Thekla Schneider
Schloß Meersburg am Bodensee
Thekla Schneider

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Geistes- und Herzensfrühling

Jugendbildnis der Annette
(gezeichnet von Frau Dr. Wöhler, Münster in W.

So kam man allmählich in den Winter hinein. Die Schwalben waren fortgeflogen. Dichte Nebelschwaden brauten über dem See und hüllten die alten Mauern in ihre Schleier. Ab und zu hörte man den heiseren Schrei eines hungrigen Raben, und bei Nacht ließ eine Eule ihre Stimme vernehmen.

Aber auch die ungünstige Jahreszeit hielt die Gelehrten nicht ab, nach der Meersburg zu pilgern. Ein häufiger und stets willkommener Gast war der protestantische Pfarrer Reuchlin von Lindau. So trat er auch in Beziehungen zu Annette und erkannte zuerst von all den gelehrten Besuchern deren Dichtergabe.

Ludwig Uhland, der am 3. Oktober 1841 einen Tag auf der Meersburg zubrachte, hatte keine Ahnung davon, daß die hohe Stirne des zarten, westfälischen Edelfräuleins, das bei Tisch ihm gegenüber saß, von demselben Genius berührt worden war, wie die seinige. Annette sagte zu dem Dichter, daß sie auf der Durchreise in Tübingen ihm gegenüber logiert und man ihr sein Haus gezeigt habe, worauf Uhland lachend erwiderte: »Dort, dem Lamme gegenüber wohnt ein Kaufmann Uhland, der dem Wirt ohne Zweifel gewichtiger erschien.«

Die damals angesponnene Bekanntschaft hatte zunächst keine weitere Beziehungen zur Folge, bis Uhland seine deutschen Volkslieder herausgab, wobei Annette ihm fördernden Beistand leistete, indem sie eine größere Anzahl Lieder, wie sie im Münsterlande gesungen wurden, für Uhland sammeln und abschreiben ließ. –

Still und bewegt zugleich war das Leben im Schlosse während des Winters. Der Freiherr schrieb alte Manuskripte ab mit seiner schönen Handschrift und brachte ganze Bände zustande.

Die Freifrau unterrichtete ihre Kinder, malte, zeichnete, pflegte ihre Blumen und sah überall nach dem Rechten.

Levin Schücking arbeitete in der Bibliothek oder schrieb an seinen eigenen Werken in dem Gemach des nordwestlichen Turmes, das ihm als Wohnraum eingerichtet worden war. Annette besuchte ihn zuweilen dort, um ihm etwas Geschriebenes zu zeigen und darüber zu sprechen. Sie scheute nicht die vielen Treppen und Gänge, die trennend zwischen ihnen lagen. Ebenso kam auch er in ihr Turmzimmer herüber. »Die Zeit in Rüschhaus war die poetischste, diejenige in Meersburg aber die herzlichste und heimeligste Zeit unseres Lebens,« schreibt sie, nicht umsonst, in einem der späteren Briefe an den Freund.

Die Dichterin war aber sehr fleißig in ihrer einsamen Turmstube. Sie spricht in einem Brief an die Mutter von einem »Berg von Arbeit, den sie vor sich habe«. Gegen Weihnachten stickte sie Pantoffeln für ihren Schwager. Auch die damals so beliebte Ausschneidekunst wurde von ihr gepflegt. Unter ihren schönen Händen entstanden die zierlichen kleinen Kunstwerke, mit denen sie so oft ihre Freunde und Bekannten erfreute, und die wir heute noch bewundern. Zu andern Stunden sehen wir die Dichterin sogar Strümpfe stopfen, wenn Therese, das Kammermädchen, keine Zeit hatte, und sie fürchtete gar nicht, die Rache der Musen deshalb auf sich zu ziehen. Dann aber liegt sie wieder in der Sofaecke, wie auf ihrem kleinen Edelsitze in Westfalen, sinnend und träumend, – plötzlich erhebt sie sich, geht an den großen runden Tisch, wo das Tintenzeug steht, nimmt die Kielfeder zur Hand und das nächste beste Blatt Papier und schreibt mit der kleinen, eigensinnigen Schrift Verse nieder. Damit geht sie zu Levin hinüber, um sie ihm vorzulesen, oder wartet bis zum Abend, um sie beim Lampenlicht ihrem Auditorium, Jenny und Schücking, zum besten zu geben. Annette berichtete darüber der Mutter: »sie sind beide immer sehr zufrieden damit, aber leider von so verschiedenem Geschmack, daß der eine sich immer über das am meisten freut, was dem andern am wenigsten gelungen scheint, so daß sie mich ganz konfus machen könnten und ich am Ende doch meinen eigenen Geschmack als letzte Instanz entscheiden lassen muß.«

