Johann Gottfried Seume
Mein Leben
Johann Gottfried Seume

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Viele Neckereien bewogen meinen Vater, seine Grundstücke dort zu verkaufen und eine Pachtung eines Wirtshauses mit beträchtlicher Ökonomie in Knautkleeberg, nicht weit von Leipzig, einzugehen. Da spielte ihm denn das heiße Blut hier und dort schlimme Streiche, bloß sein Widerwille entschied. Der Justitiarius von Posern hatte bei einer Rügensache, wo sich mein Vater fast wie Weißens Kunze mit dem Tintenfasse benommen hatte, gedroht, er müsse kein Advokat und sein Prinzipal kein Edelmann sein, wenn nicht die Sache so weit gedeihen sollte, daß der Andreas Seume noch ins Hundeloch käme für seine Ungebührlichkeiten. Ungebührlichkeiten nennt man aber alles, was irgendeinen alten Unfug antastet; und schon das feine Wort für Gefängnis zeigt hinlänglich die Natur der damaligen Patrimonialjustiz. »Ich will doch dem Teufel und seiner Hölle entlaufen«, sagte mein Vater, »und sollte ich in einer Kneipe Schuhzwecken schnitzen und Schwefelhölzchen machen mein Leben lang«, und so packte er seine Familie auf einige Wagen und pilgerte fürbaß an die Elster in der Gegend von Leipzig. Er hatte in seiner Jugend das Böttcherhandwerk gelernt, war auch mit dem Felleisen über Naumburg nach Gera und Saalfeld gewandert; da ergriff ihn aber, wie man ihm scherzhaft vorwarf, die Sehnsucht nach der Geliebten, und er eilte über Altenburg und Lucka nach Hause an der Rippach, ward Meister in der Innung und heiratete mit seinem zweiundzwanzigsten Jahre stracks ohne weiteres Bedenken. Hätte er nicht etwas Vermögen gehabt und wäre genötigt gewesen, sich in der Fremde etwas umzusehen, so hätten vielleicht einige Jahre Umschauen den Feuerkopf etwas kühler gemacht; doch vielleicht hätte sich das Gefühl auch noch tiefer gesetzt und wäre nur desto bitterer geworden wie es bei etwas mehr Bildung mir selbst gegangen ist. Der Antritt der Pachtung fiel in eine sehr unglückliche Periode, in die Hungerjahre 70 und 71. Der Besitzer des Gutes Lauer, zu dem das Dorf Knautkleeberg gehört, war der damalige Leipziger Stadtrichter, Dr. Teller, ein Bruder der bekannten Teller in Zeitz und Berlin, ein harter, unerbittlicher Mann, der von dem Buchstaben nichts nachließ und alles Unglück sehr klug dem Pächter zugestellt hatte. Vielleicht machte ihn auch das Mißliche seiner eigenen Geschäfte und auch sein exzentrischer Ideengang noch mißmutiger und bitterer. Man sagte damals, er sei an der Ministerkrankheit gestorben, weil ihn die Hoffnung täuschte, die Stelle als Prinzenhofmeister zu erhalten, durch welche der wackere, rechtschaffene Gutschmidt für sich und das Land eine so rühmliche Laufbahn machte. Die Eigenheiten der Brüder sind bekannt genug: der Berliner, als der vorzüglichste von ihnen, hatte am wenigsten. Mein Vater, anstatt hundert Scheffel Korn in der neuen Pachtung jährlich zu verkaufen, mußte zur Unterhaltung der weitläufigen Wirtschaft über fünfzig dazu kaufen, und ich kann mich noch recht wohl erinnern, daß er den letzten Scheffel mit fünfzehn Talern bezahlte. Die Hungersnot der damaligen zwei Jahre ist in Sachsen als Landeselend bekannt. Hunger haben wir nicht gelitten, aber meines Vaters Vermögen zusammen so ziemlich verzehrt. »Solange ich noch eine Metze Korn mit dem letzten Taler kaufen kann«, sagte der wackere Mann, »muß niemand in meinem Hause ungesättigt vom Tische aufstehen.