Thekla Schneider
Schloß Meersburg am Bodensee
Thekla Schneider

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Der Blinde

Prof. Christoph Schlüter

Nie hat er seinen Fuß an das Ufer des Schwäbischen Meeres gesetzt, nie ist er den steilen Burgweg hinaufgestiegen oder ist durch das große Burgtor geschritten. Aber von ferne im Geiste hat er das alte Felsenschloß geschaut, das ihm Annette in Briefen und Worten so oft beschrieben.

Die Schwingen der Sehnsucht haben ihn hierhergetragen. Seine Seele hat die Gemächer, diese Gänge und Hallen durchwandert.

Professor Christoph Bernhard Schlüter gehört in das Bild von Meersburg.

Es würde ihm etwas fehlen, wenn wir diesem Mann, der an der geistigen Entwicklung der Dichterin einen so großen Anteil hat, nicht einige Blätter widmeten.

Am 27. März 1801 geboren, hatte er als Knabe durch ein physikalisches Experiment sich ein schweres Augenleiden zugezogen. Er hatte eine Flasche mit Kalk gefüllt und zugepfropft; früher als er erwartete trat die Explosion ein, und der ganze Inhalt spritzte ihm ins Gesicht.

Die schonungsvollste, liebevollste Pflege ließen die Eltern dem unglücklichen Kinde angedeihen. Die berühmtesten Ärzte wurden herangezogen, die verschiedensten Heilmethoden angewandt, wochen-, monatelang mußte der arme Kranke im dunklen Zimmer sich aufhalten – alles vergebens! Von seinem 28. Jahr an war völlige Blindheit sein Los. –

Der talentvolle, wissensdurstige Knabe lernte trotzdem weiter. Nach Absolvierung des Gymnasiums wandte er sich dem Studium der Philosophie zu, brachte es zum Professor und dozierte an der Akademie in seiner Vaterstadt Münster i. W. von 1828 bis 1884.

Glückliche Familienverhältnisse kamen ihm bei seinen Studien zu Hilfe; ebenso ein vorzügliches Gedächtnis, so daß er das Vorgelesene leicht behalten konnte. Außer der Philosophie widmete Schlüter sich der Literatur, übersetzte aus dem Englischen, gab einen Band gedankenreicher Sonnetten »Welt und Glaube« heraus und hat sich um die Entwicklung der katholischen Literatur große Verdienste erworben, nicht zuletzt dadurch, daß er sich junger aufstrebender Talente annahm.

Schlüter gehörte zu den Menschen, welche sich durch Unglück nicht verbittern lassen, sondern welche aus dem dunklen Schachte des Leidens Schätze zu gewinnen suchen, welche die eigene Seele bereichern und die sie den Nebenmenschen austeilen. Jeder, der in Schlüters Nähe kam, hatte davon zu genießen. Er war von einer goldenen Liebenswürdigkeit – männlich ernst und doch so milde – er konnte tadeln – streng tadeln sogar – aber die Liebe, die Herzensgüte schimmerte immer durch.

Der blinde Gelehrte hatte sich eine eigene innere Welt aufgebaut, ohne sich von der äußeren abzuwenden. Er blieb mit ihr in Verbindung. Groß war sein Interesse für alle Zeitfragen, für alle Zeitereignisse. Liebevoll bekümmerte er sich um die Lebensschicksale seiner Verwandten, Freunde, Bekannten. Nichts war ihm zu groß, nichts zu klein, um es in seinen Interessenkreis zu ziehen.

Unter den Künsten nahm nach der Poesie die Musik die erste Stelle bei ihm ein. Kein Konzert gab es in Münster, wo man nicht den blinden Professor mit seiner Begleitung in den vordersten Reihen sitzen sah.

Er selbst spielte Violine, Gitarre, Flöte und sein Lieblingsinstrument, die Harfe.

Noch seh' den Harfner ich den greisen
Im Stuhle dort beim Dämmerlicht,
Wie er da spielte seine Weisen
So schön, mit blindem Angesicht.

Denn ach! schon in des Lebens Lenzen
Ward ihm das Augenlicht geraubt.
Noch seh' ich seine Haare glänzen
Wie Silberstrahlen um sein Haupt.

