierung wandte zwar alles an, um wieder Ordnung herzustellen; aber folgendes Beispiel zeigt, wie schwach das Ruder gegen den Sturm war. Bei einer kleinen nichtswürdigen Veranlassung wurden den ersten Osterfeiertag achtzig russische Gefangene niedergemetzelt. Ich habe die Geschichte mit den Umständen von einem Polen, der Augenzeuge des schändlichen Schauspiels gewesen ist, der zuvor nichts weniger als russischer Partisan war, aber nach und nach, durch wilde Unordnung und dergleichen Unmenschlichkeiten getrieben, selbst in der größten Gefahr fast immer für uns war. Obige Anzahl Gefangener sollte von einem Ort zum andern gebracht werden. Alles geht, natürlich voll Neugierde, bewaffnet vor, neben und hinter ihnen her, um recht nach Herzenslust spotten und schimpfen zu können, welches jederzeit das Vergnügen des Pöbels jeder Art ist. Ein kleiner giftiger Junge, dem vermutlich die Physiognomie eines der Gefangenen zuwider war oder der von ihm auf seine Spottfragen eine nicht genug demütige Antwort erhalten hatte, schießt mit der Pistole nach ihm, trifft aber zum Unglück einen dabei kommandierten Offizier durch den Arm und hat die listige Bosheit, die Pistole dem Gefangenen unter die Füße zu werfen und zu sagen: dieser habe sie ihm aus dem Gürtel gerissen und nach dem Offizier geschossen. Alles ward wütend, schrie Halt! und wollte sogleich über die Gefangenen herfallen. Die Menge wuchs, man führte schon Kanonen mit Kartätschen herbei, und kein Ansehen einiger herbeigeeilten Magistratspersonen half etwas. Die Gefangenen fielen auf die Knie, baten flehend und mit gefalteten Händen, man möchte untersuchen und den Schuldigen töten; nichts, man drohte, alle Gefangenen in allen Gefängnissen zu ermorden, wenn man ihnen nicht diese preisgeben wollte. Die Krise war schrecklich: das Militärkommando war nicht stark genug, den bewaffneten Pöbel zu zähmen; er fiel mit dem Säbel über die armen Elenden her und metzelte sie mehr als schlächtermäßig alle nieder. Leute, die zugegen gewesen sind, können das Gräßliche des Anblicks nicht genug beschreiben, wie die noch zuckenden rauchenden Glieder der Zerstümmelten in einem kleinen Raum auf der Methstraße umhergelegen haben. Das ist Volkswut. Gesetzt auch, welches doch selbst Polen als nicht wahr eingestehen, daß der Gefangene die Pistole im Grimm ergriffen habe, so konnten doch nur Unmenschen deswegen so viele Unschuldige niederhauen. Dieses war einer der kritischen Augenblicke für die Gefangenen; und der Major Wengersky, der durch seinen Volkston viel Ansehen und Gewalt über die bewaffnete Menge hatte, sagte nachher zu uns: »Kinder, dieser Sturm war gestillt, gebe Gott, daß er nicht von neuem ausbreche; sein Sie um Gottes willen ruhig und vorsichtig; denn in dieser Lage kann man für nichts stehen.« In der Schloßwache waren ohngefähr sechzehn gefangene Offiziere von den Unsrigen, die meisten verwundet und einige sehr schwer. Hier wurden wir aus des Königs Küche gespeist, und man begegnete uns mit vieler Artigkeit. Nach vierzehn Tagen wurden die Kranken in das Spital und wir übrigen in das Kommissionshaus gebracht, wo wir mehrere unserer Kameraden vorfanden. Hier trat die neuerwählte Kommission ihre Funktion förmlich an und nahm uns unter nähere Aufsicht, und wir gewannen täglich mehr das Ansehen von Kriminalisten. Kaum hatten wir Stroh zum Schlafen; zum Essen nicht Messer und Gabel; und erst nach einigen Wochen ließ man sich bedeuten, daß wohl schwerlich ein Offizier über Tische mit einer Gabel sich oder seine Wache töten würde. Man fing an, uns Messer und Gabel, jedoch nur bei Tische, zu erlauben, und jedesmal standen bei dem Essen doppelte Posten mit bloßem Säbel oder gespanntem Hahn. Bier wollte man anfangs nicht zulassen. Aber an Branntwein fehlte es nie, welches mir gewaltig inkonsequent deuchte; Bücher sollten gar nicht und noch weniger Schreibmaterialien erlaubt werden, so daß sogar ein Arzt sein anatomisches Kompendium verstecken mußte, das er noch durch Zufall gerettet hatte. Hernach wurde man humaner, und endlich hatte Herr Sablotzky von der Kommission sogar selbst die Güte, mir einen beträchtlichen Vorrat Papier zuzustellen, weil er wußte, daß ich ein Poetaster war, und die Poeten sich um politische Intrigen sehr selten bekümmern. Die zweite Krise war vor dem Tage der Hinrichtung der Herren Ozarowsky, Ankewicz, Kossakowsky und Sabiello. Ankewicz, gewesener Präsident des Conseil permanent, hatte, sagt man, einen falschen Lärm veranstalten lassen, als ob die Russen und Preußen zurückkämen, um die Stadt anzugreifen; bei dieser Gelegenheit sollte dann seine Partei die Gefangenen befreien und so vereinigt versuchen, ob für ihn und sie nicht Rettung möglich wäre. Alles stürmte nach dem Arsenal, es wurden Kanonen vorgefahren, es fielen hin und wieder Schüsse: und kein Gefangener durfte es wagen, sich am Fenster zu zeigen, so drohete man abzudrücken. Man fand den Lärm bald falsch; aber alles war eben deswegen in der entsetzlichsten Gärung.

