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Das Leben, das Verbrechen und die Bekehrung des Mörders Carsten Hinz, von ihm selber erzählt

I. Die Kindheit des Inculpaten.

Das elterliche Haus;– die Schule; – die Confirmation.

Ich will nach der Wahrheit erzählen, wie ich von Anfang, bis auf diesen Tag, mein Leben in der Welt zugebracht habe.

Ich bin geboren in Witzwort, einem Kirchspiel in der Landschaft Eiderstädt, den 28. August 1815, und habe in der heil. Taufe den Namen Carsten Heinrich Hinz empfangen. Wir sind unser fünf Geschwister, davon ich, dem Alter nach, der Mittlere bin. Meine Eltern sind arm, und verdienen durch Tagelohn bei den Bauern ihr tägliches Brod; das Häuschen aber, in welchem sie seit reichlich dreißig Jahren wohnen, ist ihr eigen; auch haben sie immer einige Schafe gehalten. So lange wir Kinder noch klein waren, pflegten meine Eltern einen Knaben zu miethen, der die Schafe am Wege (denn andere Weide haben in Eiderstädt die armen Leute nicht) hüten mußte. – Da meine älteste Schwester neun Jahre alt war, mußte sie die Hütung der Schafe besorgen; danach mein Bruder, und als ich in dies Alter eintrat, kam ich an die Reihe. –

Ich war neun Jahre alt, und hatte noch nie eine Schule besucht. Aus den Jahren, da ich die Schafe hüten mußte, weiß ich mich nur wenig zu erinnern; aber so viel weiß ich wohl, daß ich viele Langeweile hatte; und daß ich schon damals, vermuthlich eben aus Langeweile, anfing, allerlei Kleinigkeiten zu stehlen; denn von Gott und seinem Worte hatte ich nichts gelernt. Wenn die Bauern, die auf dem Felde arbeiteten, Mittags nach Hause gingen, so schlich ich mich zu ihrem Ackergeräth, und stahl ein Tau, eine Kette, eine Peitsche, oder was sie sonst an Kleinigkeiten auf dem Felde hatten liegen lassen. Das Gestohlene verbarg ich, bis ich zum Verkaufen Gelegenheit fand; – denn nach Hause durfte ich nichts mitbringen. Ich kann erinnern, daß einmal mein Vater mich um ein Stück Tau, das ich gestohlen, hart gezüchtigt hat; auch hat er mich mehre Male sehr ernstlich gestraft, wenn mich die Nachbarn wegen Gartendiebstahl bei ihm verklagt hatten. – Mein Vater hatte mich lieb, darum züchtigte er; und sein ist die Schuld nicht, wenn die Ruthe der Zucht das Böse aus meinem Herzen nicht hat austreiben können. Zur Steuer der Wahrheit muß ich bemerken, daß Carstens's Eltern, wenn sie gleich nie eine Criminalstrafe erlitten haben, doch in der Umgegend übel berüchtigte Leute sind; – daß ihre Kinderzucht an seinem Verderben mit Schuld hatte, ist um so eher zu vermuthen, da auch sein älterer Bruder als Dieb im Zuchthaus gewesen ist. – Während des Winters lehrte mich meine Mutter lesen, und etwas weniges schreiben, und ließ mich Gebete auswendig lernen; aber ich verstand nichts von dem, was ich las und wußte nicht, was das Beten bedeute; denn meine Eltern wissen selber von Gott und seinem Wort sehr wenig; – in die Schule aber schickten sie mich auch jetzt nicht, weil ich bis in mein sechszehntes Jahr mit dem Grind behaftet war. Grind ist ein bösartiger, ansteckendes Kopfaussatz, der in der Marsch häufiger vorkommt, und seine erste Ursache in Unreinlichkeit hat. Kinder, die damit behaftet sind, können in der Schule nicht wohl geduldet werden. Weil der Sitz der Krankheit in den Haarwurzeln ist, so kann die Krankheit nicht anders als durch ein gleichzeitiges Ausreißen aller Haare, welches mittelst einer Pechhaube geschieht, geheilt werden.

