Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Man schickte mich zu Morus und Wolf in die Prüfung. Der Erste ist nachher immer mein guter väterlicher Lehrer geblieben und ward sodann mein Freund bis an seinen Tod; es wäre unnötig, hier seinen moralischen und wissenschaftlichen Wert zu preisen. Von dem zweiten, der ein vortrefflicher Lateiner als Ernestis Schüler war, hielt mich die strenge asketische Orthodoxie des Mannes mehr entfernt. Was sie meinen Kenntnissen für ein Zeugnis gaben, weiß ich nicht, ich erhielt es versiegelt; es kann aber nicht ungünstig gewesen sein: denn statt mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich sogleich auf die Universität getan. Und so war ich denn in einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder, unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabete und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch. »Alles recht gut«, sagte mir der wackere Forbiger, als ich Abschied nahm, »nur etwas zu früh!« Ein Urteil, das ich selbst gern unterschrieb. Martini entließ mich mit Kälte und Würde, ohne jetzt weitere Empfindlichkeit zu äußern. Korbinsky blieb mein Stubenkamerad, und Studienleiter, ohne weitere Verbindlichkeit auf beiden Seiten. Ich danke der Gesellschaft dieses Mannes manche besseren Einsichten in die Alten und manchen guten Wink, den ich nachher benutzte. Er starb zu früh als Prediger in Waldheim, ich fürchte als Opfer des unmäßigen Tabakrauchens bei seiner schwachen Brust; er wäre gewiß ein ausgezeichneter Orientalist geworden.

Nun tummelte ich mich in der Freiheit herum und brauchte sie zwar nicht ganz weise, aber doch so, daß man es eben nicht Mißbrauch nennen konnte. Ich hatte nachzuholen, das fühlte ich, und tat es redlich und gewissenhaft: nicht eben durch viele Kollegien, sondern durch eigenen sehr hartnäckigen Fleiß. Vorher hatte ich die Alten nur fragmentarisch gelesen; jetzt fing ich an, sie strenge ganz durchzugehen. Da ich nun Philolog zu werden gedachte, bekümmerte ich mich weniger um das Partikelwesen und die Sprachnuancen: das kommt nach und nach unmerklich von selbst; sondern es beschäftigten mich die Sachen und die Sprache nur, insofern sie zur Sache gehörte und recht schön war. Über die Griechen hörte ich weniger; und doch tat ich in denselben mehr und war lebendiger in ihnen als in den Lateinern, weil mich ihr Geist besser ansprach. Oft pflegte ich und pflege noch jetzt halb im Scherz, halb im Ernste zu sagen: Was ich Gutes an und in mir habe, verdanke ich meiner Mutter und dem Griechischen. Die dicken Ausgaben mit einem Sumpfe von Noten waren mir als Zeitverderber verhaßt, und meine Meinung, wer mit gehörigen Sprachkenntnissen noch eine große Erklärung einer Horazischen Ode braucht, für den hat Horaz gar nicht geschrieben. Die schönsten Stellen sind immer die einfachsten, und es ward mein ästhetisches Glaubensbekenntnis: Wer nicht in wenig Worten ein rührendes Gedicht, in wenig Strichen eine schöne Zeichnung und in wenig Takten eine vielwirkende Musik hervorbringe, sei nie der Liebling der Musen gewesen. So fiel mir damals das dickbeleibte Buch, Fischers Anakreon in die Hände, wo des Dichters Grazien in einem Ozeane von Notenkrämerei zugrunde zu gehen in Gefahr sind. Man findet nichts; und doch lockte die Neugier alle Augenblicke nachzusehen. Könnte ich Anakreon nicht besser genießen als durch Fischer, ich ließe sie beide, den alten und den neuen Griechen, bei den Käseweibern liegen. Deswegen verkenne ich Fischers große Verdienste um Literatur und Pädagogik gar nicht. Ich genieße vielleicht, ohne es zu wissen, manches, was die Frucht seiner trockenen, schweren Arbeit war.

Von den Kollegien, deren ich mich aus dieser Periode mit vorzüglichem Vergnügen erinnere, waren Morus' Vorlesungen über die Annalen des Tacitus unstreitig das erste. Er war ein Muster von Exegeten in jeder Rücksicht, ausgenommen vielleicht in der Theologie, wo er mit ängstlicher Ehrlichkeit zu sehr an der vorgeschriebenen Formel hing: und so wacker der Mann als Theolog war, hat nach meiner Überzeugung die Theologie an ihm doch nicht so viel gewonnen als die Philologie verloren. Ein sehr gewöhnlicher Mißgriff auf den meisten Universitäten, der auf der Einrichtung beruht! Morus überschüttete uns nicht mit einer Sündflut philologischer Quisquilien, sondern machte seine Bemerkungen kurz, bündig und gediegen, wie sein Autor den Text; er las nicht für Knaben und war nicht schuld, wenn er nicht verstanden wurde. Seine Übersetzung war ein durchdachtes Meisterstück; ich habe nie eine bessere gelesen: dazu wurde sie noch durch einen selbst tiefgefühlten Vortrag und einen Ausdruck großer Herzlichkeit gehoben.

