Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Mein Vater Andreas war ein ehrlicher, ziemlich wohlhabender Landmann, der wie ich die Krankheit hatte, keine Ungerechtigkeit sehen zu können, ohne sich mit Unwillen und nicht selten mit Bitterkeit darüber zu äußern. Seine Bekannten nannten ihn also einen hitzigen Kopf und einige Edelleute einen unruhigen Kopf, den man unterdrücken müsse; das war natürlich und mußte auch gelingen. Nur ein einziges Beispiel seiner Heftigkeit! Ich habe keines von meinen Großeltern gekannt, wohl aber einen Großgroßvater von seiten des Vaters, einen Mann von mehr als neunzig Jahren, den man nur den alten Jobst nannte und der mir, als kleinem Urenkel, fast eine Stunde Wegs immer einen Kober voll Frühkirschen brachte. Dieser war etwas im Geruch der Ketzerei, weil er nicht das ganze Bonzenwesen des Pfarrers mit gehöriger Gefangennehmung seiner Vernunft gläubig aufnahm, besonders einige Zweifel über die Richtigkeit einiger Dezemforderungen hegte. Der alte Jobst stand bei der Gemeine für den Riß in Kollisionsfällen. Als er starb, überließ die Familie mit Bescheidenheit dem Pfarrer die Anordnung des Leichenbegängnisses, ohne Text und Lieder selbst zu wählen. Der Pfarrer ließ lauter Straflieder singen, unter welchen auch das bekannte »O Ewigkeit, du Donnerwort« war, und hielt zur Erbauung und Abschreckung eine wahre Galgenpredigt. Mein Vater unter den Leidtragenden nahm in der ersten Wirkung des Sermons einem alten Verwandten das spanische Rohr weg, eilte damit vor die Sakristei und hätte gewiß dem Strafredner eine sehr fühlbare Replik beigebracht, wenn man ihm nicht in die Arme gefallen wäre. »Herr«, sagte er mit starker Stimme, »wenn nur Sie und Ihre Familie so ehrliche, gute Leute sind wie der Verstorbene und seine Familie, so können Sie zufrieden sein. Er konnte und wollte Ihre weiten, unersättlichen Ärmel nicht füllen; das war seine ganze Gottlosigkeit.« Es entstand daraus ein Konsistorialprozeß, der meinem Vater viel Geld kostete. Der Verweis, den der Pfarrer erhielt, war leicht eingesteckt; aber das Geld, was es meinen Vater kostete, war nicht so leicht ausgezahlt. Der handfeste Köhlerglaube scheint also die Sache meiner Familie väterlicher Seite nicht gewesen zu sein; weswegen der ehrwürdige Herr zu Frankfurt am Main unseres Namens, der einen gelehrten tractatum de SS trinitate zu Anfange des vorigen Jahrhunderts geschrieben hat, wohl schwerlich zu uns gehört. Daß meine Mutter mich gern als einen Mann Gottes auf der Kanzel gesehen hätte, ist eine gewöhnliche Schwachheit des Geschlechts: sie kam aber bald davon zurück, als sie meine entschiedene Abneigung und verschiedene schlechte Geistliche in der Nachbarschaft sah. Ich habe oft gehört, daß meine Mutter, Regine Liebich, in ihrer Jugend für ein schönes Mädchen gehalten worden ist. Mein Geburtsort ist Posern, ein Dörfchen eine Viertelstunde von Rippach, wo die Poststation war, wo die Vorfahren meiner Mutter seit dem Dreißigjährigen Kriege ein Grundstück mit Brauerei, Brennerei und Schenkrecht besaßen, das sie, laut Dokumenten, als Appertinenz vom Rittergut damals mit neunzig Talern an sich gekauft hatten und für das man 1803 zwölfhundert bot. Mein Geburtstag fiel, laut der alten Familienbibel, die durch eingebundenes weißes Papier zugleich die Familienchronik war, auf den 29. Januar 1763, in einer entsetzlich kalten Periode, woraus die Gevattern und Basen nach ihrer Weise allerlei prophezeiten. Ohne eben mit Sterne weitläufig gelehrt über den Einfluß äußerer Umstände bei dem ersten Eintritt in die Existenz zu spintisieren, habe ich doch oft gedacht, daß ich, nach der gewöhnlichen Rechnung ein Produkt der Walpurgisnacht und als Erzeugnis zweier