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Fünfzehntes Kapitel.

– O Du!
Verderblicher als Hunger, Pest und Meere!
Schau die betrübte Bürde dieses Bettes;
Das ist dein Werk.

Shakespeare.

Die Glocken von den Kirchtürmen hatten mittlerweile fünf geschlagen, und der Morgen graute von Osten herüber. Anfangs ein fieberroter Punkt am Itztaccihuatl, der wieder in matte chaotische Dunkelheit verglomm, wieder auftauchte und vom Grünroten ins Aschfarbige, von diesem ins Dunkelbraune und vom Dunkelbraunen ins Blaßgoldene schillernd, das Auftauchen der Sonne aus dem Ozean verkündete. Noch war es dunkel am Himmel, aber es war eine eigene Dunkelheit; kein Wölkchen befleckte das reine Himmelszelt; die wenigen noch sichtbaren Sterne schienen zu zittern in der Morgenfrische und erbleichten, während hinab gegen den Popocatepetl die roten Streifen seines schneeigen Hauptes gleich feurigen Flaggen sich um seine hehren Krater legten. Dann begann ein mattes blasses Licht zuerst über die Koppen der Tenochtitlangebirge herüber zu brechen, und im Zwielichte tauchten sie auf, eine nach der andern; aber die Stadt lag noch in Finsternis und Schlaf begraben, und nichts unterbrach die Totenstille als das Vigilancia der Schildwachen und das Rasseln der Totenkarren, welche die in der Nacht entschlummerten Leperos in ihre enge Wohnung oder die Hauptwachen abführten. Es war eine eigene Stille, diese Stille der Tausende, dieses Totenleben, bewacht von den Wächtern des ertötenden Despotismus. Am See Chalco und seinem Kanal fing es dann an, sich zu regen, und Hunderte von Kanoes flogen im Schatten der weichenden Nacht über den mehr und mehr erglänzenden Wasserspiegel dem engen Kanal zu, begleitet von dem Morgengesange der Indianerinnen und den Gitarrentönen ihrer Männer.

»Jesu Maria und alle Heiligen, halb fünf Uhr!« jammerte der Mayordomo, der eben vom rechten Flügel gekommen war, ihm nach mehrere weibliche Diener, die auf den Zehen einhertrippelten, Schrecken auf ihren Gesichtern. »Halb fünf Uhr!« jammerte der alte Diener. »Noch eine Stunde – horch, die Glocke von der Kathedralkirche – die Stunde, in der der Erzbischof die Messe ansagte, ist ja noch nicht gekommen. Wird er gehen?«

»Er ist schon gegangen, aber nicht zur Messe«, flüsterte Señor Pinto dem alten Manne in die Ohren. »Zum Teufel mit deiner Altenweiberfrömmigkeit.«

»Gespenst der Nacht und der Hölle! Alle guten Geister loben Gott den Herrn«, kreischte der Mayordomo, der zurückschaudernd an den Conde stieß, welcher, in seinen Schlafrock gehüllt, vorüber in den rechten Flügel zu den Gemächern der jungen Condesa schritt.

»Gott und alle Heiligen!« wehklagte der alte Mann seinem Herrn. »Sie liegt noch immer in Ohnmacht, unbewußt alles dessen, was um sie her vorgeht«; und er faltete seine Hände zusammen.

Der Graf trat in das Kabinett, und die Vorhänge des Bettes öffnend, schaute er mit bekümmertem Blicke auf das Engelsgebilde, das, weißer denn die Linnen, die es verhüllten, dalag. Ob schlummernd oder verblichen, würde beim ersten Anblick schwer zu erraten gewesen sein.

Gleich einer Alabasterstatue, von griechischer Hand gemeißelt, lag sie hingegossen, eine Vision ohne Atem, ohne Bewegung. Erst nach langen Zwischenräumen öffneten sich ihre bleichen Lippen, zitterten einige Sekunden leblos und unwillkürlich, wie die Blätter vom Hauche des Windes gerüttelt, und schlossen sich wieder so willenlos, wie diese zur Erde fallen.

»So dauert es jetzt schon geschlagene zwei Stunden«, wisperte Sancheca, die Doncella Kammermädchen. der jungen Condesa, indem sie sich über das Engelsgesicht hinbog und den kalten Schweiß von der Stirn küßte.

»Zuweilen«, murmelte die Duena mit Tränen im Auge, »schaudert sie auf, zittert, dann schlägt sie die Augen auf und starrt und starrt, als ob sie ein Gespenst sähe. Sie spricht auch mit sich selbst. Eile, eile, glänzendes Segel, eile, führe ihn hinweg, leichtes silbernes Segel, vom unglückseligen Mexiko zur Bahn des Ruhmes! lispelte sie im befehlenden Ton, und dann spreizte sie die Arme aus, als wollte sie jemand aus den Klauen eines Ungetüms erretten. Wieder betet sie, warnt vor den Cachupins; selbst verwünscht hat sie die Cachupins. Heilige Jungfrau! Mich wundert nur, wo sie die Verwünschungen gelernt hat. Der Engel konnte sonst nichts als beten.«

»Gerade als Anselmo uns verließ«, fiel Sancheca wieder ein, »erhob sie sich und ging mit geschlossenen Augen im Zimmer umher, ergriff den Armleuchter und suchte in allen Ecken. Sie starrte uns alle an, als ob sie uns nie gesehen hätte, und dann stieß sie den Armleuchter wieder weg, kreuzte ihre Händchen auf dem Busen und betete so flehentlich, ein Stein hätte sich ihrer erbarmen mögen. Aber sie konnte diese Anstrengung nicht aushalten und wäre gesunken und gefallen, hätten wir sie nicht aufgefangen.«

»Du hast vergessen,« rief Bettina, ein zweites Kammermädchen, »was sie sprach, als sie so im Kabinette umhersuchte. Ja,« sagte sie, »über diese Felsen und Klippen muß er hinab ins Bereich des tückischen Vómito und, Jesús Maria, die See, die stürmische See mit ihren alles verschlingenden Wogen!«

Der Graf, eine Träne im Auge, bog sich über die Schlummernde hin.