Als ich vierzehn Jahre alt war, kam eines Tages der Prediger des Ortes zu meinen Eltern, und machte ihnen um meinetwillen Vorstellungen [Vorwürfe], daß ich nicht zur Schule ginge. Meine Eltern zeigten ihm meinen aussätzigen Kopf, und versicherten, daß sie selber mich unterrichteten. Ich mußte zur Probe lesen, und schlug in der Bibel auf, Röm. 9,1: »Ich sage die Wahrheit in Christo, und lüge nicht.« Der Pastor fragte mich, was das heiße: in Christo? Ich wußte es nicht. Er fragte: »Wer ist Christus?« Ich konnte ihm nichts antworten. Da ward der Prediger zornig, und befahl meinen Eltern aufs Ernstlichste, daß sie mich sollen heilen lassen, und in die Schule schicken. – Mein Vater sprach demnach mit einem Arzt; und ich mußte mich einer sehr schmerzhaften Cur [Kur, Behandlung] unterwerfen. Es wurde mir ein Pechpflaster, in Form einer Haube, über den ganzen Kopf geklebt, und mittelst derselben wurden mir allen Haarwurzeln gewaltsam ausgerissen; dann erfolgte eine langwierige Nachcur. Als endlich der Arzt mich für gesund erklärte, war ich schon sechszehn Jahre alt. Ach, die schöne Zeit der Kindheit war dahin; ich war groß und stark von Körper, und in allen Bubenstücken erfahren und wohlgeübt; – aber Gutes hatte ich nur wenig gelernt.

Ich sollte jetzt confirmirt werden. Mein Prediger wollte mich indeß nicht zur Corfirmation annehmen, bevor ich nicht wenigstens einige Wochen die Schule besucht hätte. Als sechszehnjähriger Knabe mußte ich mit sieben- bis achtjährigen Kindern den Unterricht theilen; man kann denken, daß ich es mit Unlust und Widerwillen that; – ich machte meinem Lehrer unsäglichen Kummer, und lernte nichts, weil ich nicht wollte. Indeß, ich war nun Schüler, und konnte lesen, und war sechszehn Jahre alt; so fand der Prediger keinen Grund, von der Zahl der Confirmanden mich länger auszuschließen. Ich besuchte den Conformationsunterricht regelmäßig; weil mir aber alle Erkenntniß mangelte, so verstand ich nichts von dem, was der Prediger vortrug. Ich erinnere mich auch nur einer einzigen Frage, die an mich gerichtet ward; der Prediger fragte mich: »Was ist der Mensch?« und da ich nichts antworten konnte, sagte er mir: »Der Mensch ist Leib und Seele.« – Dieß behielt ich; es war aber auch Alles, was ich von der Religion gelernt hatte, als ich mit den andern Kindern – ich glaube, es war am Palmsonntage des Jahres 1831 – confirmirt ward. Und so völlig unwissend in der Lehre des Heils sollte ich nun das väterliche Haus verlassen, um selber in der Welt meinen Unterhalt zu suchen; – wehrlos allen Versuchungen der Welt Preis gegeben. Durch die Confirmation wird den Kindern ein Freibrief aus der Schule und dem elterlichen Hause ertheilt, da sie doch oft noch keine Ahnung haben von den Gefahren, mit welchen die Welt sie versuchen wird; sie werden für mündige Christen erklärt, und wissen vielleicht nicht die ersten Buchstaben des Gesetzes und des Evangelii. Wie viele Menschen würden nicht verloren gehen, wenn Kirche und Staat eine größere Reife, als das normale Alter und das bloße Lesenkönnen, für diesen wichtigsten, entscheidendsten Abschnitt in dem Leben unserer jungen Leute forderten.


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