Thekla Schneider
Schloß Meersburg am Bodensee
Thekla Schneider

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Der letzte Gast

Im Herbst 1914 hatte sich das Tor von der alten Meersburg hinter mir geschlossen. Ich schritt den Burgsteig hinunter, mich immer wieder umwendend. Dann stand ich am Borde des Schiffes, das ich bestiegen, den Blick auf den lieben Ort geheftet, bis der letzte Turm meinen Augen entschwunden war.

Ich bin der letzte Gast bei der Familie von Laßberg gewesen. Mehr als 30 Jahre lang war es mir vergönnt, schöne Wochen im Sommer und bis in den Herbst hinein hier zuzubringen. Diesmal war ich gekommen, der letzten Tochter des früheren Besitzers der Burg und der letzten Nichte von Annette von Droste die Augen zuzudrücken. Freiin Hildegard hatte mich gerufen. »Nun komm nur so schnell als möglich«, hatte sie mir geschrieben, »damit wir die schönen Tage nützen und auf die Mainau fahren. Dort wollen wir die Vormittage manchmal zubringen und am Ufer unter den schönen alten Bäumen uns setzen.«

Als ich kam, traf ich sie zu Bett an einem scheinbar leichten Unwohlsein. Aber am folgenden Tag trat unerwartet eine Verschlimmerung ein und nach wenigen Stunden hauchte sie ihre Seele aus. Dann lag sie in dem großen Burgzimmer, Lichter um sie her und Blumen, die letzten Grüße von nahen und fernen Freunden. Auch Großherzogin Luise von Baden hatte von der Mainau herüber einen Kranz geschickt. Die Meersburger kamen, »das gnädige Fräulein« noch einmal zu sehen und ihr das Weihwasser zu geben; »'s hat schnell g'macht – man wird sie mangeln« sagten sie. –

Ja, man wird sie mangeln, die große, schlanke, in den letzten Jahren allerdings mehr und mehr gebeugte Gestalt, die man so gewohnt war durch die Straßen gehen zu sehen nach dem Rebhäuschen, dem Friedhof. – Auf Wegen und Stegen, im Wald, am See konnte man ihr begegnen, immer mit Blumen, einem Strauß oder Sträußchen, die sie unterwegs gesammelt und jedermann bot sie freundlichen Gruß. Wenn sie aber ein Kätzchen auf einer Hausstaffel sitzen sah, so ging sie auf die »Mizi« zu und streichelte sie.

Dann wurde Freiin Hildegard hinausgetragen auf den Friedhof, der so schön über Meersburg liegt mit dem Blick auf den See und die Alpen. An dem von ihr selbst bestimmten Plätzchen, neben der ihr im Mai 1909 vorausgegangenen Zwillingsschwester, fand sie ihre letzte Ruhestätte. Es war der 1. August 1914. Der Krieg hatte seine Fackel entzündet, ihr roter Flammenschein leuchtete in die Gruft der Entschlafenen, welche eine ganze Zeitgeschichte mit hinab nahm. –

Das Schwesternpaar auf der Meersburg hat immer das Interesse weiter Kreise in Anspruch genommen. Als sie durch den Tod von Freiin Hildegunde von einander getrennt wurden, widmete eine Konstanzerin der Hinterbliebenen folgendes Gedicht auf die Verstorbene:

»Den hohen Sitz am Bodensee
Hast du mit kühler Gruft vertauscht,
Wo du die Gräber oft gepflegt
Nun um dein Grab der Seewind rauscht.

Dein Vater zog manch altes Lied,
Manch köstliches Gerät an's Licht.
Fels, Wald und See sie raunten zu
Annette Droste manch Gedicht.

Da sah die Meersburg manchen Gast,
Deß' Ruhm erklungen weit und breit.
In den zwei Hilden blieb uns noch
Erinnerung jener großen Zeit.