Das Griechische des Neuen Testaments wollte mir nach dem Honig der attischen Biene nicht schmecken. Die Barbarismen, Solözismen und das halb morgenländische Wesen, wovon es voll ist, stießen mich immer zurück, und es gehörte der schöne, begeisterte Enthusiasmus Jesu und die liebenswürdige Moral seiner Lehre durch seine Schüler dazu, um mir es wieder in die Hände zu geben. Des Hebräischen hörte ich bei Dathe sehr viel und sehr fleißig, und ich erinnere mich, daß ich damals Dutzende Psalmen und ganze Kapitel aus den andern Büchern auswendig wußte. Es war bloß Bedürfnis des Wissens, und um nicht hinter den andern zurückzubleiben. Und doch hätte mir das Hebräische bald einen übeln Handel zugezogen. Ich wohnte bei einem Bäcker, wo Mutter und Tochter, ganz angenehme Stückchen Erbsünde, fast immer in ihrem offenen Laden Gesellschaft von jungen Leuten bei sich sahen, die bei ihnen ihr Frühstück hielten. Ich war bis in mein vierundzwanzigstes Jahr ziemlich düster und grämelnd und bekümmerte mich wenig um das Geschlecht. Mein Aufzug war meinen Umständen angemessen und wohl weder glänzend noch zierlich; ich hatte damals einen großen, schweren hebräischen Kodex, ich glaube von van der Hoogt, an dem ich hin und her schwitzte. Ein Edelmann aus Thüringen, der wohl auch einmal vor einer hebräischen Schule vorbeigelaufen sein mochte, glaubte, er habe das Privilegium, den jungen Theologaster zu hänseln, und rief mir beim Durchgehen Mosheh veh Kalephedan (eine Regel aus der Grammatik) zu. Einmal und zweimal litt ich das ruhig, das dritte Mal kehrte ich mich um und sagte ihm, was zu sagen war. Er antwortete nicht artig, ich erwiderte nicht sanft, und meinte, die Sache sei ohne Worte gehörig zu schlichten; er mußte zufrieden sein, und ich war im Begriff, den Degen zu holen, um ihm zu folgen: da stürzten die Damen, Mutter und Tochter, als Vermittlerinnen herbei und ließen nicht eher nach, bis sie die hebräischen Streithähne mit gehörigen Gründen auseinandergebracht hatten. Von nun an ließ mich der Baron ruhig fürbaß ziehen; das hätte er auch vorher tun können und sollen.

Jedermann, der mich so Hebräisch treiben sah, mußte glauben, ich würde wenigstens der zweite Michaelis werden oder gar ein neues eigenes morgenländisches Licht; es dauerte aber nicht lange: und seit der Zeit habe ich diesen Artikel so ganz vergessen, daß ich kaum mehr weiß, was Schwa und Mappik und Kai und Hithpael ist; denn ich glaube, ich habe seit 1780 kaum wieder eine hebräische Zeile gelesen.

Ich hatte zur Unterhaltung meines Leibes monatlich fünf Taler. Es war damals zwar beträchtlich wohlfeiler als jetzt; doch kann man bedenken, daß ich mit dieser Summe nicht sehr ins Weite greifen oder sybaritisieren konnte. Aber ich hatte auch keine Bedürfnisse, die ich damit nicht hätte befriedigen können, außer der verdammten Theaterepidemie, die sich meiner damals in einem hohen Grade bemächtigt hatte. Ich weiß, daß ich damals monatlich gegen vier Taler ins Theater getragen habe; man denke sich nun dabei meine Kost. Mehrere Tage aß ich trockene Dreilinge, um nur einige Lieblingsstücke zu hören und vorzüglich Reinekes Vortrag zu genießen. Als ich diesen Mann das erste Mal sah, gab er die unbedeutendste Rolle von der Welt, einen Bedienten, der einen Brief zu bringen und kaum sechs Worte zu sprechen hatte. Seine ersten Schritte zeigten, wer er war, und jedes Wort gab ihm seinen Rang. Ich, obgleich damals noch ziemlich Idiot, ärgerte mich über den Mißgriff der Direktion und setzte ihn sogleich bei mir als den ersten Mann der Gesellschaft nieder. Er hatte bloß einmal gemächlich ausruhen wollen, und ich sah ihn einige Tage nachher in seiner bessern Sphäre. Es gewährt mir noch immer einen hohen Genuß in der Erinnerung, diesen Liebling der Natur und der Muse gesehen zu haben. Es konnte von ihm gelten, was Hamlet von seinem Vater sagte: »Das ist ein Mann!« Die deutsche Bühne hat allerdings Künstler von größerem Verdienst, aber wohl schwerlich von größerem Wert. Seine letzte Rolle schwebt noch lebendig vor meiner Seele. Er gab Hamlets Geist, und sein »Schwört, schwört auf sein Schwert!« war ein ganzes Stück wert. Seit der Zeit habe ich immer und überall kaum Hamlets Gespenst, nie seinen Geist wieder gesehen.