Noch seh' ich ihn am Pulte stehen.
Wenn er so Hohem nachgedacht,
Noch seh' ich ihn durch's Zimmer gehen
Von seinem Hündlein treu bewacht.

Annette von Droste zählte 37 Jahre, als sie Professor Schlüter kennen lernte. Die erste Begegnung fand am 25. Februar 1834 im Hause ihres Verwandten Werner von Harthausen statt.

Am 1. März sehen wir Annette bei Schlüter Gedichte von sich vorlesen.

Der junge Professor enthielt sich anfangs des Urteils über ihre Poesien; sie sprachen ihn offenbar nicht besonders an.

Er bekannte später selbst, daß er den Dichtungen des adeligen Fräuleins zu wenig Wert beigemessen.

Mehr und mehr ging ihm aber das Verständnis dafür auf und sein Interesse dafür wuchs, je länger er sich damit beschäftigte.

So oft Annette nach Münster kam, war ihr erster Gang in die Salzstraße, wo das Schlüter'sche Haus im Garten stand.

Nach zwei – drei Besuchen hatten die Geister sich gefunden – die Freundschaft war da – eine Freundschaft, die zu den schönsten gehört, die die Geschichte zwischen einem Manne und einer Frau aufzuweisen hat.

Die Briefe sind die Dokumente dieser Freundschaft; wir lesen uns nicht satt an dem unbefangenen Plauderton, in dem die Dichterin mit dem blinden Freunde redet.

Bald nennt sie ihn »liebster«, bald »teuerster« – einmal, als er lange nicht schreibt, »trägster« meiner Freunde. »Ich höre nichts von Ihnen, ich sehe nichts von Ihnen und noch dazu jetzt, wo im Wald der Nachtigallen Lied erschallt, folglich die Zeit, wo man am wenigsten der mindestens geistigen Nähe werter Personen entbehren kann.«

In demselben Brief vom Sonntag, den 26. April 1840 datiert, ladet sie ihn ein, nach Rüschhaus zu kommen: »Könnten Sie übrigens einige Zeit hier sein, das überträfe alle Annehmlichkeit. Zwar fehlen dem Jahre noch die Früchte frisch vom Strauche gepflückt, die vollständige Belaubung und der fast berauschende Duft, mit dem später Rosen, Surinam, Gewürzstrauch und Reseda die Luft füllen werden, aber doch verbreitet das junge Laub einen höchst lieblichen Geruch. Ich war gestern abend bis zehn Uhr im Garten. Sie glauben nicht, wie mild es war, wie duftig ...«

Köstlich schildert sie ein andermal dem Freunde, wie sie überrascht wurde von einem Boten, der ihr den Besuch von Adele Schopenhauer ankündigte, und daß sie jeden Augenblick erscheinen könne:

»Ich sprang auf vom Schreibtisch«, sagt die Dichterin, »und wohin? vor den Spiegel! ja, lieber Schlüter, der Panther kann seine Flecken nicht ablegen und kein Frauenzimmer die Eitelkeit, ich dachte, daß wir uns seit vier Jahren nicht gesehen und wollte mich doch gerne ein wenig reputierlich präsentieren, aber, o Himmel, welch babylonische Verwirrung, zwar nicht in, aber auf meinem Kopfe! Jedes Haar schien auf dem Punkte mit seinem Nachbar handgemein zu werden, und mein blauer Tibet? Dieser treue Freund durch wechselvolle Jahre, ich schaute ihn an mit Blicken, in denen die klägliche Frage muß gelegen haben, ob er denn wirklich je jung und schön gewesen und es war mir, als höre ich einen ziegenhärenen Seufzer flüstern: »Weit in nebelgrauer Ferne.« Die Kürze der Zeit bedenkend, tat ich mein Möglichstes, dennoch hatte ich es nicht weiter, als vom halben Negligé zum völligen gebracht, als Adele ankam. Ich habe mich doch sehr gefreut.« –