Der Zwillingsbund bleibt fortbestehn,
Ob auch die Trennungswunde brennt,
Und ihre Namen klingen mit,
Wenn man am See die Besten nennt.«

»Wenn das Burgtor hinter einem zugefallen und man die Halle durchschritten, ist man in einer andern Welt,« hatte einmal jemand von der Meersburg gesagt, und nichts ist richtiger als dies. Hier weht eine andere Luft. Hier fühlt man sich angehaucht von dem Duft von Annettens Poesie. Hier durfte man auf schöne, alte Kanapees und Stühle sich setzen. Hier hingen die Oelgemälde von Herrn und Frau von Laßberg und andern Familienmitgliedern an der Wand. Alte Stiche und sonstige Kostbarkeiten der verschiedensten Art, die in alten Truhen und Schränken aufbewahrt wurden, gab es hier zu bewundern. Überall glaubt man, hier Annette von Droste mit der goldenen Haarkrone begegnen zu müssen. Sie ist einem immer gegenwärtig: hier ist sie gestanden, dort ist sie gegangen, denkt man. Hier wird uns Wein vorgesetzt von ihrem Rebberg und wir trinken ihn aus feinen, kostbar geschliffenen Kristallgläsern, deren Rand vielleicht auch ihre Lippen berührt. Und hier, was das Schönste ist, haben wir die lebendigen Andenken an die Dichterin: die beiden Hilden, ihre Nichten. So unähnlich sind sie sich und doch einander so gleich. Freiin Hildegard ist groß und schlank gewachsen wie eine Tanne; Freiin Hildegunde kleiner und eher zur Rundlichkeit geneigt. Aber beide haben blaue Augen und das Silberhaar glatt gekämmt.

Von was sprechen sie? – von der »guten, alten Zeit«, wo es noch kein Gas- und kein elektrisches Licht gab, sondern nur ein mattes Öllämpchen am Landungssteg von Meersburg brannte und den Schiffern leuchtete. Von der »guten, alten Zeit«, wo die Eisenbahn noch eine Seltenheit war und wo keine Autos noch die Welt durchsausten und doch so viele Gäste auf die Meersburg kamen, so daß im Sommer die Gastzimmer nicht leer geworden sind. Wovon sie sprechen? – von der Aurikel – der Lieblingsblume ihrer Mutter. Sie hatte im hinteren Hof ein ganzes Beet von diesen Kindern Floras angepflanzt – und Vater, der sich auch daran erfreute, gab ihnen Namen aus dem Nibelungenlied. Die gelben heißen Siegfried, die rosenroten Kriemhilde, dunkelrot war Brunhilde und blau Bischof Pilgrim.

Von was sie sprechen? – von einer Lebensgefahr, in der ihre Eltern und »Tante Nette« einmal sich befanden. – Sie wollten, 6 Wochen nach der Geburt der Zwillinge, von dem damaligen Besitz Eppishausen in der Schweiz über den Bodensee, zum Besuch des Fürsten nach Heiligenberg fahren; es war Frau v. Laßbergs erste Ausfahrt. Bei Altnau scheuten die Pferde. Alle drei Insassen wurden aus dem Wagen geschleudert. Herr v. Laßberg erlitt eine Quetschung an der Hüfte und mußte ins nächste Bauernhaus gebracht werden. Annette lag auf der Erde, ganz bedeckt mit ihrem großen Mantel. Sie konnte sich allein nicht erheben vor Schrecken und Schmerzen an den Rippen. Die Freifrau allein war unverletzt. Annette wurde in ein Wägelchen gepackt und nach Eppishausen zurückgebracht, wo sie längere Zeit brauchte, bis sie sich erholte. Herr v. Laßberg mußte 14 Tage in dem Bauernhaus bleiben, bis er wieder hergestellt war. Von der Zeit an hinkte er etwas.

Von was sie sprechen? – von Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner – die so oft auf der Meersburg weilten und auf die der alte Freiherr große Stücke hielt.

Von was sie sprechen? – von Tante Nette – wie sie ihre schönen Haare kämmte und aufsteckte – wie sie ihre Lorgnette verloren, oben beim Wetterkreuz – wie sie triefend naß von Wellen und Regen von einem Spaziergang nach Hause kehrte. Von Levin Schücking sprechen sie und Freiin Hildegard kann sich noch immer nicht damit abfinden, daß Tante Nette ihn geliebt. »Er war ja viel jünger als sie – es hätte doch nie etwas daraus werden können.« –

Von was sie sprechen? – von Philippa Pearsalle, an welche Annette das schöne Gedicht gerichtet. Freiin Hildegard holt den Gedichtband und liest es uns vor:

»Um dich, Philippa, spielt das Licht,
Dich hat der Morgenhauch umgeben,
Du bist ein liebes Traumgesicht
Am Horizont von meinem Leben...«

Wir sehen hinaus zum Fenster und vermeinen das Schifflein zu sehen auf den Wellen, das die geliebte Freundin vom Schlößchen Wartensee herüber bringt nach der Meersburg. – O, welch reicher Stoff zur Unterhaltung – die Stunden fliehen stets zu rasch – die Tage sind stets zu kurz.