Um diese Zeit fielen mir die Engländer Shaftsbury und Bolingbroke in die Hände, oder vielmehr ich ihnen; man kann sich die Wirkung denken. Die Kirchenformel und meine ehemalige echt orthodoxe Exegese hielten mich nur noch an sehr schwachen Fäden. Mein Stubengeselle Korbinsky hatte einige Freunde, mit denen er dann und wann etwas freimütig über die Wolfenbüttler Fragmente sprach. Einige Artikel aus dem Bayle hatte ich auch schon gelesen. Alles dieses half meinen eigenen skoptischen Ideengang ordnen oder mich verderben, wie meine orthodoxen Freunde meinten. Es war zum Durchbruch gekommen; nur wagte ich nicht, etwas laut werden zu lassen. Ich glaubte nur, was ich begriff, und ich begriff von den Kirchendogmen nur sehr wenige. Magister Schmidt, der Mittelsmann zwischen mir und dem Grafen und mein wirklich väterlicher Freund, aber ein heftiger Kirchenorthodoxer, hatte, ich weiß nicht wie, doch etwas erfahren, und nahm mich nach seiner Weise sehr warm vor. Der Klagepunkte waren viele, vorzüglich folgende, so viel ich mich erinnere: Ich wäre nicht ordentlich in die Kirche gegangen, und meistens nur zu Zollikofer; ich hätte mich oft gebadet; ich hätte über einige Dogmen frei und profan gesprochen. Wegen dieser Ruchlosigkeiten sah mich nun der gute Mann schon leibhaft in der Hölle brennen. Das Theater wurde nicht berührt; und das wäre doch wohl das schlimmste gewesen, weil es mich so viel Geld kostete, das ich nicht hatte. Ich leugnete nicht und verteidigte mich nicht; denn die Verteidigung hätte zu Erörterungen geführt, die noch schlimmer gewesen wären. Er goß eine bitter epanorthotische Lauge über mich aus, die ich zwar ärgerlich, aber doch geduldig abtriefen ließ. Vorzüglich drohte er mit dem Grafen, der bei dieser meiner verkehrten Sinnesart seine Hand von mir abziehen würde. Diese letzte Bemerkung war unpsychologisch und wirkte gerade das Gegenteil von dem, was sie wirken sollte. Sie machte mich stolz, statt mich demütig zu machen. Ich nahm das alles mit Stillschweigen hin, ohne Besserung zu versprechen, an die ich gar nicht denken konnte. Meine Mutter wurde gar nicht erwähnt, und doch wäre diese das wirksamste Argument gewesen. Worin hätte ich mich ändern können, ohne den bessern Sinn zu verleugnen? Wen von unsern teuern Kirchenlehrern hätte ich statt Zollikofers hören sollen? Das Bad im Flusse hielt ich für diätetisch gut und, mit Bescheidenheit gebraucht, nicht für unanständig. Daß ich frei über kirchliche Artikel sollte gesprochen haben, ist wohl möglich; aber gewiß nicht profan, ausgenommen insofern frei und profan eins ist; denn mir ist jeder Volksglaube heilig, der einem ehrlichen Manne Beruhigung gewährt, und sollte er der Philosophie noch so empfindliche Nasenstüber geben. Wer einem leidenden Wanderer seinen alten Mantel nimmt, unter dem Vorwande, er sei übel gemacht und durchlöchert, ist ein Unmensch auf alle Weise. Ich fordere alle auf, mit denen ich jemals in nähere Berührung gekommen bin, ob ich irgend über etwas gespottet habe, das einem andern ehrwürdig und heilig war.

Kurz darauf besänftigte ich den zelotischen Mann ohne Mühe durch die Bitte, mir eine Predigt zu erlauben, indem ich ihm zugleich das Manuskript zur Durchsicht überreichte. Er blätterte nur wenig darin und gab es mir mit der Gewährung der Bitte und der Bemerkung vertraulich zurück, schon das Motto gebe ihm die Versicherung, er dürfte sich auf meine Bescheidenheit verlassen. Es stand darüber, glaube ich, aus dem Quinctilian: »Pectus est quod facit disertos.« Ich hielt den Vortrag in Rehbach und Knauthain mit Beifall, und meine Ketzerei schien vergessen zu sein. Desto tiefer und fester saß sie aber bei mir. Es versteht sich, daß man in der Predigt nicht die leiseste Spur davon fand. Ich weiß nicht mehr, wovon ich sprach; aber es war ein reines Thema der reinen allgemeinen Moral, wo der Mensch mit seiner bessern Natur durch sich selbst in Anspruch genommen wird. Man konnte ihr, wie Zollikofers Vorträgen, nur den Vorwurf machen, daß sie auch für Juden, Türken und Heiden passe. Übrigens maße ich mir nicht an, daß die Rede viel von den Vorzügen der Zollikoferschen gehabt habe.