schöner, sehr lebendiger Menschenwesen, weit freundlicherer Natur und weit merkurialischer sein sollte. Vielleicht hat folgender Umstand Einfluß. Da meine Mutter durch eine gewöhnliche Vernachlässigung nach meiner Geburt an der Brust litt und eine Amme damals in der Gegend etwas Ungewöhnliches war, wurde ich mit Kuhmilch aufgezogen. Ich kam mit dem Hubertsburger Frieden an; man nannte mich also Gottfried, und Johann wurde vorgesetzt, weil es ein alter Vetter, auf den man in der Familie etwas hielt, durchaus haben wollte. Meine Erinnerung geht nicht so weit zurück, daß ich mich besinnen könnte, wie ich lesen und schreiben gelernt habe. Der alte Schulmeister Held, dessen Tochter meine Pate war und der mich daher mit viel Vorliebe und Strenge echt altpädagogisch behandelte, brachte mir diese Fertigkeiten bei, so früh, daß sich die Zeit aus dem Gedächtnisse gewischt hat. Ich genoß manches kleine Privilegium zur Zeit der Erdbeeren und Johannisbeeren und Pflaumen und wenn der Honig geschnitten wurde; aber übrigens wurde mir der Bakel sehr reichlich zuteil: nicht wegen der Lektion; denn diese ging immer leidlich genug, sondern wegen mancher Unordnungen, die ich nach meinem damaligen Bedünken für gar kluge Streiche hielt. Meine früheste deutliche Erinnerung ist folgende: Ich hatte einen Vetter von gleichen Jahren, mit dem ich mich oft wacker raufte, weil wir die besten Freunde waren. Er ist nachher, wie ich höre, als Dragoner gestorben. Die Schule lag auf einer kleinen Anhöhe und vor derselben unten war ein grüner Rasenplatz, über den der Abfluß einer herrlichen Quelle, die Heilige, nach dem dortigen Dialekt die Heleke genannt, sich schlängelte. Ein herrlicher Platz zum Balgen und Raufen, wenn er nur nicht unter dem Fenster des Schulmeisters gewesen wäre! Wir zwei jungen Streithähne hatten schon in der Schule Zwist gehabt, den der Bakel beschwichtigt, aber nicht geschlichtet hatte. Nun waren wir nicht länger zu halten; die Erörterung fuhr in die Finger, die Bücher wurden weggeschleudert, und das Knuffen und Beinstellen und Raufen ging an. Die Größeren schlossen teilnehmend einen Kreis und lachten, wie rüstig die kleinen Kämpfer sich tummelten. Der Herr Pate Schulmeister rief und drohte mit dem Haselstock aus dem Fenster zum Berge herab. Niemand sah und hörte; das Boxen ging fort, und bald lag Jakob oben, bald Gottfried, und die kleinen Finger waren voll Gras und Haare. Plötzlich trennte sich der Kreis, und der alte Herr Pate Held bearbeitete jugendlich rasch mit dem Haselinstrument unsere Beinkleider und Schulterblätter. Das versöhnte schnell wie der Blitz die Streitenden; wir sprangen auf, rafften die Bücher zusammen; der Kreis zog fort, und wir gegeißelt hinterher. Der Kreis lachte, die Pferdebändiger vor der Schmiede und Schenke lachten laut, wir stimmten ein; und lächelnd zog der alte Schulmonarch, den Friedensstifter des Haselbusches drohend noch in der Hand schwingend, nach seinem Berge zurück. Die Sache machte Lärm im Dorfe, und alles, vom Schulzen bis zum Nachtwächter, lachte noch laut nach; nur mein Vater tat es verstohlen, um den Buben nicht in seinen Streichen zu bestärken. Noch einige Jahre früher, und früher als meine Erinnerung reicht, hätte ein Zufall fast meiner Existenz ein Ende gemacht. Hinter dem Garten meines Vaters floß der kleine Bach Rippach, der ungefähr eine Stunde von Posern in die Saale fällt. Der Garten war mein Lieblingstummelplatz; nur fürchtete man für den kleinen Buben das Wasser. Es wurden eben alte Bäume ausgerottet und junge gesetzt; ich wurde also dem alten Jakob, der mit einigen andern arbeitete, zur Aufsicht übergeben, damit ich mich nicht dem Bache nähern sollte. Das hielt man gewissenhaft, beachtete