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Drittes Kapitel.

Die Kunde davon, daß der englische Hauptmann der Witwe von Glendearg Sicherheit gegeben habe, daß weder ihr Vieh weggetrieben, noch ihre Vorräte geraubt würden, hatte sich bald über das ganze Klostergebiet und seine Umgegend verbreitet, und unter den Leuten, zu deren Ohren sie gelangte, befand sich auch eine Dame, die, obgleich viel höheren Standes als die Witwe Glendinning, sich nun zufolge des gleichen Verhängnisses in weit größeres Elend versetzt sah.

Die Frau war die Witfrau Walter Avenels, eines tapfern Kriegsmanns aus altem, vornehmem Grenzgeschlechte, das vormals unermeßliche Güter in der Grafschaft Eskdale besessen, die aber schon seit vielen Jahren in andre Hände übergegangen waren. Indessen war ihnen eine Herrschaft von beträchtlichem Umfange und unfern von dem Landsitz des Sankt Marien-Klosters geblieben. Dieselbe lag auf der gleichen Flußseite, wo sich an der Spitze des Tals von Glendearg der kleine Turm Glendinnings erhob. Hier hatten sie seit vielen Jahren gelebt und, ob sie gleich weder reich noch mächtig waren, einen ansehnlichen Rang unter den Adeligen der Umgegend inne gehabt. Durch seinen Mut und Unternehmungsgeist hatte sich der letzte Ritter und Baron von Avenel in eine noch höhere Achtung gesetzt.

Als Schottland nach dem furchtbaren Schlage, den es bei Pinkie-Cleuch erhalten hatte, wieder sich einigermaßen zu erholen anfing, da war Walter Avenel einer der ersten gewesen, die einen Guerillakrieg gegen die englischen Machthaber eröffnen halfen in der ganz richtigen Auffassung, daß ein Volk, das von einem fremden ins Joch gespannt wird, sich am leichtesten durch fortdauernde Nadelstiche lästig und verderblich machen kann. In einem dieser Guerillakämpfe war der Ritter von Avenel erschlagen worden, und als die Nachricht hiervon auf das Schloß gedrungen war, folgte ihr eine andre Hiobspost auf dem Fuße, daß ein Trupp englischer Krieger im Anmarsche sei, um das Schloß und die Besitztümer der Witwe zu plündern. Es sei in dem feindlichen Hauptquartier beschlossen worden, ein Exempel zu statuieren, das andre im Lande abschrecken sollte, dem Beispiele des Erschlagenen zu folgen.

Der unglücklichen Witwe von Avenel bot sich keine andre Zuflucht, als eine erbärmliche Schäferhütte zwischen den Hügeln. Dorthin schaffte man sie in aller Eile, so daß sie kaum begriff, was mit ihr vorging, und warum die bestürzte Schloßdienerschaft sie mit ihrem jungen Töchterchen aus ihrem Hause und in eine so unwirtliche Gegend brachte. Die Frau des Schäfers war in bessern Tagen Magd auf dem Schlosse gewesen und hieß sie mit all der Ehrfurcht und Demut willkommen, die sie von diesem frühern Verhältnis zu der Schloßherrin noch gewöhnt war. In der ersten Zeit war sich die Schloßherrin ihres Elendes kaum bewußt geworden. Als aber der Schmerz sich halb und halb beruhigt hatte, und als sie für ihre Lage Verständnis fassen konnte, da fehlte wenig, so hätte sie den Gemahl um die schweigsame Stätte beneidet, die er, wenn auch viel zu früh, gefunden hatte. Die Dienerschaft mußte sich, als sie die Herrin in der einsamen Hütte untergebracht hatte, selbst nach einer Unterkunft umtun, und die armen Hirten waren bald nicht mehr im stande, den Unterhalt für ihre Herrin zu beschaffen, da sie ja selbst am Notwendigsten Mangel litten, denn die paar Schafe und Kühe, die noch aus der ersten Durchsuchung der Gegend gerettet worden waren, hatten die Engländer bald nachher aufgestöbert und weggetrieben, so daß ihnen nun der Hunger entgegengrinste.