Es fing nun an furchtbar in mir zu gären. Ich begriff, daß ich als ehrlicher Mann nicht auf dem Wege fortwandeln konnte. Mit jeder neuen Forschung entstand ein neuer Zweifel, und die Mystik fing an mir verhaßt zu werden, da ich sie so oft Hand in Hand mit weltlicher Klugheit gehen sah. Ich verehrte die Bibel und versagte dem moralischen Teil derselben den Eingang in meine Seele nicht. Ich verehrte Moses, Christum, aber nach meiner Weise und nicht nach dem System. Heuchelei war mir unerträglich; ich sagte immer nur, was ich dachte, ob ich gleich nicht alles sagte, was ich dachte. Das heilige Palladium der Menschennatur sind die Gedanken unter der Ägide der Vernunft, und es wird hoffentlich niemals jemand gelingen, es zu zerreißen.

Meine Lage war sehr prekär und hing von der zufälligen Überzeugung anderer ab. Es war natürlich, daß endlich der Graf alles erfahren mußte; und das schlimmste war, nicht so lebendig, wie es in meinem Innern lag. Ohne seine Unterstützung konnte ich nicht in den Wissenschaften fortleben. Ich wollte der Katastrophe zuvorkommen, zog mich in mich selbst zurück und faßte den Entschluß, auf allen Fall meine eigene Kraft zu versuchen. Das konnte in Leipzig und überhaupt im Vaterlande nicht geschehen. Nach vielen Kämpfen, die mir allerdings wohl das Ansehen eines Melancholischen geben mochten, ging ich auf und davon, ohne einen fest bestimmten Vorsatz, wohin und wozu. Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Wert hatten, und nach Abzahlung meiner kleinen Schulden, die ich notwendig haben mußte, blieben mir ungefähr neun Taler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu tun sei. Von dort aus – wer sieht nicht gern zuvor Paris? – dachte ich nach Metz in die Artillerieschule, da ich eben damals angefangen hatte, etwas ernsthaft Französisch und Mathematik zu treiben. Das übrige überließ ich billig dem Schicksal.

Das Traurigste war der qualvolle Gedanke an meine Mutter; und ich muß bekennen, daß ich mir alle, obwohl vergebliche Mühe gab, ihn zu unterdrücken, da ich die Unmöglichkeit sah, meine Sinnesart zu ändern und die Unmöglichkeit, bei dieser Sinnesart als ehrlicher Mann hier zu bleiben. Sie war zwar keine Zelotin und würde mich nicht sogleich verdammt haben; doch würde ihr ruhiges Wesen es widersprechend gefunden haben, daß ein Kopf sich nicht bei dem beruhigen könne, wobei sich so viele Hunderttausende ehrsam beruhigen. Auf alle Fälle würde ihr meine Lage, wenn ich geblieben wäre, fast ebenso schmerzlich gewesen sein als meine Entfernung. Ich ging also nach Berichtigung meiner Schulden fort, ohne irgend jemand eine Silbe gesagt zu haben. Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und im Reisesacke und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und leicht, aber nichts weniger als ruhig durch die Dörfer nach Dürrenberg, setzte dort über die Saale, ging über das Schlachtfeld bei Roßbach und blieb die erste Nacht in einem kleinen Dorfe bei Freiburg, das, glaube ich, Zeugefeld hieß. Hier schrieb ich in meiner Verlassenheit und mit schwerem Gefühl abends eine gar rührende Elegie über meinen Zustand. Sie gehört zu den Heiligtümern meiner Seele; niemand hat sie gesehen, und sie hat sich bald aus meinem Taschenbuche verloren, so wie meine Stimmung sich erheiterte und einen etwas stoischen Takt erhielt. Den zweiten Abend blieb ich in einem Dorfe vor Erfurt, wo man mich mit vieler Teilnahme sehr gut, sehr wohlfeil bewirtete und mich schonend merken ließ, ich hätte wohl jemand mit dem Instrumente da, man wies auf den Degen, etwas übel behandelt und müsse das Weite suchen. Ich widersprach zwar; aber man schien doch so etwas zu glauben. In Erörterungen mochte ich mich nicht einlassen, und ihre Meinung tat mir weiter keinen Schaden. Den dritten Abend übernachtete ich in Vach, und hier übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, durch seine Werber die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhain, Kassel und weiter nach der neuen Welt.