Während die Manuskripte, das geistliche Jahr und das angefangene Buch über Westfalen, welche die Dichterin, teils zum Feilen, teils zur Vollendung, aus Westfalen mitgebracht hatte, noch immer in der Tiefe ihres Koffers ruhten, entwickelte sie eine Fruchtbarkeit an neuen lyrischen Gedichten, die geradezu staunenerregend ist. Es hatte dies seinen Grund in einer Wette, die sie mit Levin Schücking eingegangen.

Als Annette einmal bei dem Freunde in der Bibliothek war und seinen Arbeiten zusah, wurde, wie schon öfters im Laufe der Unterhaltung, die Frage aufgeworfen, für welche Dichtungsart ihr Talent sich am besten eigne. Sie behauptete immer für das Epische die größte Ader zu haben, während Schücking darauf bestand, in der Lyrik liege ihre Stärke, aber dazu setzte, »man müsse die Stimmung, aus welcher lyrische Gedichte hervorgehen, wie ein gutes Weinjahr, mit Geduld und Demut, abwarten.«

Annette aber, im Gefühl ihres unerschöpften inneren Reichtums, neigte zu der Goethe'schen Ansicht, daß der Dichter die Poesie kommandieren könne, und sagte, es werde ihr ein Leichtes sein, so Gott ihr Gesundheit gebe, in wenigen Wochen einen Band lyrischer Gedichte zu schreiben. Als Schücking diesem kühnen Worte Zweifel entgegensetzte, bot sie ihm eine Wette an und verschwand in ihre Turmstube, um sofort ans Werk zu gehen. Am Nachmittag las sie ihm schon das erste Gedicht zu dem gewetteten Bande vor, am folgenden Tag sogar zwei, und so ging es fort. Des Freundes Doktrin erhielt von nun an Tag für Tag ihre wohlausgemessene und verdiente Züchtigung. Annette konnte am 26. Januar 1842 an die Mutter schreiben:

»Ich habe schon einen ganzen Wust geschrieben, AugustAugust von Harthausen, ein Oheim der Dichterin. würde sich aber ärgern, wenn er hörte, daß es meist Gedichte sind, von denen ich gegen Ostern wohl einen neuen, dicken Band fertig haben werde.«

Zu der fast ans Wunderbare grenzenden Fruchtbarkeit der Dichterin in diesem Winter ist zu bemerken, daß sie nicht immer ganz Neues schuf, sondern vielfach nur niederschrieb, was sich in stillen Stunden des Sinnens und Träumens in ihrem Geiste zur Poesie schon verklärt hatte. Das wird uns noch begreiflicher, wenn wir bedenken, daß Annette gewöhnt war, erst zu Tinte und Feder zu greifen, wenn ein Gedicht fertig vor ihrer Seele stand.

Vielen Gedichten aus jener Zeit ist so deutlich der Stempel des Westfälischen aufgedrückt, z. B. den »Heidebildern«, daß sie unwillkürlich auf ihre Entstehung in der Heimat hinweisen. Andere hingegen, so »Am Turme«, sind frisch an den Ufern des Bodensees ihrem Geiste entquollen. Man fühlt die Stimmung und direkte Einwirkung der Umgebung heraus, wenn sie keck in die Welt hinaus singt:

»Ich steh' auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass' gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare:
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand,
Auf Tod und Leben dann ringen!«

Ein andermal beschreibt sie uns die alte Meersburg:

»Auf der Burg haus' ich am Berge,
Unter mir der blaue See,
Höre nächtlich Koboldzwerge,
Täglich Adler aus der Höh',

Und die grauen Ahnenbilder
Sind mir Stubenkameraden,
Wappentruh' und Eisenschilder
Sofa mir und Kleiderladen.