»Nun sind wir verloren und stehen am Bettelstabe,« sagte der alte Schäfer Martin, händeringend, »o, diese Spitzbuben, diese habgierigen Kerle! Kein Stück von der Herde haben sie uns übrig gelassen! wovon sollen wir nun leben?«

»Ach, und wie weh hats mir getan, als Dickchen und Grauchen, unsre letzten beiden Kühe, den Hals nach dem Stalle zurückwandten und brummten, als die Rotjacken sie mit ihren Lanzen aus dem Stalle trieben.«

»Vier Kerle warens bloß,« sagte Martin, »und wie lange ists her, da hätten sich keine vierzig so weit getraut, aber mit unserm guten Ritter ist alle Kraft und Mannheit hin.«

»Um des heiligen Kreuzes willen, Mann, sei still,« bat die Frau, »ist doch unsre arme Herrin ohnedem halb tot! Sieh nur, wie ihr die Augenlider zucken! Noch ein Wort mehr, und sie stirbt uns am Herzkrampf!«

»Ach, wenn wir bloß erst alle hinüber wären!« sagte Martin, »wie das noch werden soll, das geht über meinen Verstand. Um meinetwillen härme ich mich nicht, Tibbie, wir können ja darben und arbeiten; aber die gnädige Herrin hat ja beides nicht gelernt.«

So besprachen sie sich unverblümt über die Lage, in der festen Meinung, die arme Frau mit ihrem todbleichen Gesicht, mit den zuckenden Lippen und den halb erloschenen Augen könne sie nicht hören.

»Einen Rat wüßt ich schließlich noch,« meinte nach einer Weile der Schäfer wieder, »aber ich weiß nicht, ob sie es übers Herz bringt. Die Witwe überm Tal drüben, die Glendinning, hat von den Halunken aus dem Süden Sicherheit bekommen, daß ihr kein Soldat, gleichviel aus was für Grund und Ursach, ins Haus hinein treten darf. Wenn sich unsre Frau ein bißchen beugen wollt und bei der Frau Elspath um Unterkunft nachsuchen möcht, bis sich die Zeiten ein bißchen beruhigt und gebessert haben, dann wär das für ihresgleichen keine geringe Ehre, aber ...«

»Eine Ehre ...« erwiderte Frau Tibbie, »na, und was für eine! ... damit könnt ihre Sippe sich noch groß tun, und wenn ihre Knochen schon lange gebleicht sind! ... Aber, Gott im Himmel! bei der Witwe eines Kirchenvasallen soll unsre gnädige Frau, eine Baronin von Avenel, um Unterstand einkommen!«

»Dumm genug ists freilich,« meinte Martin; »aber was bleibt andres übrig? Hier im Elend bleiben und verhungern? und wo wollen wir denn sonst hin? Ich weiß nicht besser zu raten, als der erste beste Schafbock, den ich auf die Weide getrieben habe.«

»Sprecht nicht weiter darüber,« ergriff da, sich unvermutet ins Gespräch mischend, die Witwe von Avenel das Wort, »ich will zum Turme hinüber gehen. Frau Elspath stammt von braven Leuten, sie ist Witwe und Mutter von Waisen. Sie wird mir ein Plätzchen in ihrem Hause vergönnen, bis sich das Gewitter verzogen hat. So lange solcher Sturm haust, bleibt man besser im tiefen Busche versteckt, als daß man sich auf Höhen begibt.«

»Siehst Du, Frau,« sagte Schäfer Martin, »die Gnädige ist zweimal so gescheit wie wir.«

»Das muß doch auch sein,« antwortete Frau Tibbie, »denn die Gnädige ist ja im Kloster erzogen worden, sie kann in Seide sticken, kann Weißzeug säumen und Muscheln aufreihen.«

»Meint Ihr,« sagte die Dame zu Martin, ihr Kind fest an den Busen pressend, »daß wir bei der Frau von Simon Glendinning willkommen sein werden?«

»O, sicher, ganz sicher, gnädigste Frau,« erwiderte Martin, »des Willkomms sind wir doch auch wohl wert. In den ewigen Kriegen sind die Menschen zur Rarität geworden und werden wohl noch lange Rarität bleiben. Ich kann mich doch noch immer tüchtig rühren, besser als je im Leben, und kein Weib weiß mit Kühen bessern Umgang als meine Frau, die Tibbie!«

»Ich wollte noch ganz andre Dinge verrichten, wenn ich in einem vornehmen Hause sein könnte,« sagte die Frau, »aber bei der Frau Elspath Glendinning gibts keine Perlen zu reihen und keine Hauben aufzuputzen.«