Ich erfuhr nachher, daß meine Entfernung in Leipzig einiges Aufsehen gemacht hatte, ob ich gleich fast immer für mich und eingezogen wie ein Klosterbruder gelebt hatte. Man hatte ungefähr vierzehn Tage vorher eine ungewöhnliche Stille und Schwermütigkeit an mir bemerkt; sehr natürlich: man machte also den voreiligen Schluß, ich habe mich ganz aus dem Leben hinausgegeben. Vorzüglich war ein alter Graf Isenburg, der gewöhnlich bei dem Grafen Hohenthal lebte und mich mit vieler Güte immer mit Zwieback gefüttert hatte, sehr beschäftigt, den eigentlichen Zusammenhang der Sache ausfindig zu machen. Der alte Herr ließ sich keine Mühe verdrießen und stieg Treppe auf und Treppe ab, wo er Nachricht von mir zu haben hoffte. Man erfuhr nichts von einem Duell, konnte sonst nichts Ungebührliches gegen mich aufbringen; meine kleinen Schulden waren, und zwar den Tag vorher, alle bezahlt. Es war natürlich, an eine Mädchengeschichte zu denken, und man nannte die Tochter eines ehrsamen Handwerkers, mit welcher ich in Vertraulichkeit sollte gelebt haben. Es war bestimmt eine Lüge; denn die Anmutung zum Geschlecht ist bei mir sehr spät gekommen. Der alte Graf ging wirklich zu dem Handwerksmanne, dessen Namen ich gar nicht erfahren habe, und trug seine Gedanken so schonend als möglich vor; aber der alte heißköpfige Spießbürger nahm die Eröffnung sehr übel auf und geriet in Versuchung, den unbefugten Nachforscher zur Ehre seiner Tochter handgreiflich die Treppe hinab zu befördern. Es blieb also den guten Leuten nichts übrig als zu glauben, der Melancholikus habe sich ein Leid angetan. In dieser Vermutung ließ man mich sogar in die Zeitung setzen; ich habe das Blatt viele Jahre nachher selbst gesehen. Daß ich meine Schulden vorher bezahlt hatte, schien mit ein starkes Argument gegen meinen Verstand zu sein: ein gräßlicher Gedanke über die Immoralität unserer Jugend!

Als der Graf durch meine Briefe aus Hessen die Geschichte, aber freilich nicht den Grund derselben erfuhr, schien er es für eine gewöhnliche Albernheit zu halten und mich für einen Menschen zu nehmen, den man seinem guten oder bösen Genius überlassen müsse. Ich hatte im allgemeinen nur Drang, die Welt zu sehen, vorgeschützt und nur wenige Hindeutungen auf mein inneres Ich angegeben. Wozu sollten Erörterungen und Auseinandersetzungen führen, die niemandem frommen konnten? Die Herren würden gedacht haben: contra principia negantem non est disputandum. Also war ich eine Prise des Schicksals und mußte nun werden, wozu ich an der Hand desselben mich selbst machte.

Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung Ziegenhain, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen, um mit dem nächsten Frühjahr nach Fawcets Besichtigung nach Amerika zu gehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: Niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall: wo so viele durchkommen, wirst du auch: über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug; und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthalts in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte, und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankerotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meiningen, ein preußischer Husaren-Wachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte, und nur eine Skizze von dem Leben der Herren müßte eine unterhaltende lehrreiche Lektüre sein. Da es den meisten gegangen war wie mir oder noch schlimmer, entspann sich bald ein großes Komplott zu unserer aller Befreiung. Man hatte so viel gutes Zutrauen zu meinen Einsichten und meinem Mut, daß man mir Leitung und Kommando mit uneingeschränkter Vollmacht übertrug; und ich ging bei mir zu Rate und war nicht übel willens, den Ehrenposten anzunehmen und die fünfzehnhundert Mann auf die Freiheit zu führen und sie dann in Ehren zu entlassen, einen jeden seinen Weg. Außer dem glänzenden Antrage kitzelte mich vorzüglich, dem Ehrenmanne von Landgrafen für seine Seelenschacherei einen Streich zu spielen, an den er denken würde, weil er verteufelt viel kostete. Als ich so ziemlich entschlossen war, kam ein alter preußischer Feldwebel zu mir sehr vertraulich. »Junger Mensch«, sagte er, »Sie eilen in Ihr Verderben unvermeidlich, wenn Sie den Antrag annehmen. Selten geht eine solche Unternehmung glücklich durch; der Zufälle, sie scheitern zu machen, sind zu viele. Glauben Sie mir altem Manne; ich bin leider bei dergleichen Gelegenheiten schon mehr gewesen. Sie scheinen gut und rechtschaffen, und ich liebe Sie wie ein Vater. Lassen Sie meinen Rat etwas gelten! Wenn die Sache glücklich durchgeht, werden wir nicht die letzten sein, davon Vorteil zu ziehen.« Ich überlegte, was mir der alte Kriegsmann gesagt hatte, und unterdrückte den kleinen Ehrgeiz, entschuldigte mich mit meiner Jugend und Unerfahrenheit und ließ die Sache vorwärtsgehen. Der Kanonier-Feldwebel hatte recht; es wurde alles verraten; ein Schneider aus Göttingen, der ein Stimmchen sang wie eine Nachtigall, erkaufte sich durch die Schurkerei eine Unteroffizierstelle bei der Garde, und da man ihn dort gehörig würdigte und er des Lebens nicht mehr sicher war, die Freiheit und eine Handvoll Dukaten. Ich erinnere mich der Sache noch recht lebhaft. Alle Anstalten zum Ausbruch waren getroffen. Wir lagen in verschiedenen Quartieren, in den Kasernen, dem Schlosse und einem alten Rittersaale. Man wollte um Mitternacht auf ein Zeichen ausziehen, der Wache stürmend die Gewehre wegnehmen, was sich widersetzte, niederstechen, das Zeughaus erbrechen, die Kanonen vernageln, das Gouvernementshaus verriegeln und zum Tore hinausmarschieren. In drei Stunden wären wir in Freiheit gewesen; Leute, die den Weg wußten, waren genug dabei. Als wir aber den Tag vorher abteilungsweise auf den Exerzierplatz kamen, fanden wir statt der gewöhnlichen zwanzig Mann deren über hundert, Kanonen auf den Flügeln mit Kanonieren, die brennende Lunten hatten, und Kartätschen in der Ferne liegend. Jeder merkte, was die Glocke geschlagen hatte. Der General kam und hielt eine wahre Galgenpredigt. »Am Tore sind mehr Kanonen«, rief er, »wollt ihr nicht gehen?« Die Adjutanten kamen und verlasen zum Arrest: Hans, Peter, Michel, Görge, Kunz. Meine Personalität war eine der ersten; denn daß der verlaufene Student nicht dabei sein sollte, kam den Herren gar nicht wahrscheinlich vor. Da aber niemand etwas auf mich bringen konnte, wurde ich, und vermutlich noch mehr der Menge wegen, bald losgelassen. Der Prozeß ging an; zwei wurden zum Galgen verurteilt, worunter ich unfehlbar gewesen sein würde, hätte mich nicht der alte preußische Feldwebel gerettet. Die übrigen mußten in großer Anzahl Gassen laufen, von sechsundreißig Malen herab bis zu zwölfen. Es war eine grelle Fleischerei. Die Galgenkandidaten erhielten zwar nach der Todesangst unter dem Instrument Gnade, mußten aber sechsunddreißig Mal Gassen laufen und kamen auf Gnade des Fürsten nach Kassel in die Eisen. Auf unbestimmte Zeit und auf Gnade in die Eisen, waren damals gleichbedeutende Ausdrücke und hießen soviel als ewig ohne Erlösung. Wenigstens war die Gnade des Fürsten ein Fall, von dem niemand etwas wissen wollte. Mehr als dreißig wurden auf diese Weise grausam gezüchtigt, und viele, unter denen auch ich war, kamen bloß deswegen durch, weil der Mitwisser eine zu große Menge hätten bestraft werden müssen. Einige kamen bei dem Abmarsche wieder los, aus Gründen, die sich leicht erraten lassen; denn ein Kerl, der in Kassel in den Eisen geht, wird von den Engländern nicht bezahlt.