»Mir genüber gähnt die Halle,
Grauen Tores, hohl und lang,
Drin mit wunderlichem Schalle
Langsam dröhnt ein schwerer Gang ...«

Und dann wieder sehen wir sie am Turme stehen. Ihre Locke ist feucht vom Wasserstaub, der heraufsteigt, – sie gibt sich ernsten Betrachtungen hin über den See im Lied »Am Bodensee«:

»Dahin, dahin! die einst so gesund,
So reich und mächtig, so arm und klein,
Und nur ihr flüchtiger Spiegelschein
Liegt zerflossen auf deinem Grund.

Der Ritter, so aus der Burg hervor
Vom Hange trabte in aller Früh':
– Jetzt nickt die Esche vom grauen Tor,
Am Zwinger zeichnet die Mylady –

Das arme Mütterlein, das gebleicht
Sein Leichenhemde den Strand entlang,
Der Kranke, der seinen letzten Gang
An deinem Borde gekeucht;

Das spielende Kind, das neckend hier
Sein Schneckenhäuschen geschleudert hat.
Die glühende Braut, die lächelnd dir
Von der Ringelblume gab Blatt um Blatt?

Der Sänger, der mit trunkenem Aug'
Das Metrum geplätschert in deiner Flut,
Der Pilger, so am Gesteine geruht.
Sie alle dahin wie Rauch!«

Zuletzt denkt sie daran, daß auch sie einst dasselbe Los treffen wird, daß auch sie einst zergehet »wie Schaum«;

»Wenn aus dem Grabe die Distel quillt.
Dann zuckt mein längst zerfallenes Bild
Wohl einmal durch deinen Traum!«

Annettens Naturgefühl ist so übermächtig groß und dabei doch so zart, wie wir es nur bei den größten Dichtern finden. Alles hat bei ihr Seele, alles gestaltet sich zu dramatischem Leben, und wer bewundert nicht die Kleinmalerei in: »Das öde Haus«?

»Das Dach, vom Moose überschwellt,
Läßt wirre Schober niederragen,
Und eine Spinne hat ihr Zelt
Im Fensterloche aufgeschlagen;
Da hängt, ein Blatt von zartem Flor,
Der schillernden Libelle Flügel.
Und ihres Panzers gold'ner Spiegel
Ragt kopflos am Gesims hervor.

Und auf dem Herde, wo der Schnee
Seit Jahren durch den Schlot geflogen.
Liegt Aschenmoder feucht und zäh.
Von Pilzes Glocken überzogen;
Noch hängt am Mauerpflock ein Nest
Verwirrten Wergs, das Seil zu spinnen,
Wie halbvermorschtes Haar, und drinnen
Der Schwalbe überjährig Nest.«

Der Säntis, der der Dichterin ins Fenster schaut, ist ihr Freund; sie hat ihm nicht weniger als vier Lieder gewidmet. Im Frühling grüßt sie ihn als »Greis«, mit »der Locke weiß!«

»In Felsenblöcke eingemauert,
Von Schneegestöber überschauert,
In Eisespanzer eingeschnürt:
Hu! wie dich schaudert, wie dich friert!«

ruft sie ihm zu über den See hinüber, während bei ihr schon:

»Die Rebe blüht, ihr linder Hauch
Durchzieht das tauige Revier,
Und nah und ferne wiegt die Luft
Vielfarb'ger Blumen bunte Zier.«

An einem heißen Sommertag aber, wo kein Lüftchen sich regt, kein Vogel zirpt, kein Hund bellt, und sie, die Dichterin selbst, unter der Linde liegt wie ausgedörrt, zu müde, die Mücken fortzuscheuchen, da steigt ihr der Wunsch auf, bei ihm zu sein:

»O Säntis, Säntis! läg ich doch
Dort – grad an deinem Felsenjoch,
Wo sich die kalten, weißen Decken
So frisch und saftig drüber strecken.
Viel tausend blanker Tropfen Spiel:
Glücksel'ger Säntis, dir ist kühl!«

