Walter Serner
Zum blauen Affen
Walter Serner

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Der große Verbrecher

Als Numi erwachte, hörte er sprechen.

›Ah, Blanche. Doch die andere Stimme?‹ Numi lauschte verschlafen: ›Schunte!‹ Augenblicklich schluckte er, völlig wach geworden, den Atem und rührte sich nicht.

»Du kennst mich doch, Schunte,« hörte er Blanche sagen. »Ich habe einfach nicht ausgeschlafen. Das ist alles.«

»Schön. Also die achttausend sind sicher. Du mußt halb vor drei im Café Lyrique sein. Bitte, hör genau zu . . .«

Die Stimmen wandten sich in eine andere Richtung.

Numi setzte entzückt die Zeigefinger an die Ohren, vermochte aber erst nach einigen Minuten wieder zu verstehen.

»Persönliche Fabel ist hervorragend,« kicherte Blanche.

»Du bist meine cousine germaine, meine Gliedkusine, Belgierin und erst seit drei Wochen in Genf. Fertig. Bitte nicht die leiseste Dichtung. Das erweckt Mißtrauen oder doch nur den Eindruck von Trottelei. Ferner . . .«

Abermals entzog sich Numi das Weitere. Bald aber hörte er Blanche wieder:

»Aber was soll ich denn anziehen? Hein?«

»Pas grand'chose! Halb vor zwei kommt ein Fräulein zu dir, das dir ein dunkelblaues Kostüm bringt. Gutbürgerliche Nebenanleimung von mir, die Kleine, lediglich zu ähnlichen Zwecken. Also keine Konversation, wenn ich bitten darf. ›Merci!‹ – und dann hinaus mit dem Wesen.«

»Großartig. Woher hast du diese Schneegans?«

»Pah, Spielerei . . . Übrigens . . .«

Das Folgende blieb für Numi unverständlich. Er zitterte bereits vor Ungeduld und Neugierde, als endlich Schunte wieder vernehmlich wurde:

» . . . Die Schlipski? Die sitzt seit gestern mit irgendeinem Schnurrbart in Nyon und hält sich für eine Lebenskünstlerin, das Biest.«

»Ja, und nachher?«

»Nachher sandte ich mich still nach Hause. Wer sitzt da tollkühn vor meiner Tür? Kralup. Pumpt mich mit voller Erfolglosigkeit an, übt sich eine Viertelstunde im Lügen und wird von mir mit einer kleinen Mission entlassen . . . Alles nur meine Laufburschen, diese Dromedare . . . Kralup erinnert mich übrigens an einen sehr 62 günstigen Kauz, so eine stille Größe, die sich einbildet, einen Extraschatten zu werfen. Blöder Stümper natürlich und um den Bauch zu binden. Vorgestern holte ich mir den Trottel im Café, seifte ihn mit einem schäumenden Sermon ein, daß er nur so ächzte, und nahm ihn so ein bißchen mit in den Salat . . .«

»Wer ist denn das?«

»Ganz besonders gestielter Name: Jonas Numi, bitte. Kennst du den Vogel?«

»Ich? . . . Bitte nicht so laut! . . . Ja, flüchtig.«

»Hast du Mäuse? . . . Also der Junge ist direkt eigens dazu geboren, daß man ihm schlechte Erfahrungen verschafft. Nebenbei: mach den Jungen flüssig, dann wird er glatter . . .«

»Sssst! Es ist wegen . . .«

Geflüster. Schließlich konnte Numi von Schunte noch einiges auffangen:

». . . Im Café werde ich für dich bezahlen. Das wirkt nämlich doch wieder besser. Und vor der Schneegans bitte keine Reden halten . . . Hast du vier Francs? . . . Merci beaucoup . . . Hübsch bist du heute . . . Ich habe lange nicht mehr mit dir . . .«

»Adieu. Bitte, laß mich jetzt . . .«

»Excusez, madame. Ich vergaß: nicht ausgeschlafen . . . Au revoir!«

Die Tür ging.

Numi drückte langsam den Kopf in das Kissen.

Gleichdarauf stürzte Blanche an den Vorhang und atmete befreit auf, als sie Numi hold schlafend erblickte. Dann weckte sie ihn stürmisch.

Später setzte sich Numi mit einem Glas schwarzen Kaffees in eine Ecke und betrachtete geruhsam Blanche, die vor dem Spiegel mit ihren Chignons kämpfte.

»Vorhin war Schunte einen Moment da.« Blanche lauerte angespannt in den Spiegel, in dem sie Numis Gesicht sehen konnte.

»So.« Numi, der wußte, daß sie ihn sah, beäugte verzückt sein Stück Brot.

»Wie gefällt er dir?« Blanches Hände in den Haaren hielten inne.

Numi blickte ihr mit unüberholbarer Treuherzigkeit in die Augen. »Ich kenne ihn nur flüchtig.«

Blanche sah augenblicks weg. Ihre Finger hasteten wieder. »Ach, das sagt man immer, wenn man nicht schimpfen will. Ich mag Schunte trotz allem sehr. Das erste, was ich über ihn hörte, hat mir schon sehr gefallen. Man erzählte mir, er sei mit achtzehn 63 Jahren nach Paris gefahren, um ein großer Verbrecher zu werden, und nur, wenn ihm das nicht gelingen sollte, ein Dichter. Sehr nett, nicht wahr?«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Neununddreißig.«

»Und noch kein Dichter?«

»Sehr nett, wirklich . . . Aber wer sagt dir, daß er kein großer Verbrecher ist?«

»Meine Nase und die Art, wie er – dichtet.« Numi biß selig in sein Brot.