Von ihrem Lieblingsplätzchen im Wald in Eppishausen in der Schweiz schreibt die Dichterin: »Ja, mein teurer, teurer Freund... Dies ist der Platz, wo ich immer bei Ihnen bin und Sie bei mir, ich glaube mit Wahrheit sagen zu können, ich war nie droben ohne Sie, – es ist ein einsamer Fleck Erde, sehr reizend und sehr großartig... hier droben ist meine Heimat, hier geht alles an mir vorüber, was ich nur in meinem Herzen habe mitnehmen können. Vieles, vieles. – Wenn ich den ganzen Tag mit andern Vorstellungen bin gefüttert worden, hier mache ich mein eigenes Schatzkästlein auf und reiche Ihnen, mein teurer Freund, von hier die Hand über so manche Stadt, so manchen Berg und den breiten Rhein.«

»Muß ich ihnen sagen, wieviel meine Gedanken jetzt bei Ihnen sind, liebster meiner Freunde«, schreibt sie vor ihrer Abreise nach Meersburg in tiefem Abschiedsweh; und »Gott lohne Euch Allen Eure Liebe und Treue gegen mich, ihr gutes, liebes Schlütervolk; wenn ich bedenke, daß ich so weit weg muß, ohne Euch noch gesehen zu haben, so möchte ich gleich alles wieder aus dem Koffer reißen. So Gott will, auf ein fröhliches Wiedersehn und eine noch liebere Zeit, als wir bisher zusammen verlebt haben... wie manchmal werde ich über den See weg nach Norden schauen...«

In einer schweren Leidenszeit, die ihr die Enttäuschung der Freundschaft Levin Schückings bereitete, worauf wir noch zu sprechen kommen, schreibt sie an Schlüter:

»Also nochmals meinen herzlichsten Dank für die Mitteilung des sehr interessanten Buches und meinen viel, viel innigeren für die Liebe, die, wie es in dem besten aller Bücher heißt, nicht irrt, nicht zürnt, noch hadert. Kommt Ihnen die Anführung einer Bibelstelle bei dieser Gelegenheit wie eine Art Profanation vor? Sie wissen nicht, was ich in den letzten Tagen gelitten habe, und welche durchdringende Erquickung mir Ihre treue, vertrauensvolle Freundschaft gerade jetzt sein muß ... ich würde Sie sehr um Verzeihung bitten, daß ich Sie mit meinen Schmerzen belästigt habe, »wäre dies nicht gerade der eigentlichste Kern der Freundschaft, daß sie auch das Leid des Freundes nicht missen will, so wenig, wie seine Freuden, oder wenn nicht der Kern doch die ihm zunächstliegende, ihn umschlingende Faserhülle, der Kern heißt freilich anders, ein Glaube, ein Hoffen, ein gemeinsames Wirken. Ich sehne mich recht mal wieder zu Ihnen, mein Freund ...«

Kopfschmerzen verhindern Annette, nach Münster zu kommen, »fällt aber eine Fahrgelegenheit vor«, heißt es in dem Brief, »komme ich doch. Eure treuen, lieben Gesichter wiederzusehn«.

Hin und wieder wählte das Freundespaar auch die poetische Form zum Austausche seiner Gedanken, wie z. B. Schlüter am 3. November 1838, wo er Annette antreibt, sich mit der Vorbereitung der Gedichte zur ersten Auflage zu beeilen:

»Auf, o Nettchen, und schreib und tunk in die Tinte die Feder,
Wohlgeschnitten und gut, und, eilend gefertigt die Abschrift!
Denn wir werden gedruckt, der Tag der Vollendung er nahet ...

Braten Kastanien zu lang, so werden sie alle zu Kohlen: Wie kann Neues gedeihen, wo nicht sich ablöst das Alte? Leserlich schreib, nicht schön, nur daß es lese der Setzer; Bessere nicht ferner umsonst, im ganzen laß es beim Alten; Mir vertraue das Werk und dem sehr einsichtigen Junkmann. Und gar bald wird sich's nach Wunsch und Gefallen Dir zeigen, Daß Du selber erstaunst, wie schön du gereimt und gedichtet. O, erfinden ist schön. Ausführung schöner, am schönsten Ist vollenden dennoch, – fürwahr vollenden ist göttlich.«Die Hexameter von Schlüter sind leider das Einzige, was von seiner Geste aus dem Briefwechsel veröffentlicht wurde. Die andern Briefe von ihm an die Freundin befinden sich unter dem sehr reichen schriftlichen Nachlaß des blinden Gelehrten, dessen Eigentümerin das Franziskanerkloster in Münster i. W. ist.