aber nicht so sehr die Nähe. Ich springe und jage dort herum, und plötzlich fällt der alte Apfelbaum, an dem man arbeitete, faßt mich und schlägt mich zu Boden. Die erschrockenen Alten wenden und kehren mich nach allen Seiten; ich bin augenscheinlich tot; Jakob nimmt mich auf den Arm und trägt die vermeintliche Leiche hinein in den Hof, wo mein Vater eben mit der Mutter an der Wäsche über Hausangelegenheiten sprach. Man stelle sich die Botschaft vor; meine Eltern liebten uns ohne lächerliche Schwachheit mit wahrem, tiefem Gefühl. »Herr, hier bringe ich den Jungen«, sagte der Alte, indem er mich auf den Waschtisch legte, »er ist tot. Gott im Himmel weiß, ich bin unschuldig; ich wollte, der Stamm hätte mich getroffen.« Unter lautem Wehklagen suchte und schickte man nach Hilfe. Der Barbier wandte alle seine Weisheit an, der Arzt kam; alle Mittel waren umsonst; kein Zeichen des Lebens erschien. Zwölf Stunden und darüber war man so traurig vergeblich beschäftigt und eben im Begriff zu enden und an die Beerdigungsanstalten zu denken, als ich das linke, sehr verletzte Auge aufschlug. Man fing die Versuche wieder an und brachte mich ins Leben zurück. Es hatte mich nicht der Stamm, sondern nur einige starke Äste mit den Zweigen getroffen und die tiefe Betäubung bewirkt. Damals mochte ich ungefähr drei Jahre alt sein. Von den Quetschungen blieb wenig zu sehen, außer dem Flecken im erwähnten linken Auge, den man im zwanzigsten Jahre noch wahrnehmen konnte. Ein etwas späterer Vorfall hätte mich auch bald in jene Welt getragen. Mein Vater war damals schon in einer Pachtung als Gastwirt bei Leipzig. Das größte Vergnügen für mich war, die Pferde in die Schwemme und auf die Weide zu reiten, wozu ich jedoch nur selten die Erlaubnis bekam. Reiten hieß bei mir jagen, daß die Mähnen flogen und die Haare sausten. So ritt ich einmal gegen die Ordonnanz mit in die Schwemme. Das Tier liebte den Strom ebensosehr als ich das Reiten, scharrte, stampfte und brauste; meine Hand war zu schwach, es zu halten: es legte und wälzte sich mit gewaltigem Wohlbehagen. Ich kam unter das Pferd, verlor die Besinnung, und der Strom führte mich weit, weit mit sich fort. Indessen hier erholte ich mich, als ich herausgezogen wurde, nach einigen Minuten Versuchen sogleich wieder, und lange Zeit blieb dem jungen Kentauren die Reiterei untersagt. Endlich kam mein Vater einmal von der Messe und hatte Pferde gekauft. »Junge, ich habe auch eins für dich mitgebracht«, sagte er, indem er sich zu mir wendete, und es wurde ein kleiner, dürrer Rotschimmel vorgeführt, der nur vierthalb Füße hatte. Die Bestie hinkte und wieherte komisch, und alle lachten über meinen Vater, mich und den Schimmel. »Wir haben wohl recht viel Geld wegzuwerfen«, sagte meine Mutter halb ärgerlich, »daß du noch dergleichen Fresser ins Haus bringst.« – »Frau, verdirb mir den Spaß nicht!« sagte er launig selbstzufrieden. »Ich habe es zur Zugabe, habe wahrscheinlich dem armen Tiere das Leben gerettet; denn der Roßtäuscher sprach vom Schinder und Totstechen. Wir haben heuer viel Heu, die Weide ist hoch; es kann doch wohl noch etwas tun, und da der Junge mit des Teufels Gewalt zu Pferde will, so mag er reiten.