»Er ist doch kein Dichter.«

»Aber er lügt ebenso.«

»Ph, kennst du einen Verbrecher, der nicht lügt?«

»Nein. Aber Lügner, die keine Verbrecher sind.«

»Qu'est-ce que ça? . . . Du verstehst dich ja selber nicht.« Blanche flizte, sich sehr überlegen fühlend und deshalb vergnügt, durch die Mansarde.

Numi näherte sich ihr, noch weitaus vergnügter, und gab ihr Gelegenheit, sich an die vergangene Nacht zu erinnern.

Im Verlaufe dieser Erinnerungen gelang es Numi mit geschickter Benützung seiner Armbanduhr, es so einzurichten, daß Blanche halb vor zwei das im Korridor befindliche Kabinett, wo sie in solchen Fällen stets länger als wahrscheinlich sich aufhielt, frequentieren mußte.

Fast pünktlich erschien die gutbürgerliche Nebenanleimung in Gestalt eines etwa zehnjährigen Schmutzfinks.

Das sehr unappetitliche Paket, das lediglich einen bereits weidlich benützten Rock barg, legte Numi versteckt neben die Tür.

Mehr noch über das Ausbleiben des heiß erwarteten Kostüms erstaunte Blanche über eine Stadtdepesche, die gegen zwei Uhr eintraf.

Numi tat, als interessierte ihn nichts als ein Loch in der Hose.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal!« entfuhr es dem Zorn Blanches.

»Was denn,« äußerte Numi so nebenhin.

»Ach, immer wieder nichts.«

»Hör mal,« begann Numi nach einer Weile, da es ihm gelungen war, den Namen Schuntes unter der Depesche zu lesen. »So weit ich mich erinnere, hast du noch fünf Francs. Wie wär's, wenn wir essen gingen?«

»Je n'ai rien du tout.« Blanche pfiff die große Arie aus Aïda.

»Aha, Schunte!«

64 »Ça ne te regarde pas.«

»Ja, der große Verbrecher, der sich francsweise durchs Leben gaunert.«

»Du bist eifersüchtig.«

»Mitnichten. Aber als er mir den Vorschlag machte, ihm zwei Francs zu pumpen, damit er eine in die Tausende gehende totsichere Sache nicht im letzten Moment wegen Körperschwäche aufgeben müsse, ließ ich ihn glatt stehen.«

»Ist das wahr?«

»Ebenso wahr wie der Verlust von acht Francs seitens des freundlichen Knaben Kralup, der so naiv war, zu glauben, ohne diesen Betrag müßte ein Kamerad Schuntes in Rotterdam auf vier Jahre ins Gefängnis wandern, mit dreitausend Gulden in der Tasche.«

»Hm.« Blanche war enorm nachdenklich geworden.

»Apropos, als du vorhin draußen warst, brachte ein Scheusal von einem Straßenjungen ein Paket für dich . . . Hier.«

Blanche stürzte sich darauf.

Plötzlich aber schrie sie auf: »Mais non! Das ist ja mein eigener Rock? Der, den ich seit Wochen vergeblich suche.«

Numi zuckte die Achseln und mimte vortrefflich den Ahnungslosen.

Den Rock auf den zuckenden Knien, saß Blanche sekundenlang unheildrohenden Gesichts da.

Plötzlich schaute sie scharf nach Numi, der sich jedoch durchaus nicht irritieren ließ.

Nun versagten ihre Nerven. Sie sprang auf und schrie: »Je ne comprends pas ça! Wie kommt Schunte zu meinem Rock?«

»Schunte?« wunderte sich Numi nett. »Er wird ihn dir wohl geklaut haben.«

»Hör, Numi! Schunte hat mir, als er heute hier war, versprochen, mir ein Kostüm zu schicken. Und nun . . . Je ne comprends pas ça!«

»Er hat jedenfalls einen alten Kleiderhandel. Vielleicht verschafft er sich die Ware stets so, wie dir dieser Rock abhanden kam. Infolge seines stattlichen Lagers hat er sich wohl diesmal geirrt.« Numi musterte den schadhaften Plafond.

»Ein Straßenjunge brachte den Rock, sagtest du?«

Numi nickte kaum.

Blanches Lippen verrissen sich kläglich.

»Wieviel hat er dir denn im ganzen bereits abgeschwindelt?« fragte Numi plötzlich scharf.

65 Blanche, die ohne es zu merken, langsam in Numis Gewalt hinüberglitt, sagte leise: »Vielleicht dreißig Francs.«

Numi lachte unverhohlen: »Nun, der Rock ist keine zehn Francs mehr wert und sollte dich wohl wenigstens so weit trösten, um noch weitere dreißig Francs aus dir herauskitzeln. Kein Zweifel, Schunte ist ein großer Verbrecher.«

Blanche sank gebrochen auf eine Kiste.

»Komm, mein Kind, wir gehen jetzt zu Beltrami essen.« Numi preßte seine Hand fest auf ihre Schulter. »Das Weitere wird sich finden, wenn du parierst.«

Blanche fiel ihm um den Hals. 66

 


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