»Laß ab mit Deinen hoffärtigen Gedanken, Weib!« versetzte der Schäfer, »Du wirst im Hause und draußen genug zu schaffen finden, und es müßte doch schlecht hergehn, wenn nicht zwei Menschen das bißchen Essen für drei verdienen sollten, denn das kleine liebe Ding von Fräulein ist doch noch gar nicht zu rechnen. Aber weg von hier, weg! was wollen wir herumstehn und Zeit verlieren, es sind doch an die drei Stunden, die wir wandern müssen über Berge und durch Sumpf und Morast. Für eine zum vornehmen Leben geborne Dame ist das doch was andres, als ein Spazierritt ums Schloß herum!«

Um das bißchen Hausgerät brauchten sich die beiden Schäfersleutchen nicht zu bekümmern. Ein alter abgetriebner Gaul, den die Soldaten wohl nicht gemocht hatten, weil er scheute und sich von keinem Fremden einfangen ließ, obendrein das Futter wohl nicht wert war, erhielt die Aufgabe, die paar Decken und sonstigen Dinge zu tragen, die des Mitnehmens verlohnten. Shagram hieß der Gaul, und als er auf den Pfiff des Schäfers herankam, da fand der alte Mann, daß er durch einen Pfeil, den gewiß irgend solch ein Rotrock aus Aerger darüber, daß er ihn nicht hatte fangen können, in den Leib geschossen, verwundet worden war.

»Ach, du armer Kerl,« klagte Martin, »mußt du auch noch lernen, was die langen Bogen von diesem Gesindel auf sich haben? mußt dus auf deine alten Tage auch noch lernen, wie wir alle?«

»Ach, in welcher Schlucht, in welchem Tale wehklagt man nicht darüber?« sagte die Witwe von Avenel.

»Ja, ja, gnädige Frau,« erwiderte der Schäfer, »Gott behüte bloß die Schotten vor diesen schrecklichen Waffen! denn vor flinken Hieben wissen sie sich zu schützen. ... Aber machen wir uns nur auf den Marsch! das bißchen Kram, das wir noch in der Hütte lassen, kann ich schon ein ander Mal nachholen. Vergreifen wird sich hierherum wohl niemand dran, es wohnt ja bloß gute Nachbarschaft im ganzen Tale ... und mit andrer ...«

»Lieber Mann, sprecht nicht solche Gedanken aus,« bat die Witwe, »wir müssen noch über manch einsame, gefährliche Stelle, ehe wir am Gatter von Glendinnings sein werden. Um Gottes willen, haltet vor allen Dingen Frieden!«

Der Mann versprach es ihr durch ein Nicken, denn es hatte schon seine Gefahr, von den Feen und Hexen des Talgrundes als guter Nachbarschaft zu reden, vor allem, wenn man an Plätzen vorbei mußte, die in dem Rufe standen, von ihnen bewohnt zu sein.

Es war der letzte Tag des Oktobermonats, an welchem die drei Leute mit dem kleinen Freifräulein die Wanderschaft antraten.

»Heut ist grade Dein Geburtstag, meine süße Mary,« sagte die Witwe, und der Stachel bittrer Erinnerung traf ihr Herz. »O, wer hätte ahnen sollen, daß das kleine Köpfchen, das heute vor wenig Jahren im Schoße fröhlicher Verwandten gewiegt wurde, in dieser Nacht vielleicht umsonst nach einem Obdach suchen wird?«

Die Flüchtlinge machten sich nun auf den Weg. Das liebliche kleine Mädchen, Mary Avenel, ein Kind zwischen fünf und sechs Jahren, ritt nach Zigeunerart, zwischen Betten gepackt, auf dem Gaule, die Witwe von Avenel schritt neben dem Gaule, die Schäfersfrau führte den Gaul am Zügel, und der alte Martin ging ein Stück voraus, um den besten Weg zu ermitteln.

Aber sobald man die erste Wegstunde hinter sich hatte, wurde dieses Amt mühseliger und schwieriger, als er sich vielleicht gedacht oder als er es hatte sagen wollen. Das große Stück von Weidefläche, wo er jeden Winkel kannte, mußten sie im Westen liegen lassen, denn das Tal von Glendearg lag in östlicher Richtung, und in den rauheren Strichen von Schottland ist der Uebergang von einem Tal ins andre, wenn man nicht über die Berge steigen will, in der Regel nur schwer zu finden. Der Wanderer muß über Schroffen und Klüfte, und Sümpfe und Klippen halten ihn auf oder bringen ihn vom Wege ab. So erging es auch dem Schäfer Martin, und wenn er auch im allgemeinen sich nicht im unklaren darüber war, daß er die rechte Richtung inne behielt, so wurde ihm doch mit der Zeit bange, und er mußte sich langsam eingestehen, daß er den graden Weg verfehlt habe. Noch immer aber meinte er versichern zu dürfen, daß man nicht mehr weit vom Ziele ab sein könne.