Annette antwortete darauf sehr launig:

»Was Ihr schreibt von Feder tunken ein,
Würde zum Ohr hinausgefahren sein,
Trat' nicht grad eine günstige Pause ein,
Da ich geschrieben am Braunschweig solang
Daß gestern beendigt der erste Gesang.

Mit meinem Christian geht es so so,
Was ich täglich schrieb des war ich froh,
Und schien mir einzeln ein jedes gut;
Nun ich's übersehe sinkt mir der Mut.
Zu klingend ist es, zu weichlich weit,
Und dann vor allen Dingen zu breit.
Fürwahr! Die Schere muß noch hinein,
Und eine Heckenscher muß es sein!

Es ist schwer die liebenswürdigsten, geistreichsten Stellen auszuwählen. Derselben sind es soviele, daß man versucht ist die ganzen Briefe abzuschreiben.

Schlüter ist der Engel gewesen, der Annette den Weg gewiesen hat zum Frieden. Wenn wir auch den Frieden im »Geistlichen Jahr«, wo so viel von Kampf, Reue, Selbstanklage die Rede ist, zu vermissen meinen, so ist zu bedenken, daß die Droste uns in dieser Dichtung ihr Inneres enthüllt mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, ja, mit einer Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, wie es beinahe einzig dasteht, und wo es immer der Fall gewesen, eben die alte Wahrheit wir bestätigt finden, daß es einen vollkommenen Seelenfrieden nicht gibt, solange wir in diesem irdischen Pilgerkleide wandeln, und daß, je reiner und feiner die Seele wird, je näher sie zu Gott kommt, desto deutlicher sie ihre Flecken sieht.

Annette hat das Goethe'sche »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt« im religiösen Sinn an sich kennen gelernt.

Auf dem Grunde ihrer Seele aber wohnte der Friede – der Friede, der sie sprechen läßt so schön:

»Wenn er mir bleibt, was kann mir fehlen?
Wenn er mich liebt, was kann mich quälen?
Wie hat er alles wohl bestellt!

Wenn ich nur seinen Namen nenne,
Dann ist's, als ob das Herz mir brenne:
Im Lichte steht die ganze Welt.

Sein Kreuz ist wie der Himmelsbogen
Um meinen Horizont gezogen,
Wohin ich schau da steht es schon.

O teures Kreuz, laß dich umfangen,
Woran mein liebstes Lieb gehangen
Für unserer Sünden bittern Lohn!

Der Vater, Geheimrat Schlüter, die Mutter und einzige Schwester des Blinden, das in den Briefen so oft erwähnte Thereschen, war von Annette sofort in die Freundschaft einbezogen, wie wir bereits gesehen. Für die Mutter des Freundes dichtete sie das einzig schöne »Morgengebet einer Mutter« das wir an das Ende dieses Kapitels setzen.

Die Freundschaft der Dichterin zu Christoph Bernhard Schlüter ist nicht in Vergleich zu bringen zu jener andern mit Levin Schücking, schon deshalb nicht, weil nach dessen eigenem Geständnis zwischen ihm und Annette von Religion nie die Rede gewesen.

Im Verkehr mit Schlüter war es anders. Annette liebte es bei literarischen Gesprächen und Erörterungen die Unterhaltung aufs religiöse Gebiet überzuleiten.

Während ihres Aufenthaltes am Rhein hatte sie im Umgange mit Menschen, die mit Goethe, dem Weimarer Kreis überhaupt, in lebendiger Fühlung standen, eine Luft eingesogen, welche ganz im Gegensatz stand zu derjenigen, die sie von Jugend auf gewohnt war und die in Münster und Hülshoff wehte.

