Walter Serner
Zum blauen Affen
Walter Serner

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Nierenräumer und der Sozialismus

»Bitte ein Billett zweiter Klasse für dreißig Mark.«

Der Dresdener Schalterbeamte runzelte mürrisch die Stirn.

Deshalb sagte Nierenräumer: »Es ist ganz gleichgültig, wohin. Es handelt sich nämlich um eine Wette.«

Es handelte sich um keine Wette, sondern um eine der rabiaten Launen Nierenräumers, hervorgerufen durch den Mangel eines größeren Betrages.

Der Schalterbeamte belächelte alsbald loyal diese Angelegenheit und ließ sich zu einem Billett nach Breslau herbei.

Nierenräumer, der die vorvergangene Nacht in den unersättlichen Armen einer Rosa und die vorhergegangene auf einem Billard zugebracht hatte, gab dem Schaffner den Auftrag, ihn rechtzeitig zu wecken, seine letzte Mark und sich hierauf dem Schlafe hin.

Um acht Uhr abends schlenderte er bereits in Breslau ausgeschlafener, aber hungriger durch die Hauptstraße. Mehrmals. Und nochmals. Und wurde allmählich so übelgelaunt, daß er nicht einmal mehr das Nächstliegende, die Bekanntschaft einer liebenden hilfreichen Dame, sich angelegen sein ließ.

Er war auf dem besten Wege, vermittels einer gänzlich sinnlosen Anrempelung eines Oberprimaners einem leichten Hungerkoller nachzugeben, als ein von einer Bogenlampe übermäßig beleuchtetes fuchsrotes Plakat am Eingang eines stattlichen Gebäudes, in das ohne Unterlaß Menschen hineinströmten, ihn glücklicher Weise davon abhielt.

Er las mit einiger Neugierde:

Vortrag
des Privatdozenten Prof. Dr. Elias Traumdotter
über die Verwerflichkeit des Gebrauchs
sabotistischer Kampfmittel.
Nach dem Vortrag freie Diskussion.

Nierenräumer grinste, hob den Kopf und vergewisserte sich, das Volkshaus vor sich zu haben, bevor er, um einiges lebhafter, es betrat.

Im Saale setzte er sich in der Nähe des Podiums hinter eine Art von Verschlag und döselte so lange, bis ihm brausendes Beifallsrufen und schmetterndes Händeklatschen das Ende des Vortrags kündeten.

108 Unverzüglich folgte er dem Redner in das Referentenzimmer, wo er forsch auf ihn zutrat, sich gemessen verneigte und sehr laut äußerte: »Ich bin eigens zu Ihrem Vortrag aus Dresden hierher gekommen. Nierenräumer mein Name. Ich bin seit acht Jahren in der Bewegung. Herr Professor kennen mich vielleicht bereits.«

Professor Traumdotter erinnerte sich nun zwar nicht, behauptete aber gleichwohl, schon das Vergnügen gehabt zu haben, und sprach den Wunsch aus, Nierenräumer bei der folgenden Diskussion zu hören und nachher im Café Fahrig noch zu sehen.

Jenes geschah dergestalt:

Professor Traumdotter ließ sich in der Hitze des Kampfes zu der Behauptung hinreißen, die Sabotage sei deshalb ein ganz besonders verwerfliches Kampfmittel, weil ja doch der Arbeiter selbst derjenige sei, welcher schließlich den angerichteten Schaden reparieren müsse.

»Aber er wird doch dafür bezahlt!« rief einer.

»Er verdient dann unter Umständen sogar mehr!« schrie ein anderer.

Professor Traumdotter ergriff in höchster Verlegenheit ein Wasserglas.

Nierenräumer, der die für ihn so günstige Gelegenheit dieses peinlichen Augenblicks sofort erkannte, brüllte plötzlich in den Saal: »Herr Professor Traumdotter hat durchaus recht. Der Arbeiter bekommt zwar unter Umständen einen höheren Verdienst. Aber, meine Herren, denken Sie doch nur an die Kontinuität der irregulären Elemente innerhalb des Proporz-Verhältnisses.«

Professor Traumdotter atmete befreit auf, stürzte sich auf diese rettend ausgeworfenen Vokabeln und schwamm alsbald wieder obenauf.

Infolgedessen begrüßte er Nierenräumer nachher im Café fast überschwenglich.

Dieser zögerte nun nicht länger, sich ein Restaurationsbrot und eine Portion Tee servieren zu lassen und mit also wiedererlangter voller Unternehmungslust die Aufmerksamkeit Professor Traumdotters einerseits auf den Proporz zu lenken, andererseits aber den Wunsch auszusprechen, einem älteren, von ihm längst gesichteten Herrn samt Tochter vorgestellt zu werden.

Selbstverständlich war dies Professor Traumdotter eine Ehre und deshalb auch Herrn Karl Schmalzberger, Delikatessen en gros, und dessen sehr blonder Tochter Pippa, die eigentlich, was 109 Nierenräumer rasch erfuhr, Martha hieß, aber so überaus für Gerhart Hauptmann schwärmte, daß . . .