Endlich ging es von Ziegenhain nach Kassel, wo uns der alte Betelkauer in höchst eigenen Augenschein nahm, keine Silbe sagte und uns über die Schiffbrücke der Fulda, die steinerne war damals noch nicht gebaut, nach Hannövrisch-Münden spedierte. Unser Zug glich so ziemlich Gefangenen; denn wir waren unbewaffnet, und die bewehrten Stiefletten-Dragoner und Gardisten und Jäger hielten mit fertiger Ladung Reihe und Glied fein hübsch in Ordnung. Ich genoß, trotz der allgemeinen Mißstimmung, doch die schöne Gegend zwischen den Bergen am Zusammenfluß der Werra und der Fulda, die dort die Weser bilden, mit zunehmender Heiterkeit. Das Reisen macht froher, und unsere Gesellschaft war so bunt, daß das lebendige Quodlibet alle Augenblicke neue Unterhaltung gab. So ging es denn auf sogenannten Bremer Böcken den Strom hinab. Nicht weit von Hameln, glaube ich, machte man eine Absonderung der Preußen, die man nicht durch Preußisch-Minden bringen durfte, und ließ sie einen Marsch zu Lande machen, um das Preußische zu vermeiden. Da mir das zusammengedrückte, eingepökelte Wesen auf den kleinen langen Fahrzeugen nicht sonderlich behagen wollte, meldete ich mich als Preußen beim Verlesen. Der Offizier sah in die Liste und sagte: »Hier steht ja ein Sachse.« »So?« sagte ich, »nun, so will ich ein Sachse bleiben.« Er schwieg, ließ mich aber, nachdem alle verlesen waren, mit den Preußen aussteigen. Man stellte sich, und es ging zu Lande weiter. Ich hatte damals die Gewohnheit, ein Buch zwischen Weste und Beinkleider unter den Gürtel zu stecken. Das Buch mochte diesmal etwas zu stark sein und den Leib unförmlich machen. »Was Teufel, ist der Kerl schwanger?« sagte ein Hauptmann Lesthen, der eben vor mir stand, und hob die Weste beim Flügel auf, und es wurde der Julius Cäsar zutage gefördert. »Was Henker, macht Er denn mit dem Buche?« fuhr er fort. »Ich lese darin«, war meine Antwort. »Wo hat Er denn das Latein gelernt?« »Das Latein pflegt man gewöhnlich in der Schule zu lernen.« Er schüttelte den Kopf. Ich hatte in dem Buche eine Menge Randnoten aus dem Vegez, Frontin und andern Alten und Neuen, auch wohl von mir selbst niedergeschrieben. »Von wem sind denn die Bemerkungen hier?« »Von mir, und vor mir von den angegebenen Herren.« Er sah mich fest an und endigte mit dem spöttischen Abschied: »Er wird wohl einmal ein recht großer Mann werden.« »Schwerlich«, sagte ich; »das ist unter den Deutschen gar nicht wahrscheinlich: aber wenigstens will ich nicht schuld sein, daß es nicht wird.« Nun ging es fort, und ich las, ohne eben weiter einen Zweck zu denken, in den Ruhestunden zuweilen nach meiner Weise einige Kapitel, aus bloßem Bedürfnis, mich besser zu beschäftigen, als ich in meinen Umgebungen sonst wohl konnte. Hier entspann sich in einem Nachtquartiere wieder ein Komplott und sollte der Kürze wegen, und da unsere Bedeckung nicht sehr stark war, sogleich ausgeführt werden; ich habe aber die Beschaffenheit desselben nicht recht erfahren können. Diese Rekrutenabteilung bestand aus lauter preußischen Landeskindern und preußischen Deserteuren, die beständig vom alten Fritz und Seidlitz und Schwerin sprachen und sich nichts Kleines dünkten. Aber weiß der Himmel, wie es war laut geworden: der kommandierende Offizier requirierte sogleich die ganze bewaffnete Bürgerschaft und die Bauern aus der Gegend, machte echt militärische Miene, uns in der alten Kirche, wo wir lagen, zusammenzuschießen; und es ging alles wieder ganz ruhig bis an die Weser auf die Bremer Böcke. Hier half mir meine stoische Genügsamkeit und meine Humanität einen Streich machen, der mir in meiner Sphäre zu keiner kleinen Ehre gereichte. Gewinnsucht und Leidenschaft regiert, wie bekannt, die Welt. Damit wir nicht verhungerten, hatte ein Entrepreneur, ein Marketender im großen, für keine kleine Summe sich anheischig gemacht, uns zu beköstigen. Man weiß, wie es geht. Wir wollten soviel als möglich essen, und er wollte soviel als möglich gewinnen, welches sich zusammen nicht wohl vertrug. Fast unsere ganze Löhnung ging auf die Menage, und der Klagen liefen bei dem Obersten von Hatzfeld, der den Transport kommandierte, viele ein. Der Mann hatte ein Gefühl für Recht und tat, was er konnte, den Speisewirt zur guten Behandlung zu nötigen. Da Ermahnungen bei Gewinnsüchtigen gewöhnlich vergeblich sind, wurden wechselweise von dem Transport nach den Schiffen Deputierte gewählt, die auf dem Kochschiffe nach dem Rechten sehen sollten. Indes es ging mit den Deputierten wie im englischen Parlament. Dort besticht man mit Guineen, Stellen und Pensionen; hier bestach man mit Wein, Schnaps und Kuchen, und so ging es denn, hier wie dort, nicht viel besser als vorher. Als die Reihe mein Schiff traf, wurde ich von der Rekrutenschaft einstimmig zum Deputierten erwählt. Auf dem Kochschiffe wollte man mich, wie gewöhnlich, höflich mit dem Weinglase empfangen und mit Konfekt in der Kajüte halten. »Ich habe gefrühstückt«, war mein Bescheid und blieb bei den Kesseln stehen, um zu sehen, daß die gehörige Quantität Fleisch und Gemüse hineinkam. Als die Kähne kamen, um zu holen, drang ich darauf, daß die Menagekessel voll gegeben wurden. »Wir werden nicht auskommen«, sagte man. »Wir werden wahrscheinlich auskommen«, sagte ich, »auf meine Gefahr«; denn so viel hatte ich noch rechnen gelernt. Es blieb viel übrig, ich ließ zum zweiten Male holen, und alle erhielten eine sehr gute Mahlzeit. Noch blieb viel übrig; doch nicht so viel, daß man noch einmal von vorn hätte anfangen können. Da kamen unsere Zwangswächter, die Dragoner, vom Ufer mit ihren Töpfen. Eine vorlaute, schnippische Köchin wollte austeilen und von den armen Teufeln Weißpfennige dafür einnehmen. »Was soll das?« rief ich, »das Essen ist unser, wir haben es bezahlt; die Leute müssen den Rest unentgeltlich haben.« Das Liebchen ward böse, und ich ergriff im Amtseifer den Schöpflöffel und teilte aus bis auf den Boden, ohne einen Heller zu nehmen oder nehmen zu lassen. Die alten Kerle drückten mir freundlich die Hand. »Wir sehen leider deutlich genug«, raunte mir einer zu, »wie ihr betrogen werdet; können aber nicht helfen.« Als die belobte Kesselprinzessin es noch einmal wagte, mich zu stören, schlug ich sie im Ärger so heftig mit der Schöpfkelle auf die Hand, daß sie laut schreiend und drohend zum Prinzipal in die Kajüte sprang. Da man mich aber so fest entschlossen sah, unterstand man sich nicht, mich weiter anzutasten. Ich bekam vom Ufer und von den Böcken eine Menge Dankadressen, mit der Versicherung, daß man noch nicht so gut und so reichlich gespeist habe, und diese Dankadressen hatten wohl wenigstens einen ebenso guten Grund als die im Parlamente. Man nehme es, wie man will, ich halte diesen Tag für einen der schönsten meines Lebens, und das Bewußtsein macht mich stolz, daß ich als erster Volksdeputierter, trotz jeder Versuchung, Schmeichelei oder Drohung, mit ebender beharrlichen Entschlossenheit würde gehandelt haben. Die Sache lief unter den Offizieren herum, und ein jeder machte seine Glossen darüber nach seiner Sinnesweise. Die Reihe, Deputierter zu sein, kam nicht wieder an unsern Bock, also auch nicht wieder an mich.