»Wenn wir bloß erst über den großen Sumpf hinüber wären,« sagte er, »dann könnt ich einstehen, daß wir die Turmspitze von Glendearg sehen müßten.«

Aber diese Aufgabe zu lösen, war keine geringe Schwierigkeit, denn je weiter sie vordrangen, unter der äußersten Behutsamkeit, die Martin gebot, um so gefährlicher wurde der Weg, um so tiefer sanken sie ein; aber da sie die gleichen Gefahren zu überwinden hatten, wenn sie wieder umdrehten, wurde es für besser erachtet, den Weg fortzusetzen und nicht umzudrehen.

Lady Avenel war freilich für solche Strapazen nicht erzogen worden, aber was vermag eine Mutter nicht zu vollbringen, wenn sie ihr Kind in Gefahr weiß! Sie klagte weniger über die Beschwerden der Wanderung als Martin und seine Frau, die an dergleichen Dinge doch von Kindesbeinen an gewöhnt waren. Sie blieb dicht an der Seite des Pferdes, achtete fürsorglich auf jeden seiner Tritte, immer ängstlich bedacht, ihr Kind in die Arme zu heben, wenn dem Pferde der Boden unter den Füßen verschwinden sollte.

Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo der Schäfer nicht mehr aus und ein wußte, denn rings um die Wanderer her zeigte sich zerrissener Heideboden, nach allen Seiten hin liefen tiefe Furchen, die mit schwarzem, zähem Moor gefüllt waren.

Nach langer Ueberlegung entschied sich Martin endlich für einen Pfad, der in schrägerer Richtung lief als die andern, und damit das Kind noch besser geschützt sei als bisher, nahm Martin das Pferd selbst am Zügel. Aber Shagram fing an zu schnaufen, die Vorderfüße zu strecken und die Hinterbeine anzuziehen und weigerte sich, auch nur einen Schritt noch weiter zu tun. Martin stand in Verwirrung und Zweifeln da, er wußte nicht, ob er Gewalt gegen das Tier brauchen oder ihm den Willen lassen solle, und was ihm seine Frau darauf sagte, als er unschlüssig fragte, was wohl am besten sei, war auch nicht danach angetan, ihn mutiger oder gescheiter zu machen, denn als sie sah, daß Shagram die Nüstern blähte und ängstlich zusammenschauerte, sagte sie leise:

»Du, glaub mir, der sieht mehr als ein Mensch sehen kann.«

Als sie nun unschlüssig standen und keiner wußte, was zu tun sei, rief das Kind plötzlich:

»Die schöne Dame winkt uns zum Turme hinauf!«

Alle blickten nach der Stelle, die des Kindes Finger wies, aber sie nahmen nichts wahr, als ein aufsteigendes Gekräusel von Dunst, aus dem bloß eine Kindesphantasie sich eine menschliche Gestalt zurechtgliedern konnte, und der Martin bloß noch die weitere Gefahr im Anzuge befindlicher Nebel vor die Augen rückte.

Noch einmal versuchte er, das Pferd in der Richtung, die er für die beste hielt, vorwärts zu treiben, aber er mußte das Vergebliche solcher Bemühung erkennen. Das Tier weigerte sich, auch nur noch einen Schritt weiter zu machen.

»Na, dann lauf Deinen eignen Weg, dummes Biest,« rief Martin, »und zeig, wohin Du uns bringst.«

Als das Tier seinen eignen Weg gehen durfte, schlug es kühn die Richtung ein, die das Kind gezeigt hatte. Es braucht das weiter nicht zu verwundern, auch nicht, daß das Pferd auf diesem Pfade die Wanderer glücklich über den Sumpf brachte, denn der »Sumpfinstinkt« von Pferden, die in Sumpfgegenden geboren sind, ist eine seltsame, vielbemerkte Eigenschaft dieses an sich zu den klügsten Tieren gehörenden Geschöpfes. Aber merkwürdig blieb es, daß das Kind noch mehrmals der »schönen Dame« Erwähnung tat, wie auch der Winke, die sie ihm gebe, und daß anderseits das Pferd sich beflissen zeigte, genau die angedeutete Richtung einzuhalten. Die Lady achtete im Augenblicke jedoch wenig darauf, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Gefahr gerichtet, die sie zu bestehen hatten, dagegen tauschten die beiden Schäfersleute bedeutungsvolle Blicke miteinander.