« Es war, als ob die furchtbare Teuerung doppelten Hunger erzeugt hätte; denn jedermann aß, wie man bemerken wollte, fast noch einmal so viel als gewöhnlich. Ich galt damals im Dorfe für einen sehr glücklichen Prinzen, daß ich, so viel ich wollte, herrliches Butterbrot hatte, da mancher arme Teufel hungrig halbneidisch vorüberschlich. Da gab ich denn manchen Schnitt weg und tauschte irgendein Spielwerk oder einen Vogel dafür ein. »Junge, wirst du ewig nicht satt?« sagte einmal meine Mutter halb froh, halb traurig, als sie mir ein frisches Butterbrot schneiden mußte; »es ist doch, als ob der Himmel seinen Segen genommen hätte auch von dem, was noch da ist.« Da es sich aber ergab, daß ich meine vorige ziemlich starke Portion für einen Hänfling weggegeben hatte, fing sie an, eine strenge Zuchtmeistermiene anzunehmen, und ich glaube wirklich, sie würde zu Birkengottfriedchen gegriffen haben, wäre nicht mein Vater dazugekommen. Der meinte nun, es sei wohl ganz gut, daß ich mein Butterbrot verteile, nur nicht, daß ich Hänflinge, Peitschen und Platzbüchsen dafür nähme und dann komme und mir ein anderes erlüge: er könne übrigens jetzt nicht alle Hungrigen speisen und sei froh, wenn er nur seinen Haushalt leidlich gesättigt habe. »Wenn du nun selbst traurig, hungrig nach dem Butterbrot der andern sehen müßtest? Junge, wer zu dir kommt, den weise an mich oder die Mutter! Hunger tut weh, Junge, sagt man: das haben wir noch nicht erfahren; weiß der Himmel, ob es nicht noch kommt! hörst du, Junge, Hunger tut weh.« Dabei wischte er sich heimlich einige Tropfen aus den Augenwinkeln und ging und schnitt tief in ein großes Brot, um einige Zeit Sonnenschein auf finstere, niedergeschlagene Gesichter zu bringen. »Helfe euch Gott!« sagte er mit Rührung; »bald können wir nicht mehr helfen.«

Bei meinem Herrn Paten, dem Schulmeister Held in Posern, hatte ich für einen Phönix im Lernen gegolten; hier bei dem Herrn Weyhrauch in Knauthain galt ich für einen ausgemachten Dummkopf. Weiß der Himmel, woher es kam: ob mir das Umsetzen wie einem jungen Baume nicht bekommen wollte, oder was sonst die Ursache war, ich hieß nur der dumme Junge von Thüringen einige Jahre lang. Herr Weyhrauch nahm es mit der Geographie nicht sehr genau; denn Posern liegt noch zwei Stunden diesseit der Saale: ich aber habe mich seit der Zeit oft allen Ernstes für einen Thüringer gehalten, zumal da ich jenseit des Stroms verschiedene Verwandte hatte und hier nie so recht einmeißnern konnte. Ich schrieb von Posern aus in meinem sechsten Jahre schon eine ziemlich leserliche Hand; aber Herr Weyhrauch fand darin weder ductum noch fructum, und ich mußte durchaus ganz von neuem seine Hopfenstangen von Buchstaben nachmalen, worin ich sehr unglücklich war, da ich zum Zeichnen fast gar kein Talent besitze. Herr Adam Weyhrauch war ein ehrlicher, wohlmeinender, braver Mann, der eine gewaltige Zeit in Halle und Leipzig hatte studieren helfen, weil ihn sein Vater Weyhrauch, ludimagister ejusdem loci, quo postea filius, mit aller Gewalt wenigstens zum Kirchenrat machen wollte. Der Tod überraschte ihn aber im sechsten Universitätsjahre des Herrn Sohnes, und er hatte noch eben Kredit beim Patron genug, da er der höheren Klerisei nicht recht trauen wollte, sich denselben zum Nachfolger auszumitteln. Der Musensohn versorgte sich stracks in Leipzig mit einem hübschen Bürgermädchen zu Tisch und Bette und fing nun an, mit allem Fleiß am Weinberge Zions zu arbeiten. Schade, daß er keine Kinder hatte, um das Geschlecht der Weyhrauche in der Schulmeisterei zu Knauthain rühmlichst fortzupflanzen. Die Bauern meinten, sein Mangel an