So fuhren wir denn den ganzen Strom hinab von Münden bis zu Bremerlee, wo uns die englischen Transportschiffe erwarteten. In Münden auf der Wiese besichtigte uns der Mäkler Fawcet, und es gab von den Dragoner-Unteroffizieren und Gardisten einige freundliche Rippenstöße, weil wir nicht laut und voll und sonorisch genug: »Es lebe der König!« schrien. Da ich als ein kleiner Kerl im Ranzengliede, das heißt im mittelsten, stand, entging ich den Püffen, ohne eine Silbe zu sagen genötigt zu sein. Aber den Hut mußte ich wenigstens mit schwingen.

Es würde mir ein hoher Genuß gewesen sein, an der Hand eines Freundes und Geschichtskenners die Partien der Weser von Corvey bis Bremen zu besehen, wo die Schönheiten der Natur durch den Gedanken der alten, jetzt verlorenen Nationalehre magisch beleuchtet werden; aber damals war unsere Reise ein sklavisches, dumpfes Hinstarren auf die Gegenden, wo ehemals Männer für ein besseres, nicht so üppiges Vaterland kämpften. Von Varus bis zu Bonifaz herab schwebten mir dunkel die Szenen vor; Bonifaz, der mit heiliger Einfalt die heroische Tugend vertrieb und die feiner gewebte Sklaverei spann, die uns zum Spielwerk anderer gemacht hat. Von Bremen bis Bremerlee fuhren wir in andern Fahrzeugen, die schon See halten können, aber sich nicht weit von den Küsten entfernen. Unbekümmert legte ich mich abends hin und schlief mitten auf dem Strome und war sehr verblüfft, als unsere ganze kleine Flotte des Morgens am Ufer ganz trocken da saß und wartete, bis die Flut sie wieder emporhob; doch waren wir alle nicht halb so verblüfft als bei der ähnlichen Erscheinung Alexanders Soldaten auf dem Indus.

In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschläge in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war; und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll, und die beiden letzten mußten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt: es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: »Umgewendet!« und es wurde umgeschichtet; hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis ausgehalten, rief das nämliche der linke Flügelmann, und wir zwängten uns wieder in die vorherige Quetsche. Das war eine erbauliche, vertrauliche Lage, ungefähr wie im hohen Paradiese, wenn auf der Bühne des Volks Lieblingsstück gegeben wurde.


 << zurück weiter >>