« Ich kratzte mich mürrisch hinter den Ohren und bekümmerte mich wenig darum, was man mit meinem stattlichen Reitpferde machte. Aber der Schimmel machte sich gut und gewann durch seine Streiche Zelebrität in der ganzen Gegend. Zuerst wurden wir aufmerksam, als wir ihn galoppieren sahen, womit er jedermann in Erstaunen setzte. Er hatte, wie gesagt, drei gesunde Hufe; der vierte war eine Art von krummem Klumpfuß, so daß vorn statt des Eisens nur eine Platte von der Größe eines Guldens lag. Der Schritt ging also jämmerlich und der Trott jämmerlicher; aber Galopp und Karriere wie bei dem besten Renner; da brauchte der kranke Fuß kaum den Boden zu berühren und wurde von den übrigen mit durchgetragen, welches im Schritt und Trott nicht möglich war, weil da jeder Fuß gleichmäßig seine Dienste tun mußte. Da ich mich um Schritt und Trott wenig kümmerte, war mir der Schimmel schon recht, und ich gewann nicht selten die Wette über die flüchtigsten Rosinanten. Er ward rund wie ein Apfel und war klug wie die Rosse des Peliden. Von seinem Stammbaum habe ich nichts erfahren; aber es war ein satirischer, origineller Gaul, der eine Menge Eigentümlichkeiten besaß. Zu Wagen und Pfluge konnte er nicht gehen; aber eine leichte Egge auf leichtem Boden zog er possierlich genug. Er schwamm vorzüglich gern durch die Flüsse und dezimierte den Klee auf fremden Wiesen, und dann waren Dutzende von handfesten, flinken Kerlen nicht imstande, ihn zu fangen oder einzutreiben. Er setzte echt strategisch auf dem besten Punkte allemal durch und erreichte seine eigene Krippe. Nach dem Tode meines Vaters verkaufte ihn meine Mutter in die Nachbarschaft für elf Taler, wo er hart mitgenommen wurde. Einige Zeit nachher sah ich ihn fast wieder in seinem ursprünglichen Elend, wie ihn mein Vater nach Hause brachte, auf einer fremden mageren Weide, einen Sack um den Kopf, damit das arme Tier nicht von seinen Wanderungstalenten Gebrauch machen könnte. Als er meine Stimme hörte, kam er auf mich zu, und ich glaubte in seinem Wiehern Liebkosen und Wehmut zu finden. Auch meine Mutter war bei meiner Erzählung, welche von andern bestätigt wurde, so gerührt, daß sie fast die Schwachheit gehabt hätte, die heimische Kreatur wieder ins Haus zu nehmen.

Mein Vater war zwar ein heftiger, moralisch-strenger, aber kein harter Mann. Im Gegenteil, seine Heftigkeit kam meistens aus schneller, tiefer moralischer Empfindung her. Das Zuchtmeisteramt im Hause überließ er fast immer meiner Mutter; und diese hatte bei ernsthaften Gelegenheiten mit einigen Worten nur nötig, den Namen des Vaters zu nennen, um alles in gutem Gleise zu erhalten. Der Vater wurde dadurch nicht als Popanz gebraucht, sondern sein strenger Ernst in ernsthaften Dingen zum gehörigen Zwecke ins gehörige Licht gestellt. Meine Geschwister haben vielleicht nie von meinem Vater einen Schlag bekommen: nur ich erinnere mich, daß ich von ihm einmal tätlich gezüchtigt worden bin auf eine schreckliche Weise, die ihn gewiß noch mehr angriff als mich; und zwar waren beide, er und ich, im ganzen unschuldig. Er war mit meiner Mutter weg, ich glaube nach Weißenfels, gefahren und hatte uns mit einer Magd und unsern Spielgesellen allein im Hause gelassen. Unterwegs besinnt er sich, daß er den Schlüssel an einer Oberstube hat stecken lassen, auf welcher ein Tisch mit gezähltem Gelde stand, meistens in groben, harten Münzsorten. Es war zu spät umzukehren; er eilte aber desto eher nach Hause. Unterdessen waren wir in dem ganzen Hause herumgepoltert, ich mit einem halben Dutzend meiner Spießgesellen, und auch in das Zimmer, wo der Tisch mit dem Gelde stand. So viel Besinnung hatte ich doch schon als ein Bube von sechs Jahren, daß ich sagte, es sei hier für uns kein Spielplatz, auf Entfernung drang, den Schlüssel abzog und in die Tasche steckte. Ich glaubte, der erste und letzte im Zimmer gewesen zu sein und hatte niemand in der Nähe des Tisches gesehen. Mein Vater kam, ging hinauf, fand den Schlüssel nicht, kam herab: »Junge, wo ist der Schlüssel zur Oberstube?« Ich zog ihn hervor; er ging wieder hinauf und zählte nach: es fehlte an der Ecke ein Guldenstück. Mit sichtbarer Verwirrung und Angst kam er wieder herunter: »Junge, wer ist im Zimmer gewesen?