Produktivität dieser Art rühre von seinem großen Fleiße in Leipzig und Halle her; doch sagten sie dieses nur ganz leise, damit sein Ansehen bei der lieben Jugend nicht in Zweifel geriet. Er hatte seine liebe Not mit mir, und ich mit ihm. Ich glaubte zwar seine Aburteilung über meine Dummheit nicht ganz, war aber doch ganz verblüfft, daß ich dem Manne durchaus gar nichts zu Danke machen konnte. Lange Zeit war ich so im vermeintlichen moralischen Hinbrüten, bis sich endlich, ich weiß nicht wodurch, der Knoten löste und täglich irgend etwas Besseres zum Vorschein kam. Niemand war darüber froher als mein Vater, der schon einigemal traurig das Verdammungsurteil über meinen Geist gehört hatte. Wer zuerst etwas Ätherisches in mir entdeckte, war der Pfarrer, Magister Schmidt, ein rechtlicher, jovialer, ziemlich gebildeter und ziemlich orthodoxer Mann, in dessen Charakter aber der Grundzug freundliches Wohlwollen und Güte des Herzens war. Er schloß aus meinen oft sonderbaren Antworten in den öffentlichen Kirchenprüfungen auf meinen eigenen, zuweilen sehr barocken Ideengang, unterhielt sich viel mit mir und berichtigte meine Gedanken. Er besaß darin so viel Geschicklichkeit, als ob er in dem sokratischen geistigen Hebammeninstitut zur Lehre gegangen wäre. Nun sprach er mit dem Schulmeister, Herrn Weyhrauch, über die Methode des Unterrichts bei einem solchen Kopfe; die Einwendungen des Schulmeisters wurden gehoben; der Pfarrer zeigte ihm, daß ich kein Mechaniker und kein Schönschreiber werden und mich schwerlich mit Nachbeten begnügen würde. Man beschränkte sich nun auf die Negative und überließ die Positive mir selbst. Von nun an nahm man wenig Notiz mehr von meinen krummen und schiefen Linien auf dem Papier und meinen Stelzfüßen von Buchstaben, sondern nur von meinen Ideen, womit ich den Schulmeister und auch wohl zuweilen den Pfarrer in einige Verlegenheit setzte. In kurzer Zeit übersprang ich alle Matadorjungen des Dorfs in der Schule und war bald der Erste und Statthalter des Herrn Weyhrauch bei dessen Abwesenheit als Bienenvater und Spargelgärtner. Die Umstände und die Gesundheit meines Vaters waren unterdessen sehr gesunken, so daß man meine bessere Anstelligkeit nicht den Gratialen und der Gunst von Hause aus zuschreiben konnte. Ich mochte ungefähr zehn Jahre alt sein, als ich schon an der Spitze der Dorfschuljugend stand, unter denen doch wohl einige ihr vierzehntes geschlossen hatten. Mein Regiment galt für sehr strenge, aber nie für ungerecht; und ich war damals der Dorfklerisei erster Minister bei der Einführung der neuen Schulordnung, die zu derselben Zeit etwas strenge gehandhabt wurde. Ich erinnere mich aus dieser Periode bei ebendieser Gelegenheit eines Vorfalls, wie ich ein Märtyrer meiner Überzeugung ward. Es war befohlen, die Kinder sollten ordentlich nach Rang und Alter in der Schule paarweise nach Hause gehen, um das wilde Herumschwärmen zu verhüten. Ich gehörte zu dem Nebendorfe Knautkleeberg und hatte die Aufsicht über meine Kolonne. Die meiste Not machte mir ein fast fünfzehnjähriges großgewachsenes Mädchen, das sich in der Schule durch Langsamkeit im Lernen und außer derselben durch vorschnelle, laute Unbändigkeit auszeichnete. Beständig war sie bald rechts, bald links aus der Reihe, bald im Grase, bald im Schotenfelde, und schien des kleinen, ohnmächtigen Wichtes von Führer nur zu spotten. Es dem Herrn Weyhrauch zu klagen, schien mir unter meiner Würde, zumal da er ihrer Eltern wegen viele Nachsicht gegen sie zu zeigen schien; denn