Und im Herbste, während sie unter der »Trauben Pracht« steht und mit halbverschlossenem Blick noch vom Lenze träumt und vom Glück, da sieht sie auf einmal den frischgefallenen Schnee auf den Bergen, er tut ihr in den Augen weh, und wehmütig fragt sie den alten Freund:

»Willst uns den Winter schon bereiten?
Von Schlucht zu Schlucht sieht man ihn gleiten,
Und bald, bald wälzt er sich herab
Von dir, o Säntis! ödes Grab!«

Im Winter reißt sie das Fenster auf und bittet ihn, den Föhn los zu lassen aus seiner »Kerker Schoß«, damit es bald Frühling wird:

»Wo schwärzlich jene Riffe spalten,
Da muß er Quarantäne halten,
Der Fremdling aus der Lombardei:
O Säntis, gib den Tauwind frei!«

Annette wurde in Wahrheit alles zum Gedicht: der milde, wie der harte Wintertag, die glatte Eisbahn, die am Rande des Weihers hingefegt ist, Feuer, Luft, Wasser, Erde. – »Die Elemente nehmen unter der Hand der Dichterin Fleisch und Blut an«, sagt ein neuerer Biograph (Prof. Dr. Zorell) von ihr, »das Wasser ist verkörpert in dem Meer, dem köstlichen Blut der Erde. Wenn am Mittag die ganze Natur schläft, geht ihr Pulsschlag auf und nieder in dem heiligen Meer. In den Himmelsodem Luft zieht am frischen Morgen der Jäger mit leichtem Schritt. Die Erde wird geschildert durch den tauigen Abend, wenn der Gärtner seine Lieblinge, die Blumen, alle der lieben Mutter, der Erde, anvertraut. Das Feuer aber kommt am sinnigsten zur Geltung im Dunkel der Nacht, wo der Hammerschmied das glühende, vor verhaltenem Grimm zitternde Eisen bleichkalten Angesichts bändigt und zähmt.«

Ja, selbst aus dem harten Gestein weiß Annette von Droste Funken der Poesie zu schlagen, was kaum einem Dichter vor ihr gelungen. Sie sitzt in der Mergelgrube und betrachtet das Geröll, rückwärtsblickend und den Stift in die Urgeschichte tauchend:

»Wie zürnend sturt dich an der schwarze Gneis,
Spatkugeln kollern nieder, milchig weiß,
Und um den Glimmer fahren Silberblitze;
Gesprenkelte Porphyre, groß und klein.
Die Okerdruse und der Feuerstein –
Nur wenige hat dieser Grund gezeugt.
Der sah den Strand, und der des Berges Kuppe;
Die zorn'ge Welle hat sie hergescheucht,
Leviathan mit seiner Riesenschuppe,
Als schäumend übern Sinai er fuhr,
Des Himmels Schleusen dreißig Tage offen,
Gebirge schmolzen ein wie Zuckerkand,
Als dann am Ararat die Arche stand.
Und eine fremde, üppige Natur,
Ein neues Leben quoll aus neuen Stoffen.« –

Nun seien es aber genug der Beweise, wie Annette ihre Gabe benützt hat, um die Natur uns dichterisch vorzufühlen und zu verklären. Am größten zeigt sie sich, wenn sie in die vielverschlungenen Fäden des menschlichen Lebens und menschlicher Schicksale hineingreift.

Annette ist große Menschen- und Herzenskennerin.

Wie sie für die äußeren geschaffenen Dinge einen ganz eigenartigen Seherblick hat und das Kleinste, scheinbar Unbedeutendste unterscheidet, so hat sie ihn auch für die Welt des Geistes.

