Walter Serner
Zum blauen Affen
Walter Serner

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Kuhles ganz seltene Stunde

Als er ihre strammen Beine erblickte, legte er beteuernd die Hand aufs Herz.

Sie sah es und näherte sich ihm ungezwungen.

Er zog sie mit erquickender Selbstverständlichkeit auf den Stuhl neben sich, bestellte ihr einen Apéritif und nach einer halben Stunde lag sie in seinem in der Nähe befindlichen Bett, das sie nach einer weiteren halben Stunde so unzweideutig ungern verließ, daß Sasso ihr nicht einen Centime gab, dafür jedoch ein Rendez-vous.

Nach zwei Tagen höchst direkter, wortkarger und ebendeshalb sehr glücklicher Beziehungen schlug ihr Sasso, der die Zeit für gekommen hielt, ein vernünftiges Leben zu beginnen, plötzlich vor, sich einen neuen Hut zu kaufen und ein neues Handtäschchen.

Marja lächelte bloß: ähnlich fing das immer an.

Sasso sagte erfreut: »Nicht übel. Du bist die geborene Erbin.«

Marja lächelte um einige Grade breiter. Dann meinte sie schlicht: »Also nun endlich raus damit!«

Sasso küßte ihr begeistert das linke Öhrchen . . .

Kurz darauf erzählte Sasso einem sehr vermögenden Antiquitätenhändler namens Kuhle, dessen romantischen Trieb nach seltenen Erlebnissen er bereits öfter bedient hatte, daß ihm ein höchst sonderbarer Fall untergekommen sei. Er habe nämlich ein junges Mädchen aus einfacher, aber guter Familie kennen gelernt, ihres gleichwohl sehr herausfordernden Verhaltens wegen aber schon beim ersten Beisammensein das Übliche vorgeschlagen, worauf sie kaltblütig fünfzig Francs im voraus verlangt habe. Nur des ungewöhnlichen Falles halber wäre er noch einige Male mit ihr zusammengekommen, ohne jedoch mehr zu erreichen als die unanzweifelbare Feststellung, daß es sich wirklich um ein Mädchen aus guter Familie handle, das heftige Bildungsbedürfnisse habe, einige Vorerlebnisse und wahrscheinlich eine kleine Familienunterschlagung auf dem Gewissen, die solcher, nicht mehr ganz ungewöhnlicher Art gedeckt werden sollte.

Kuhle bekundete ungesäumt die von Sasso erwartete Neugierde und wünschte, dieser seltsamen Marja so bald wie tunlich präsentiert zu werden.

Um die bei Kuhle jedoch bereits seit einiger Zeit sich zeigenden Mißtrauenssymptome zum Verschwinden zu bringen, ließ Sasso mit bemerkenswerter Geduld und Verwendung von selbst 43 aufgegebenen Stadtdepeschen, denen zufolge Marja ihres scharf aufpassenden Vaters wegen im letzten Moment am Ausgehen verhindert worden sei, nicht weniger als zwei bereits vereinbarte Rendez-vous kühn scheitern.

Als die Vorstellung dann endlich erfolgte, war Kuhles Vertrauen in Sassos Freundschaft und Gefälligkeit unerschütterlich geworden und deshalb der Boden für Marjas, von Sasso eingeblasenen Manövern hergestellt.

Nachdem Sasso sich entfernt hatte, promenierte Kuhle mit Marja durch die Straßen, fragte ohne Unterlaß und wunderte sich zwischendurch, da er immerhin gewöhnt war, bei Weibern auf Lügen zu stoßen, daß alles, was Marja ihm antwortete, haarklein mit den Mitteilungen Sassos sich deckte. Anstatt jedoch von neuem Mißtrauen zu schöpfen, sah er darin einen vollgültigen Beweis für die außerordentlich seltene Wahrheitsliebe Marjas. Die Familienunterschlagung stimmte also. Kuhle war tief gerührt und beim Abschied mit hundert Francs zudiensten, die er Marja, welche höchst eigenmächtig vorher von fünfundsechzig Francs gesprochen hatte, keusch in die Hand drückte.

Sasso erhielt noch am selben Abend von Marja ein genaues Referat dieses Spazierganges, fünfzig Francs und den Dank in Naturalien.

Tagsdarauf traf Marja, bereits im Besitz eines neuen Hutes und eines neuen Handtäschchens, verabredetermaßen mit Kuhle zusammen. Der führte sie in das ihm von einem befreundeten, aber gegenwärtig verreisten Photographen anvertraute Atelier, sprach und sprach, gebärdete sich, obwohl verheiratet und dank Sasso nicht ganz ohne Erfahrung, schüchtern und unsicher und zeigte ihr schließlich ein Buch über Michelangelo mit zahlreichen Bilderbeigaben.

Marja hielt es für nötig, einzugreifen. Während Kuhle vorlas und Erklärungen instruktivster Natur einfließen ließ, umhalste sie ihn plötzlich. Nun, an diesem Tage lasen sie nicht weiter.

Sasso vermochte, als ihm dieses berichtet ward, nicht einmal zu lachen. Es überraschte ihn nicht sonderlich.

Marja aber fürchtete, unter diesen Umständen könnten neuerliche Geldbedürfnisse nicht mehr zu plazieren sein.

Sasso, sofort Herr der Situation, beruhigte sie: »Jetzt erst recht.«

Marja staunte ein wenig . . .

Als sie aber am nächsten Tag an Sassos Kaffeehaustisch zurückkehrte, hatte sie von Kuhle unter dem ihr aufgegebenen Vorwand, 44 sich Bücher kaufen zu wollen, weitere hundert Francs erlangt.