sie war die Tochter des Müllers. Als ich ihr eines Tages einige Male ohne Erfolg Ordnung geboten hatte, ergriff mich mächtig schnell der Amtseifer, daß ich hin sprang, um sie aus einem Haferfelde in Reihe und Glied zu bringen. Sie lachte und verließ sich auf ihre Gewalt; aber der Himmel weiß, wo in dem Augenblick meine Stärke herkam: ich fasse das Weibsstück beim Kragen, um sie in die Ordnung zu ziehen, schleudere sie aber aus dem Haferfelde unglücklicherweise den Berg hinab in die Sandgrube, wo sie denn gar unsanfte Purzelbäume schoß und sich wenigstens Hände und Gesicht empfindlich an den Steinen zerstieß, so daß reichliches Blut quoll. Nun ging alles schüchtern nach Hause. Den Nachmittag war die liebe Mama schon klagbar eingekommen; Herr Weyhrauch mit dem Haselzepter zitierte den jungen Primus vor zum Verhör und Standrecht. Ich erzählte die Sache und bestand auf meinem Recht; nur bedauerte ich den Sturz in die Sandgrube, der nicht in meiner Absicht gelegen hatte. Der Schulmeister wollte seinem Vikar doch so viel ausübende Justizgewalt nicht zugestanden wissen und meinte, Weisung und Meldung sei mein Amt. Ich behauptete im Gegenteil, daß ich damit nicht auskommen könnte. Herr Weyhrauch glühte auf, und ich war eben nicht sehr nachgiebig; er brachte mir im Amtseifer gehörigen Orts einen tüchtigen Schilling bei. Diese Schillingsmethode war bei ihm folgende: der pädagogische Vollstrecker faßte Delinquenten mit der linken Hand beim Haarschopf und brachte den Kopf zwischen die Schenkel des Orbilius, wo er ihn an Nacken und Ohren festklemmte und mit ebendieser linken Hand schnell den Hosengurt des kleinen Sünders ergriff, woraus eine Art von Schweben entstand; sodann bearbeitete er mit der rechten, in welcher der Haselstock war, das Örtchen, auf welchem man sonst ruhig sitzen soll, quantum satis, und wohl auch ein wenig mehr. Dieser Prozeß wurde auch an mir vollzogen, und ich hatte meine Abfertigung. Beim Abmarsch nach meinem Sitze verwahrte ich mich noch mit dem Protest, ich habe doch recht getan. »Hast du?« rief Herr Weyhrauch und fing mit neuem Eifer die Exekution von vorn an. Nun schritt ich rasch an meine Tafel, hielt die Hand, wo die Kallipyge die Augen hindreht, und stieß trotzig durch die Zähne: »Ich habe doch recht getan.« Die Nachbarn lachten, und der Schulmonarch fragte despotisch, was da wäre. »Er habe doch recht getan, meint er«, sagten sie; und die Zitation begann peremtorisch von frischem. Ohne weitere Erörterung fing die Bearbeitung noch exemplarischer zum dritten Male an, und nun erst überlegten beide Parteien, Exekutor und Inkulpat, ernsthaft still, ob sie recht getan hätten. Man kann wohl denken, daß die drei Schillinge mir eine ewig frische, denkwürdige Münze sind, da sie zumal in einer Lebensperiode ausgezahlt wurden, wo jede Art Gefühl sehr lebhaft in dem treuen Gedächtnisse bleibt. Mein Vater, der den Vorfall hörte, sagte weiter nichts als sein bedenkliches Hm, und ich habe nie seine Meinung über den streitigen Punkt erfahren. Daß man, wenn man Recht habe, dennoch demütig vor dem Ansehen schweigen müsse, gehörte, wie ich wußte, nicht unter seine Glaubensartikel; aber noch weniger gehörte es darunter, das nötige Ansehen des Lehrers wegen einiger Schwielen zu kompromittieren. Herr Weyhrauch mochte das Harte seiner Züchtigung meiner kleinen Hartnäckigkeit fühlen; denn er suchte es durch allerhand freundliche Aufträge, wofür mir gewöhnlich eine Belohnung von herrlichem Brot mit dem besten Honig ward, wieder in das alte Gleis zu setzen.