Künstlerische Begabung und Liebe zur Wissenschaft, die zur Grundlage eine allgemeine tiefe Bildung hatten, waren es, was die Zwillinge auszeichnete. Wenn sie auch nicht damit an die Öffentlichkeit getreten sind, so haben sie doch vielen damit Freude gemacht. Freiin Hildegunde hatte schon in früher Jugend ein ausgezeichnetes Mal- und Zeichentalent gezeigt. Mit Hilfe von hervorragenden Lehrern machte sie darin solche Fortschritte, daß ihr von berufener Seite geraten wurde, sich zur Künstlerin auszubilden. Ihre zu zarte Gesundheit und außerdem eine gewisse Scheu, alte traditionelle Familienschranken zu durchbrechen, ließen sie davon absehen. Mit welchen Schwierigkeiten Annette in dieser Beziehung zu kämpfen hatte, ist bekannt.

Für sich aber pflegte Hildegunde diese Kunst weiter und brachte es darin zu einer wirklichen Meisterschaft. Es war für mich eine große Freude, als sie einmal ihre Mappen öffnete – sie tat es ganz selten – und ich ihre Kunstwerke sehen durfte – alles eigene Kompositionen – Entwürfe meist religiöser Art: Christus und seine hl. Mutter, Darstellungen aus der Bibel – Engels- und Kinderköpfchen waren es – à la M. Ellenrieder. Diese in Konstanz lebende Künstlerin scheint ihr mannigfach Vorbild gewesen zu sein. In späteren Jahren ließ sie aber Pinsel und Palette ganz ruhen und wandte sich andern Beschäftigungen zu. Ein Blick in ihr Zimmer zeigt uns am besten, wie verschiedenartig diese waren. Hier liegt Dantes Göttliche Komödie aufgeschlagen in der Ursprache – ein Band von Ernst Zahn, der ein Lieblingsschriftsteller von ihr ist, daneben. In der Mitte des Zimmers steht ein Klavier, dem sie zuweilen Töne entlockt. Ein Riesenbücherschrank nimmt die Hauptwand ein. Blumenstöcke auf den Fenstergesimsen und ein Vogelkäfig, darin ein Kanarienvögelchen sein Stimmchen ertönen läßt. Näh- und Strickutensilien auf einem Tischchen mit angefangenen Jäckchen und Röckchen, für die armen Kinder von Meersburg bestimmt. Damit werden sie an Weihnachten beschenkt – darauf wird das ganze Jahr gearbeitet, hauptsächlich in den Wintermonaten.

Im Sommer widmete Freiin Hildegunde die meiste Zeit ihrem Garten. Sie ließ es sich nicht nehmen, selbst dort Hand anzulegen und behauptete, das Arbeiten im Freien sei förderlich für ihre Gesundheit. Oft habe ich sie mit Rechen und Gießkanne gesehen. Sie ließ sich aus berühmten Gärtnereien von auswärts Pflanzen und Samen kommen und eine bekannte Firma hatte die Liebenswürdigkeit, ihr zu Ehren eine besonders schöne Floxart »Hildegunde von Laßberg« zu nennen. – Ein Schachbrett in ihrem Zimmer muß auch noch erwähnt werden, mit dem sie und ihre Freundin M. v. P., welche immer da war, sich manchen Winterabend verkürzte. Hildegunde war eine vorzügliche Schachspielerin.