Später holte sie sich auftragsgemäß Beträge zwischen fünfzig und hundert Francs für die Inskription als außerordentliche Hörerin der Philosophie an der Universität, für Nebenauslagen im Seminar, für allerhand Taxen, für das Abonnement an einer Privatbücherleihanstalt, für Stenographie-Unterricht, für englische Konversation, für Separatkurse, für das Abonnement wichtiger Fachzeitschriften etc. etc. etc.

Kurz, es war ein wirklich seltener Fall für Kuhle. Er fühlte sich bereits sehr und haßte mit dem ganzen Haß eines mit sich zufriedenen Menschen den geizigen, hartherzigen und beschränkten Vater Marjas.

Und sein Vertrauen war grenzenlos. Er glaubte an die wahnsinnige Liebe, die Marja ihm unter Zuziehung der bewährten Ratschläge Sassos vorheuchelte, glaubte an ihre Abneigung gegen diesen, der ihr zu zynisch, zu materiell, zu ungebildet wäre, glaubte an Sassos vergebliches Bemühen, Marjas Gunst zu erlangen (welches Motiv von Sasso verwendet worden war, um Kuhles mächtige Eitelkeit zu kitzeln), glaubte und glaubte, ja wurde dermaßen Idealist und Höhenmensch, daß er, um die Leiden Sassos, dem er ja schließlich seine Marja verdankte, zu enden, diese spontan zu bewegen versuchte, ein einziges Mal doch nur mit Sasso zu schlafen. Sie sollte es ihm zuliebe tun. Das sei Weibespflicht. Menschenpflicht.

Sasso traute seinen Ohren nicht.

Marja schüttelte besorgt das Köpfchen: »Das nimmt ja eine beängstigende Wendung. Und dann habe ich es, offen gestanden, wirklich bereits satt, mich von dir täglich zwei Stunden unterrichten zu lassen, um diesem alten Esel Bildung vorzumachen. Das ist ja schon fast so, als wenn ich wirklich studieren würde. Eine Schande! Ganz abgesehen von der Zeit, die ich fürs Geschäft verwenden könnte.«

»Jawohl, Marja, das hat unerwartete Dimensionen angenommen. Da muß Schluß gemacht werden.« Sasso hatte es gewaltig über, mit Nachhilfestunden sich Prozente zu holen.

Er setzte sich hin und schrieb an Kuhle einen anonymen Brief gegen sich selber. Schaudervollster Art. Daß er, Sasso, Erpressungen an Marja ausübe. Mit heftigen Spitzen gegen Kuhles Frau. Sie betröge ihn mit ihm, Sasso, und mit einem Postadjunkten namens Racine. Mit heftigen Spitzen gegen Marja, welche die Geliebte eines Geschichtsprofessors der Universität sei und die seine, 45 Sassos. Und anderes Liebliche mehr. Der Brief war vierzehn Seiten lang. Es gab nichts im Umkreis der Interessen Kuhles, das Sasso nicht schamlos und raffiniert verdächtigte.

Das Ergebnis jedoch war niederschmetternd. Wenige Minuten, nachdem Kuhle diesen Brief erhalten hatte, erschien er zu ganz ungewöhnlicher Stunde, nämlich um neun Uhr morgens, an der Tür Sassos, um sich zu entrüsten, ihn seines felsenfesten Vertrauens zu versichern und zu bitten, ihm zu helfen, den Schreiber dieses Briefes zu entlarven.

Sasso hatte im Pyjama geöffnet und ließ stehend und bei offener Tür den entsetzlichen Wortschwall des in seinen edelsten Gefühlen wilderregten Höhenmenschen schweigend über sich niederprasseln.

Schließlich wunderte sich Kuhle nun doch über diese an Teilnahmslosigkeit grenzende Ruhe Sassos. Und mit einem Mal schwieg er. Und ganz plötzlich wurde er mißtrauisch, ohne selbst recht zu wissen, weshalb.

In diesem entscheidenden Moment hielt es Marja, die nun einfach endgültig genug hatte und ganz erbärmlich unter dem Federbett schwitzte, an der Zeit, sich hervorzubegeben.

Doch siehe da: nichts von dem, das sie erwartet hatte, geschah.

Kuhle trat lächelnd auf sie zu, umarmte sie väterlich und flüsterte ihr gerührt zu: »Ich wußte es ja, daß du die Kraft dazu haben würdest. Ich wußte es ja . . . Und Sie, Sasso, bitte ich um Verzeihung, daß ich Ihnen mißtraut habe. Jawohl, soeben habe ich Ihnen mißtraut . . .« Er zerriß bei diesen Worten, leidenschaftlich bewegt, den anonymen Brief, den er in der zuckenden Hand hielt. »O, welch ganz seltene Stunde! Welch erhebende Stunde!« Und er küßte ununterbrochen Marjas Hand und begann zu weinen.

Sasso sank verzweifelt auf einen Stuhl.

Marja ließ sich angeekelt in die Kissen zurückfallen.

Endlich bekam Kuhle Taktgefühl, grüßte menschenfreundlichst und ging, hocherhobenen Hauptes . . .

Sasso und Marja aber verließen mit dem Abendschnellzug Lyon, nicht ohne zuvor einen Scheck Kuhles, den Marja für alle Fälle gestohlen hatte, auf eine hohe Summe zu fälschen, um Kuhle jede Möglichkeit zu nehmen, weiterhin Höhenmenschentum zu begehen. 46

 


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