Um diese Periode, ich glaube, es war 1775 im Sommer, starb mein Vater. Die Geschichte seiner Krankheit und seines Todes ist mir zu wichtig, als daß ich nicht Einiges darüber sagen sollte. Seine Pachtung war, wie erwähnt, sehr unglücklich, und der größte Teil seines Vermögens war darauf gegangen. Das lähmte aber nicht sein Kraftgefühl und störte seinen guten Mut nicht. Einst hatte er seine letzten hundert Taler nach Leipzig getragen zu Dr. Teller, um den letzten Termin zu entrichten. Das Wetter war schneidend kalt; das Geschäft mochte nicht angenehm gewesen sein. Gegen die Kälte und den Verdruß hatte er, wider seine Gewohnheit, ein Glas Wein getrunken und hatte sich so aufs Pferd gesetzt, kam aber bis zur Erstarrung gefroren zu Hause an, so daß ihm der Knecht vom Pferde helfen mußte, da er sonst der behendeste Mann war. Nun bestellte er sich Kaffee, den meine Mutter selbst in der Küche besorgte. Als sie damit ins Zimmer tritt, findet sie, daß er seinen großen Stuhl verlassen und sich auf ein Bett geworfen hat, wo er tief in den Federn liegt und schläft. Sie denkt, Schlaf ist besser als alle Arznei, und läßt ihn liegen. Den Tag darauf klagt er über Schwere in den Gliedern und den folgenden Tag über Schmerzen im Unterleibe. Es scheint, die Bettwärme hatte die Kälte, die sich nicht wieder mit dem übrigen Körper in Temperatur setzen konnte, zurückgetrieben, und es entstand daraus eine Blasenkrankheit, die ihn einige Jahre mit unsäglichen Schmerzen quälte und ihn am Ende des dritten durch eine Apoplexie tötete. Man kann denken, wie sehr seine Haushaltung bei dieser traurigen Existenz leiden mußte, und doch verlor er bis an sein Ende niemals einen gewissen Grund von Heiterkeit und Frohsinn; nur hatten ihn seine Erfahrungen etwas bitter gemacht, so daß sich seine wahre Meinung oft sprichwörtlich ziemlich sarkastisch äußerte. Das Minimum von allem Guten, wodurch die Welt regiert wird, war einer seiner gewöhnlichen Gedanken; nur konnte er ihn nicht so dichterisch schön einkleiden, wie wir hier und da in Wielands Schriften finden. »Junge«, pflegte er mir oft mit skoptischem Gesicht zu sagen, »wenn man dir von oben her zuruft, das Wasser läuft den Berg hinauf, so mußt du gleich antworten: Gnädiger Herr, soeben ist es oben.« Ärzte wurden angenommen und gewechselt, ohne Erfolg, und ich erinnere mich gehört zu haben, man habe mehr als zweihundert Taler umsonst verdoktert. Als er in seinem 37. Jahre starb, ließ er seine Geschäfte in der mißlichsten Lage und meine Mutter als Witwe mit fünf Kindern, wovon ich als das älteste ungefähr zwölf Jahre alt war. Es entstand eine Art von Konkurs, wobei aber durchaus niemand einen Heller verlor; nur blieb meiner Mutter nichts als die winzige Summe von zweihundert Talern, wofür ihr ein kleines Häuschen gekauft wurde. Alle nahmen sich unser mit Rat und Tat sehr freundlich an, und es fehlte uns wenigstens nie an dem Notdürftigsten. Der brave Justitiarius Laurentius der Hohenthalischen Güter vorzüglich suchte die unglückliche Familie so sicher als möglich zu stellen und nahm für seine vielen Bemühungen in unserer Sache nicht allein nichts, sondern ließ uns auf eine feine, humane Weise noch manchen kleinen Vorteil zufließen. Mein Vater hatte kurz vor seinem Tode am Ende der Pachtung eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Ackern Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Frone, die er selbst verrichten mußte, wenn nicht sogleich alles zugrunde gehen sollte. Die Sense war seinem jetzt schwachen Arme zu schwer, er mußte einige Male die große Wiese verlassen. Ich erinnere mich, daß einige entmenschte Seelen, wie es deren überall gibt, unter andern der derzeitige Vogt, ihre bitter groben Bemerkungen darüber machten, als sie ihn vor seiner Haustüre mit einem kleinen Knaben, meinem jüngsten Bruder, spielen sahen. Der gute Mann wischte sich die Augenwinkel und legte sich lange einsam in den entlegensten Teil des Gartens. Nach drei Tagen lag er auf der Bahre. Ob wohl diese rohen Seelen dabei einige bessere Gefühle in sich empfunden haben? Dieser Vorfall vorzüglich ist mit Ursache meiner folgenden konzentrierten, nicht selten finster mürrischen Sinnesweise. Ich habe die Katastrophe nie loswerden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe.


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