Dieses war ein Donnerstag; den Freitag wurden schnell die Dekrete für die Obenbenannten abgefaßt, und sie wurden hingerichtet. Noch immer droheten Unvernünftige und wahnsinnige Schwärmer den Gefangenen den Untergang, und die Strenge gegen sie ließ nicht nach. Man erlaubte kein Licht und keine Bücher; aber wohl Branntwein und Karten; eine Maßregel, die mir ganz abderitisch vorkam; denn wirklich waren unter einer Menge junger Leute, die auch nicht alle die feinste Bildung hatten, über dem Spiele Rausch und heftiger lärmender Zank nicht selten. Einige Tage nachher hatten einige Offiziere von Distinktion für mich die Erlaubnis erhalten, daß ich in den sogenannten Brühlschen Palast gebracht wurde, wo ehemals Repnin und Stackelberg gewohnt hatten, und wo alle Ausgezeichneten unter den russischen Gefangenen und das ganze Corps diplomatique saßen. Alle waren bis auf das letzte Hemde ausgeplündert; eine Methode, die sich doch wahrlich nicht mit der gepriesenen Menschlichkeit der Revolutionäre vertrug. Noch einige Monate nach der Periode machte der Graf Moschinsky dem General Suchteln ein Geschenk mit einem Hute, weil er bisher beständig hatte müssen mit bloßem Kopfe gehen. Man erlaubte selbst keinem Offiziere, das Geld zu empfangen, das ihm von seinen Verwandten von außen her zur Erleichterung ihres Zustandes zugeschickt wurde, sondern zählte es ihnen nach und nach in Dukaten zu, daß sie sich kaum einzelne Kleidungsstücke machen lassen konnten. Dieses ist zu entschuldigen, da die traurigen Verhältnisse es notwendig machten; daß man aber die Offiziere wie Missetäter auf der Erde liegen ließ, daß man ihnen nicht einmal eine bretterne Bettstelle, lange Zeit nicht einmal einen groben Strohsack und nur höchst wenig erbärmliches Stroh zum Lager gab, ist wohl unter gesitteten Völkern ohne Beispiel. Man ließ uns nicht in die Stadt gehen aus Besorgnis vor der Wut des Pöbels, und daß die Besorgnisse nicht unbegründet waren, beweist der fürchterliche Aufstand, in welchem der Fürst-Bischof Massalsky, der Fürst Czetwertinsky, der Geheimrat Boskamp, der Kriminalgerichtsassessor Wulfers und mehrere andere ihre Opfer wurden. Zwar muß ich selbst hier der Populace die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie, als sie die Tore mit Gewalt gesprengt hatten, gegen die Kriegsgefangenen nicht das geringste weder sprachen noch taten, sondern einigen Erschrockenen und Weibern vielmehr Mut einredeten und, wie sie sagten, nur die Verräter, ihre Landsleute, zum Galgen schleppen wollten. Allein wer kann einer wütenden Menge trauen? Nur ein Funke ist genug, ein ganz neues Feuer anzublasen.

Der Feind rückte heran; die polnischen Truppen unter Kosciuszko waren auf ihrer Retirade nicht weit mehr von Warschau. Die Gefängnisse waren voll Staatsgefangener, welches eine starke Wache forderte. Der Dienst in den Schanzen war natürlich sehr strenge und lästig; die Arbeit beschwerlich. Sogleich machen einige Hitzköpfe das Projekt, die gefangenen Polen, die alle den Tod verdient hätten, oder doch die Vornehmsten de facto hinrichten zu lassen. Man richtete des Nachts an zwölf verschiedenen Orten Galgen auf; und auch vor dem Tore des Brühlschen Palastes ward unter einer Menge Fackeln und dem lautesten Vivatrufen so ein Instrument des Volksgerichts aufgepflanzt. Die Kommission ließ mit Anbruch des Tages manche niederreißen, und auch den vor unserer Pforte; aber kaum erfuhr es die erbitterte Menge, so kam sie mit großer Verstärkung unter den Waffen und richtete ihn unter dem gräßlichsten Lärm wieder auf. Einige Delinquenten hatten wirklich Sentenz und sollten diesen Tag gehangen werden; aber man stürmte alle Gefängnisse und führte mit Gewalt heraus, wen man bestimmt hatte. Der Fürst-Bischof wurde unter unserm Fenster dicht an dem Tore in pontificalibus gehangen, die übrigen schleppte man an verschiedene Orte und oft von einem Galgen zum andern, wenn der eine schon besetzt war. Verschiedene von den polnischen Offizieren, die bei diesem Tumulte Ordnung schaffen wollten, wurden verwundet. Die Krise ließ das Schlimmste befürchten. Zum Glück rückte Kosciuszko nach dem Verlust des Treffens bei Czechoczin mit der Armee immer näher nach der Stadt und schickte sogleich einige tausend Mann Kavallerie herein, welche die Ordnung wiederherstellen half. Auf den offenen Plätzen wurden Pikette mit Kanonen aufgestellt und gegen die Ruhestörer mit Strenge verfahren; so daß einige Tage nachher einige Tausend müßige Taugenichtse als Rekruten zur Armee geschickt wurden.

Die Belagerung der Stadt von den Preußen fing an; und während der ganzen Zeit war die Stadt selbst in der größten Ruhe. Man begegnete nun den Gefangenen, soviel als man in der Lage erwarten konnte, mit Achtung und Anstand, ob man gleich natürlich von der Strenge nichts nachlassen konnte.«


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