»Aller Heiligen Abend,« flüsterte Frau Tibbie ihrem Manne zu.

»Um der heiligen Gottesmutter willen jetzt kein Wort hiervon,« sagte Martin ebenso leise, »sprich Dein Gebet, Frau, wenn Du sonst nicht zu schweigen vermagst!«

Als sie auf festen Grund gelangt waren, gewahrte Martin auf der Spitze der nächstliegenden Hügel die rohen Grenzsteine, die ihm zeigten, in welcher Richtung er gehen müsse, und nun erreichten sie bald den Turm von Glendearg. Bei dem Anblick der kleinen Feste fühlte sich die unglückliche Dame von den herben Unglücksschlägen, die sie getroffen hatten, tief erschüttert. Mit welcher Ehrerbietung war sie sonst begrüßt worden, wenn sie sich in der Kirche oder auf Märkten oder sonst im öffentlichen Leben gezeigt hatte! alle Weiber der Vasallen und Lehensmänner sahen in ihr die Gemahlin des angesehenen, mächtigen, aus uraltem Geschlecht stammenden Ritters von Avenel, und nun war ihr Stolz so tiefgebeugt, nun war sie in ihrem Range so tief gestürzt worden, daß sie um Unterstand betteln mußte bei der Witwe eines solchen Vasallen, um Unterstand, der vielleicht gar keine Sicherheit für sie bot! ... Martin, der wohl merken mochte, was in ihrem Innern vorging, blickte zu ihr auf mit flehendem Ausdruck, wie wenn ihn die Furcht beschliche, sie könnte ihren Entschluß am Ende noch ändern, aber die Dame beschwichtigte, indem sie mehr auf seine Mienen einging als auf seine Worte hörte, diese Regung in dem Gemüte des schlichten Mannes, wenn auch der alte Stolz nur mühsam bezwungen ward und hin und wieder noch immer in ihren Augen aufleuchtete:

»Wär ich allein, dann stürbe ich lieber ... aber um des Kindes willen, um meiner lieben, süßen Mary willen, ... um dieses letzten Sprossen des Hauses Avenel willen ...«

»Freilich, gnädigste Dame, freilich!« sprach ihr der Schäfer zu, und um jede Möglichkeit eines andern Entschlusses abzuschneiden, fügte er hinzu: »Ich will vorausgehen zu der Frau Elspath, ich hab ihren Mann gut gekannt und hab mit ihm eingekauft und Geschäfte gemacht, als er auch einer von den besser Gestellten im Lande noch war.«

Martin hatte sich seines Anliegens bald entledigt, und die Unglücksgenossin sagte nicht nein. Lady Avenel war im Glück immer leutselig und nie hochmütig gewesen, hatte auch vieles Gute getan unter den Armen im Lande, und das Unglück, das sie jetzt betraf, rief bei allen Leuten im Lande, vornehmlich aber in der Nachbarschaft ihrer Besitzung, das tiefste Mitleid wach. Zudem mußte es ja auch dem Selbstgefühl einer niedriger gestellten Frau schmeicheln, daß sie durch ein freundlicheres Schicksal in die Lage gesetzt wurde, einer so hochgestellt gewesenen Dame Unterstand in ihrer bescheidnen Behausung zu gewähren. Um jedoch alle Gerechtigkeit gegen Frau Elspath Glendinning zu wahren, dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß sie auch Teilnahme für eine Frau im Herzen trug, die von dem gleichen Unglück betroffen worden war wie sie, die aber weit schwerer daran zu tragen hatte als sie. Den armen Flüchtlingen wurde alle Gastfreundschaft gewährt, die die gegebnen Umstände ermöglichten, ehrerbietig und willig, und das herzliche Ersuchen wurde damit verbunden, sich so lange in Glendearg wohnlich einzurichten, als es durch die Umstände geboten wäre oder sich mit Geschmack und Neigungen vertrüge.


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