Wenn Annette auch fest an ihrem Glauben hielt, so sind doch durch obige Beziehungen Unruhen in ihr entstanden und wurde sie von Zweifeln und Ungewißheiten bedrängt.

Da war Schlüter, der christliche, frommgläubige Philosoph, der rechte Mann, sie über diese Klippen hinwegzuleiten und zwar mit der Überlegenheit seiner Wissenschaft sowohl, wie mit der Milde und Wärme seines ganzen Wesens.

Noch eines. Nachdem wir gesehen haben, welch eine große Rolle die Freundschaft in Annettens Leben gespielt, werfen wir unwillkürlich die Frage auf, ob die Liebe im engeren Sinne nie an ihr Herz geklopft habe. Wir würden es nicht als Vorzug, sondern vielmehr als Mangel betrachten, wenn dieser mächtige Impuls ihr gefehlt. Aber es ist nicht der Fall. In ihren Jugendgedichten und in Briefen finden sich Beweise, daß sie einen Herzenskampf nach dieser Seite durchgelitten und durchgestritten, und daß sie einer ehelichen Verbindung nicht abgeneigt gegenüberstand.

Weshalb eine solche nicht zu Stande kam ist uns unbekannt. Es mögen auch wohl äußere Gründe mitgesprochen haben.

Man möchte es einerseits bedauern, daß Annette diese höchste Entfaltung der weiblichen Psyche nicht an sich erfahren, sie, gerade sie, die vor dem Sakrament der Ehe eine solche Ehrfurcht, Hochachtung hatte:

»Den Gatten lieb' und denk' an Gott dabei,
Er gab den Segen dir, als am Altare
Den Eid du sprachst, gewaltig bis zur Bahre
In Fesseln legend deine Lieb' und Treu'«

sagt sie einmal sehr schön. Und wie Annettens Gemüt, bei aller jungfräulichen Scheu, für Mütterlichkeit aufgeschlossen war, dafür haben wir ja schon Beweise genügend angeführt.

Wir möchten es bedauern, sagten wir oben, und doch auch wieder nicht. – Annette war jedenfalls nicht dafür bestimmt, Frau und Mutter zu werden. Frei und ungeteilt sollte sie dem leben, wozu Gott sie berufen, sollte ihm dienen als reine Priesterin – in gewissem Sinn über dem irdischen stehend, – im großen, herrlichen Tempel der Kunst.

Morgengebet einer Mutter.

Der Morgenstrahl bahnt flimmernd sich den Weg
Durch meines Lagers dichtgeschlossne Falten,
Zuckt um die Wimper mir, und müht sich reg'
Mein halb noch träumend Augenlid zu spalten!
Wach' auf! Wach' auf! Die Gnadenuhr schlug an,
Wach' auf! Die teure, teure Zeit entrann,
Die Zeit, mit keinen Tränen festzuhalten.

So ist die Sonne wirklich denn am Dom
Des Himmels wieder prangend aufgezogen!
Und wieder steh' ich an der Liebe Strom,
Und darf auch wieder kosten seine Wogen!
Nicht nahm die Nacht mich hin, noch steh' ich nicht
Vor jenem letzten schaurigen Gericht,
Ach Gott! Noch einmal bin ich ihm entzogen.

Und wie mir mählich das Bewußtsein lehrt,
Wie aus dem Flore die Gedanken treten,
Da wird erst klar mir dieser Gnade Wert.
Mein Gott! Am Abend meint' ich wohl zu beten,
Doch wie Gesunde tun, ach Herre mein!
Sollt' es mein letztes armes Zeugnis sein,
Wie schwach, wie dürftig wird es mich vertreten!

So sei denn auch mein erstes Flehen wach
Für jene, die nicht gleiche Huld genossen,
Sie, deren Stundenglas die Nacht zerbrach,
Und deren letztes Sandkorn ausgeflossen.
Vor allen innig jenes sei gedacht,
Der sorglos einschlief zu der letzten Nacht,
In irdische Gedanken ausgegossen.