Keine Tugend, aber auch kein Unrecht, keine Sünde ist ihr fremd. Sie legt die Sonde an den kleinsten Fehler, die leiseste Schwäche, nicht zuletzt an ihre eigenen an. Wie gewissenhaft ist sie bis aufs Äußerste in ihren Beziehungen zum Nebenmenschen. Wie ernst nimmt sie die Verantwortung und Aufgabe ihm Hüter, Schützer zu sein. Wie fragt sie sich, ob nicht auf sie eine Schuld fällt, wenn Andere fehlen:

»Wenn Kinderohr an deinen Lippen hängt,
Wenn Kinderblick in deinen Augen liest.
Wenn jedes kecke Wort, das vor sich drängt.
Wie glühend Blei in zarte Ohren fließt;
Bist du denn nicht der Hirt?
Ist dein die Schuld nicht, wenn das Lamm verirrt?«

Nichts ist ihr heiliger als das Gebot der Nächstenliebe. Über seine feinsten Feinheiten werden wir belehrt am 14. Sonntag nach Pfingsten.

Sie reißt alle Herzenstiefen auf, horcht auf den Pulsschlag der Seele:

»Und wenn an deines Tempels Tor
Steht einer einsam ausgeschlossen.
Des Tränen doch vor Gott geflossen.
Des Seufzer doch erreicht sein Ohr:
Dann magst du deine Rechte reichen
Und deuten aufwärts nach dem Blau,
Wo allen glüh'n der Sterne Zeichen,
Für alle sinkt der milde Tau.
Und dann, wenn sich ge'n einen regt
Dir ein gewaltsam Widerstreben,
Weil andere Weise ihm gegeben,
Als dir der Himmel zugelegt;
Wenn Fehl mit Albernheit im Bunde
Zertreten will der Liebe Saat:
Reich ihm die Hand, dies ist die Stunde.
Wo das Gebot sich prüfend naht.«

Wir brauchen ja nur » Das geistliche Jahr«, diesen herrlichen Zyklus religiöser Gedichte, aufzuschlagen, eine ganze Welt erschließt sich uns da von Seelengeheimnissen – eine ganze Welt von Höhen und Tiefen. Ist es nicht eine rührende Demut, die aus den Worten quillt:

»Mich kennen muß die Welt, ich muß Verachtung tragen.
Wie ich sie stets verdient;
Ich Wurm, der, den die Engel kaum zu nennen wagen,
Zu preisen mich erkühnt.«

Annette ist eine Meisterin des Gebets: Belauschen wir sie einmal ein wenig in ihren Gesprächen mit Gott, – ob wir da nicht etwas von ihr lernen können? –

»So tret ich denn in Jesu Namen,
Mein Schöpfer vor dein Angesicht;
Wo steh'n die Blinden und die Lahmen,
Dort ist mein Platz und mein Gericht
Und bin ich der Geringsten eine,
Die knien unter deinem Schild:
Für alle, alle ist ja deine
So überreiche Hand gefüllt.«

Welch entzückendes Gebet! Und weiter:

»Ich bitte nicht um Glück der Erden,
Nur um ein Leuchten nun und dann.
Daß sichtbar deine Hände werden.
Ich deine Liebe ahnen kann;
Nur in des Lebens Kümmernissen
Um der Ergebung Gnadengruß:
Dann wirst du schon am besten wissen.
Wieviel ich tragen kann und muß.«

»Ich möchte noch um vieles bitten.
Doch besser schweigend knie' ich hier;
Er, der für mich am Kreuz gelitten,
Mein milder Anwalt steht bei mir.
Ich wandle stets in Finsternissen,
Er war es stets, der Strahlen warf:
Der alles weiß, sollt' er nicht wissen.
Was seine arme Magd bedarf?«

In der Nacht beim Erwachen betet sie für die Ihrigen:

»Gib ihnen Licht, wo es noch finster ist,
Gib ihnen Kraft, wo schon ein Strahl entglommen.
Gib ihnen Trübsal, wenn ihr Herz vergißt,
Ihr eitles Herz, woher das Glück gekommen.
Doch wenn das Leiden sie zum Mißmut drückt,
Gib ihnen Freude, daß sie dich erkennen;
Gib ihnen Trost, wenn einst ihr Leben knickt,
Und laß' sie sterbend deinen Namen nennen.«

Und nun hören wir sie noch für die armen Seelen flehen:

»O Gott, ich ruf aus meiner tiefsten Seele,
Steh ihnen bei, mein Gott, verlaß sie nicht!
Auf ihren Schmerz sieh', nicht auf ihre Fehle;
Sieh' auf mein einsam trauernd Angesicht!