Freiin Hildegard trat mehr in die Fußstapfen ihres Vaters, dem sie auch im Aeußern sehr ähnlich war. Die hohe, schlanke Gestalt hatte sie von ihm. Sie beschäftigte sich hauptsächlich literarisch. Sie hatte eine ausgedehnte Korrespondenz. Schriftsteller und Gelehrte wandten sich an sie, besonders Drosteforscher baten sie um Aufklärung und Notizen. Und sie kam ihren Wünschen stets mit der größten Bereitwilligkeit entgegen. Sie hat dadurch der Drosteliteratur unendlich dankenswerte Dienste geleistet; ohne Freiin Hildegard von Laßberg würden wir heute noch kein so treues, wahres Lebensbild der größten deutschen Dichterin besitzen, wie es in den Biographien von Hüffer, Kreiten, Schwering und Pelikan tatsächlich der Fall ist. Auch als es sich vor einigen Jahren um die Veröffentlichung sämtlicher Briefe von Annette von Droste handelte, war es wieder das alte Freifräulein auf der Meersburg, welches dem Herausgeber mit Rat und Tat an die Hand ging.

Freiin Hildegard machte die Honneurs, wenn Besuche kamen und zeigte ihnen alles, was für sie von Interesse sein konnte. Freiin Hildegunde dagegen, welche mehr die Ruhe und Stille liebte, erschien nur in außerordentlichen Fällen, bezauberte aber jeden durch ihr sympathisches Wesen.

Nun hat sich das Grab über ihnen geschlossen – alles ist tot, was zur Umgebung der Dichterin gehörte auf der Meersburg – alles – nur ihre Lieder nicht:

»Meine Lieder werden leben,
Wenn ich längst entschwand.«

ie säuseln in den Lindenbäumen,
Sie glänzen von der Alpen Schnee,
In jedem Blumenkelch sie träumen
Und kräuseln dort den blauen See.

Die jetzigen Besitzer des Schlosses Frau von Miller und deren kunstsinnige Tochter Maria pflegen die Droste-Erinnerungen in pietätvollster Weise. Die von der Dichterin zuletzt bewohnten Turmzimmer werden im besten Stande erhalten und den Fremden gezeigt.

Das liebe Rebhäuschen auf der Höhe fiel nach dem Tode Freiin Hildegards dem Neffen Annettens, Baron Karl von Droste-Hülshoff, zu. Er ließ es durch einen Anbau vergrößern und schuf einen richtigen Herrensitz daraus. Leider durfte er des schönen Eigentums nur noch wenige Jahre sich erfreuen. Im Sommer 1922 hat ihn der Tod aus diesem Leben abgerufen und ist er heimgegangen zu den andern in der Laßberg'schen Friedhofecke. Seine Witwe, Frau Baronin von Droste, ist nun die letzte stille Hüterin der Gräber, wie der Wege und Stätten, welche die Verstorbenen gewandelt und wo sie geweilt. Das Rebhäuschen ist ein Schatzkästchen, das viele Erinnerungen an Annette birgt. Frau von Droste hat sie in einem kleinen Museum gesammelt und dasselbe in dankenswerter Weise der Allgemeinheit geöffnet. Wie beglückt es die Besucher des Rebhäuschens, nachdem sie unten im Schlosse den Spuren Annettens gefolgt, nun hier oben auf der Höhe sich von ihrem Geist umweht und von dem Glanze umflossen zu fühlen, der über jeder Stätte ruht, den jemals ein Genius mit seinen Fittichen gestreift.

Heimweh

Still ist der See – ich lausche seinem Schweigen,
Er wandelt in Erinnerungen fern;
In seine silberklaren Tiefen steigen
Die alte Burg, der goldene Abendstern.
Still ist der See – das Heimweh sitzt am Strande
Und träumt und sinnt von einer schönen Frau,
Die von der Burg einst schaute in die Lande
Mit Augen groß und wie der See so blau.
Wer kennt sie nicht, die Einsame, die Große,
Die dort im Turmgemache sang ihr Lied? –
Treu hält der See ihr Bild in seinem Schoße,
»Annette Droste« haucht das Schilf im Ried.
»Annette Droste« Abendlüftchen wehen,
Die Vöglein und die Blumen schlafen ein;
Die Selige grüßt mich aus Sternenhöhen,
Das Heimweh sanft zerfließt im Mondenschein. –

 



 



 



 


Die Ballade »Vorgeschichte« unter der Handschrift der Dichterin.
Nach dem Original im Besitze von Fräulein Thekla Schneider in Friedrichshafen


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