« »Wir alle, Vater, Jakob, Christian und die andern; da ich aber sah, daß Geld aufgezählt war, gingen wir sogleich wieder hinaus, und ich nahm den Schlüssel.« »Wer ist an den Tisch gekommen?« »Niemand als ich, um die andern abzuhalten.« »Du hast ihn also genommen!« fing er an schwach zu sprechen und zu zittern. »Ich habe nichts genommen«, antwortete ich zitternd, halb weinend. Der Worte waren wenig; er ward heftiger, ich leugnete fest und laut weinend. Er faßte mich konvulsivisch mit den Fäusten und mißhandelte mich bis zur Grausamkeit, daß auf das Geschrei meiner Mutter die Hausleute und Nachbarn herbeistürzten und mich aus seinen Händen retteten. »Andres, lieber Andres!« sagte der alte sanfte Gevatter Schulmeister Held, »Ihr seid ja außer Euch; Ihr tötet ja den Knaben; kommt doch zu Euch selbst!« – »Ach Gott!« seufzte mein Vater halb weinend, warf sich in den großen Stuhl und verhüllte das Gesicht, ohne weiter ein Wort zu sagen. Die Szene ist oft nachher wiedererzählt worden und mir deswegen so lebendig geblieben. Das Fürchterliche seiner Lage in diesem Momente habe ich aus meinem eigenen Gefühl seitdem mir oft vorgestellt. Er liebte seine Kinder mit der ganzen Zärtlichkeit eines Vaters und der ganzen Heftigkeit seiner Natur; ich war sein Erstgeborner: die Nachbarschaft hielt etwas auf mich, vom Schulmeister bis zum Nachtwächter; man wird ihm also verzeihen, daß er es auch tat. Nun denke man sich einen Vater, einen ehrlichen, feinfühlenden, heftigen Mann, der seinen Liebling in einer solchen Enormität ergriffen glaubt, vor dem die schönen Hoffnungen, an denen sein besseres Wesen hängt, auf einmal verschwinden. Man nahm mich nun gütlich vor und ermahnte mich, ich sollte nur bekennen; ich hatte nichts zu bekennen. Es ist mir noch jetzt rührend, wie urväterlich der alte Schulmeister um uns besorgt war. »Lieber Pate«, sagte er, »du hast dich geirrt, du willst nur mit dem Gulden spielen. Sage es nur, so ist es gut; du wirst schon einsehen lernen, was das zu bedeuten hat.« »Das sehe ich schon jetzt ein«, sprach ich, »und habe nichts getan.« Dabei blieb es. Mein Vater war von dem Tage an still in sich gekehrt, berührte die Sache nicht mehr, sah mich zuweilen halb zornig, halb wehmütig an und verbat sich alles Einreden; sprach nichts Ermahnendes, nichts Abschreckendes, sagte keines seiner Sprichwörter und war wie ein Wesen, dessen beste Kraft gelähmt ist, so daß auch meine Mutter sichtbar dabei litt: die Unruhe saß in beider Seelen. Ungefähr nach drei Wochen klärte sich's auf. Nachbars Samuelchen – ich habe seitdem den Namen weder in der Bibel noch außer der Bibel recht leiden können – wurde von seinem Vater zum Krämer geschickt, um eine Dose voll Schnupftabak zu holen. Er erhielt einen Gulden, um ihn wechseln zu lassen. Der Krämer hatte von ungefähr nicht so viel kleines Geld und sagte, er wolle anschreiben, er möchte den Gulden nur wieder mitnehmen und es dem Vater sagen. Sei es nun unwillkürlicher Irrtum oder lachte der neue Gulden den Buben besser an als der vergriffene gestohlene; er gab den falschen Gulden zurück. »Halunke«, fuhr ihn der Vater an, »das ist gewiß der Gulden, der dort drüben so viel Unheil angerichtet hat.« Samuelchen bekannte und leugnete nicht und erhielt in bester Ordnung von seinem etwas härteren Vater die Peitsche in zehnfachem Maße. Meinem Vater fiel bei der Aufklärung der Sache ein schwerer Stein vom Herzen. Wer lügt, der stiehlt, war sein Sprichwort, und wer stiehlt, gehört an den Galgen. Er ward zusehends wieder heiter und suchte durch mancherlei versteckte Liebkosungen wieder Ersatz zu geben; denn öffentlich durfte das Ansehen nicht leiden.


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