Wohl weiß ich, Herr, du bist das höchste Recht,
Und, wolltest du die Warnung ihm versagen,
Doch wirst getreu du sein gen deinen Knecht,
Nicht Unverschuldetes ihn lassen tragen;
Ich aber, die ich schwach und sündig bin
Und stumpf, zu fassen deinen heil'gen Sinn,
Ich kann nur denken sein in Furcht und Zagen.

Und dann mein zweites Flehen sei geweiht,
Und zwar von Herzen sei's und unbestritten,
Für sie, durch die in meiner Lebenszeit
Ich irgend bittre Stunden hab' erlitten.
Ach! Menscheneinsicht ist ein trüber Hauch;
Doch wär' es anders, hätt' ich Feinde auch,
So will ich denn für meine Feinde bitten.

Laß ihr Gemüt mit sich in Frieden stehn,
Daß deiner Gnade Samenkorn gedeihe,
Und laß sie deine starke Rechte sehn,
Wenn die Versuchung ihnen naht aufs neue.
Ja, kann es sein, vergönnt's ihr ewig Heil,
So werde ihnen Erdenglück zuteil,
Als ihnen ich aus tiefstem Grund verzeihe!

Und nun, woran mein Herze menschlich hängt,
Die Kinder mein und alle meine Lieben,
Du weist ja, wie es mich im Innern drängt,
Wie ich um sie von Sorge bin getrieben;
Ist mein Gefühl für sie vor allem stark,
Nicht zürnst du des – es ist des Lebens Mark,
Du hast es selbst in die Natur geschrieben.

So steh' ich denn aus aller Kraft in mir,
Mach' sie dir eigen, mach' sie ganz dir eigen!
Ob Glück, ob Kummer, was sie führt zu dir,
Ich will mich gerne deinem Ratschluß neigen;
Doch da die frische Pflanze leichter bricht,
Nimm allen Mut den jungen Leben nicht;
Mich laß an ihrer Statt das Schwerste beugen.

Doch ist es töricht, was mein Mund begehrt:
So will ich denn auch gar nichts andres wollen,
Als daß sie immer deiner Gnade wert
Und immer dir die echte Liebe zollen.
Die Liebe, welche reift zu Frucht und Tat,
Und also schweig' ich blutend deinem Rat.
Wenn sie zu dir durch harte Wege sollen.

Nun für mich selber fleh' ich noch zuletzt,
Die ich bedürftig bin vor andern allen.
Du weißt am besten ja, wie leicht verletzt
Mein Mut vor jedem Hauche mußte fallen.
Und wie es mir, von jedem Schein geirrt,
So schwer an deinem Blick zu haften wird.
Auf deinem Weg so mühsam fortzuwallen.

Drum bet' ich, wie du selber uns gelehrt:
Herr! Über meine Kraft mich nicht versuche!
Laß stehn mich, wo man deinen Namen ehrt.
In Ehrfurcht schweigt vor deinem heil'gen Buche;
Doch, soll es sein und trifft mich kalter Spott
Um deinen Ruhm, so laß, o starker Gott,
Nicht furchtsam zucken meine Hand am Pfluge.

Gib, daß ich duldend trage, was mir scheint
Vielleicht an andern übel und verdrossen.
Daß ich viel eh' um solche hab' geweint,
Als still gezürnt, wenn dieser Tag verflossen;
Ja, ist mir heute Kränkung zugedacht,
So laß mich fühlen, daß beim Schluß der Nacht
Ich heut in mein Gebet sie eingeschlossen.

Und auch die Freuden, milder Schöpfer mein,
Laß mich mit stiller Heiterkeit empfangen;
Es ist dir recht, wenn sich die Deinen freun.
Und lächelnd dürfen wir zu dir gelangen.
Den Sonnenschein, der Blumen klare Pracht,
Du hast es all zu unsrer Lust gemacht.
Von deiner Liebe sind wir ganz umfangen.

Nun einmal noch, wie's mir am Herzen liegt,
Maria Mutter, laß mich Dir es sagen,
Du hast ja selber einen Sohn gewiegt
Und hast an deinem Herzen ihn getragen,
Noch einmal, liebe Gnadenmutter lind,
Schau' mild herab, denk' an dein eignes Kind,
Ach, segne sie, die an der Brust mir lagen!


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