Nierenräumer beeilte sich, im Wege wilder Lobpreisungen des von ihm als Paradesozialisten mehr noch als Professor Traumdotter verlachten Dichters das tiefe Wohlgefallen Fräulein Pippas zu erregen, und erzielte bald deutliche Anzeigen ihrer Gunst.

Da erklärlicher Weise nun Herr Schmalzberger sich ein Vergnügen daraus machte, Nierenräumers Zeche zu begleichen, stieg dessen Selbstvertrauen derart, daß er durch einen vom Kellner besorgten Brief Professor Traumdotter um ein Darlehen von zwanzig Mark anging.

Sohin war Nierenräumer in der Lage, es sich nicht nehmen zu lassen, die Herrschaften Schmalzberger im Wagen nach Hause zu bringen. Dieses hatte das unvermeidliche Resultat, daß eine Einladung zum Abendessen für den nächsten Tag erfolgte.

Bei dieser Gelegenheit faßte Nierenräumer dadurch, daß er eine von der Hand Pippas gemalte Öllandschaft augenblicklich als von Liebermann beeinflußt erkannte und der Überzeugung Ausdruck gab, es wäre gleichwohl ein sehr starker persönlicher Strich vorhanden, vollends festen Fuß.

Nach drei Tagen war die Familie Schmalzberger endgültig von Nierenräumer entzückt.

Desgleichen Professor Traumdotter, der den Rat des für die Bewegung so hoffnungsvollen jungen Mannes in bezug auf den Proporz im Besonderen und auf das unter seiner Feder befindliche Werk ›Das sabotistische Kampfmittel und die Internationale‹ im Allgemeinen mehrmals erfolgreich in Anspruch nahm.

Entzückt waren ferner: drei bei Schmalzbergers verkehrende Familien, denen die junge Leuchte Nierenräumer eilig präsentiert wurde, nicht ohne gewisse zarte Anspielungen auf eine im Bereich des Naheliegenden befindliche Verlobung; und unabwendbarer Weise die um Professor Traumdotter, jener gewählte Kreis angehender oder bereits im besten Arrivieren sich befindender Nationalökonomen und Karriere-Sozialisten.

Nach acht Tagen hatte jedoch dieses Entzücken ein jähes Ende: Nierenräumer war verschwunden.

Und zwar nach Berlin. Allwo er mit dem immerhin größeren Betrag von 1210 Mark eintraf, den er an einem Vormittag sämtlichen in Betracht kommenden, weil von ihm entzückten Breslauer Persönlichkeiten unter Vorweisung einer Depesche, derzufolge fünfhundert Mark aus Dresden an ihn unterwegs seien, klug verteilt abgenommen hatte.

110 Diese Depesche hatte er telephonisch von jenem Fräulein bestellt, das ihm nun auf dem Schlesischen Bahnhof um den Hals und auf der Straße schon auf die Nerven fiel, da sie unausgesetzt die Anschauung vertrat, hintergangen worden zu sein.

»Hätte ich dich in diesem Fall kommen lassen?« Nierenräumer beseufzte die Schwierigkeit, ein ruhiges unregelmäßiges Leben führen zu können.

»Du bist eben schon fertig in Breslau.«

»Richtig. Dort bin ich fertig.«

»Außerdem bist du erst seit vierzehn Tagen von Dresden weg und nicht schon seit drei Wochen.«

»Lydia, ich bitte dich um eins: gehe nicht meinen Spuren nach, sondern folge dem Zuge deines Herzens.«

» Wenn du glaubst, daß du mich wieder mit solchen Alfanzereien fängst, dann täuschst du dich.«

»Warum bist du denn nicht in Dresden geblieben?« Nierenräumer wurde schon alles egal.

»Niri!« Lydias Blick verschleierte sich unerwartet. »Du bist doch meine große Schwäche. Das weißt du nur zu gut. Sag mir bitte jetzt bloß, was du in diesen acht Tagen in Dresden gemacht hast.«

»Pläne.«

»Das glaub, wer mag.«

»Mag!«

»Niri!«

»Hier!« Nierenräumer, am Rande seiner Geduld, zeigte ein pralles Portefeuille, in dem sich jedoch für alle Fälle nur fünfhundert Mark befanden.

»Du warst also wirklich nicht mit der Rosa?«

Nierenräumer schwieg verächtlich.

Das imponierte Lydia zum Teil; zum Teil überredete sie sich, es wäre ein Beweis seiner Treue. Und sofort fiel ihr etwas ein, das sie endgültig überzeugte: »O, du hast ja bei Klunger einmal auf dem Billard geschlafen. Das hat mir Gustl erzählt. O, du warst also doch nicht mit der Rosa!«

Nierenräumer zwang sich mühselig, keine Mimik aufzuweisen, und nahm Lydias Arm fest an sich. »Hör mal! Du erinnerst dich wohl noch an den Truc, den ich mit dir in der Kaiser-Bar in Dresden loslassen wollte. Jetzt ist das Handgeld dazu da. Ich glaube, die Kolibri-Bar in der Motzstraße wäre das geeignetste Lokal.«

»Glaubst du, Liebling?« 111

 


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