»Niña! Niña! Wollen wir nicht für den Unglücklichen, der uns verläßt, beten?«

Sie hörte nicht, sie gab keine Antwort.

»Niña! Niña!« bat er wieder.

Ein entfernter Trompetenstoß, der den Paseo herabschmetterte, ließ sich im Kabinette hören. Die Augen der ohnmächtig Schlummernden öffneten sich.

»Niña!« bat der Conde wieder im zärtlich väterlichen Tone, »Niña, wollen wir nicht für den Unglücklichen beten, der uns verläßt?«

Auf einmal öffnete sie die Augen, blickte stier und starr um sich, schüttelte das Lockenköpfchen, schaute den Grafen wie verwundert an, streckte ihre Arme aus, und ihn um den Hals fassend, lispelte sie: » No perdido para siempre Nicht für ewig verloren.

Ein zweiter Trompetenstoß schmetterte aus dem Paseo nuevo herüber. Ein starkes Detachement Dragoner mit einem Stabsoffizier an der Spitze hielt, und ein Jüngling in reicher Uniform sprang vom Pferde.

Sogleich war eine zweite heftige Stimme, die Don Manuels, zu hören, der wie rasend schrie: »Fort, um's Teufels willen! Fort, oder ich erschieße mich auf dem Platze!«

»Jesús Maria!« stöhnte der Mayordomo, »er ist Belzebubs, ohne Messe, ohne Viatikum, ohne Beichte.«

Selbst die rohen Dragoner schauderten ob der Heftigkeit des Jünglings und bekreuzten sich mit einem Entsetzen, das dem jungen Edelmanne vollends seine Besinnung zu rauben schien. Ohne ein Wort weiter zu sagen, warf er sich auf sein Pferd; der Major, der ihm ernst und bedenklich nachgeschaut hatte, gab das Kommandowort, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Maultiere schlossen sich an die hintersten Glieder an, in wenigen Minuten war alles zwischen dem Laubwerke der Bäume verschwunden. Der Graf und der junge Conde hatten sprachlos den Enteilenden nachgesehen.

»Was soll das?« sprach der erstere endlich zum jungen Conde, der noch immer verstört bald durchs Fenster, bald auf das Bett der Condessa stierte. »Es ist noch eine halbe Stunde vor sechs?«

»Wir haben plötzlich Ordre zum schleunigen Aufbruche erhalten. Die Gavecillas zeigen sich vom Malinche herab bis zur Barranca von Juanes und bedrohen unsere Kommunikation mit Puebla; die von Xalapa und Veracruz ist bereits unterbrochen.«

»Das ist eine schlimme und wieder eine tröstliche Nachricht«, sprach der Graf in tiefem Nachdenken, »eine sehr schlimme und eine sehr tröstliche Nachricht. Fürchte für die Nina nichts, Carlos!« fuhr er mit bewegter Stimme fort, und sein Blick fiel wieder auf die Leidende. »So sehr sind unsere häuslichen Leiden mit denen unseres Volkes verwoben, daß nur die gänzliche Genesung des letzteren unsern Jammer vollends heben kann. Ja, teurer Carlos, das Leiden deiner Schwester ist mir nun Labsal geworden; denn es wendet meinen wahnsinnigen Blick wenigstens für einige Zeit von dem Elende meines Vaterlandes ab; es ist Zerstreuung.«

»Gott, was sind wir für Menschen, die hier noch Zerstreuung suchen müssen. Hermana Elvira Schwester Elvira.!« flüsterte er der jungen Gräfin zu, auf die er zueilte und ihr einen Kuß auf die Lippen drückte.

Das liebliche Kind öffnete wieder die Augen und sah den Bruder mit einem trostlos wehmütigen Blicke an. Ay de mi!« Wehe mir! lispelte sie, Ay de mi!« wiederholte sie, und schaudernd, wie gerüttelt vom Fieberfroste, schrak sie wieder zusammen. » Perdón a mi estrella«, bat sie, » Perdón Hermano Vergebung meinem Sterne! Vergebung, Bruder!.« Und dann hob sie ihre Hände bittend und entschlummerte.

»Jesu Maria!« rief der junge Graf, »und ich soll gehen und sie verlassen?«

»Fürchte nicht für sie«, sprach der Conde. »An ihrer baldigen Genesung zu zweifeln, wäre an ihrem Zartsinn verzweifeln. Das Leiden unseres Volkes ist so groß, daß sie ihr eigenes darüber vergessen wird.«

Und mit diesen Worten küßten sich beide. Der junge Graf eilte aus dem Saale dem Detachement der Dragoner nach.


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