Und ist es möglich, kann man Seelen retten
Durch Erdenleid, dem man sich willig beut,
Kann ich mein Schicksal an das ihre ketten:
Gib deinen Kelch, o Herr, ich bin bereit!

Was will doch alles Erdenleiden sagen.
Bedenk ich Leid und Freud der Ewigkeit!
Was ich vermag, ich will es gerne tragen;
Ich bin bereit, o Herr, ich bin bereit!«

In welch intimem Verhältnis sie zu Gott steht, verrät sie uns in dem Gedicht auf den Palmsonntag. Es klingen hier Töne herein, die an die alten Mystiker erinnern, ja sogar an das biblische Hohelied.

Sie kann ihrem Heiland nicht mit Palmen entgegengeh'n, »der Atem ist ihr schwer«, dafür kommt er zu ihr:

»O Jesu, süße Helle.
Du kömmst in meine Zelle
In meine Modergruft!

Was soll ich dir bereiten,
Du wunderlieber Gast?
Ich möchte dich verleiten
Zu langer Liebesrast.
Wohlan, ich schmücke dich,
Will dich mit Blumen binden;
Du sollst dich nicht entwinden.
Das weiß ich sicherlich.

Aus deiner Mutter Rechten
Will ich um Deinen Fuß
Die reine Lilie flechten
Mit demutsvollem Gruß,
Daß ich dich feßle ganz
Mit Liebesblumenringen,
Will um dein Haupt ich schlingen
Den heil'gen Rosenkranz.«

Wie schön, wie gläubig betet die schwergeprüfte Dichterin in ihren Leidensstunden:

»Das ist mein Trost in allen Leiden,
Daß nichts mich kann von Jesu scheiden
Von seiner Liebe keine Macht.«

Ein Schauer überrieselt uns, wenn wir in ihre Selbsterkenntnis hineinblicken und in ihre Hingabe an Gott. Letztere drückt sich besonders schön aus in dem Gedicht »Am Gründonnerstag«.

In ihrer Furcht, an der sie so oft leidet, es könnte ihr eines Tages der Verstand genommen werden, wendet sie sich an Gott:

»O Gott, ich kann nicht bergen,
Wie angst mir vor den Schergen,
Die du vielleicht gesandt,
In Krankheit oder Grämen
Die Sinne mir zu nehmen
Zu töten den Verstand!«

»Doch ist er so vergiftet,
Daß es Vernichtung stiftet,
Wenn er mein Herz umfleußt:
So laß' mich ihn verlieren,
Die Seele heimzuführen,
Den reichbegabten Geist.

Hast du es denn beschlossen,
Daß ich soll ausgegossen
Ein tot' Gewässer steh'n
Für dieses ganze Leben:
So will ich denn mit Beben
An deine Prüfung gehn.«

Und am Feste Allerheiligen, welch herrliche Töne entströmen ihrer Harfe, indem sie die 8 Seligkeiten besingt. Wir fühlen uns wie in ein Friedensreich eingetaucht, von himmlischen Lüften umweht. Man kann die Verse nicht oft genug lesen:

»Selig sind im Geist die Armen,
Die zu ihres Nächsten Füßen
Gern an seinem Licht erwarmen
Und mit Dienerwort ihn grüßen,
Fremden Fehles sich erbarmen,
Fremden Glückes überfließen:
Ja, zu ihres Nächsten Füßen
Selig, selig sind die Armen!

Die Barmherzigen sind selig,
So nur auf die Wunde sehen.
Nicht erpressend kalt und wählig
Wie der Schaden mocht' entstehen,
Leise, schonend und allmählich
Lassen drin den Balsam gehen:
So nur nach der Wunde sehen.
Die Barmherzigen sind selig!«

Ihrer tiefen Ergriffenheit über die Leiden des Heilands gibt sie »Am Karfreitag« Ausdruck:

»Weg mit goldenen Pokalen,
Süßem Wein vom edlen Stamme!
Ach, ihn sengt in seinen Qualen
Noch des Durstes heiße Flamme!
Daß er laut vor Schmerz muß klagen,
Erd' und Himmel muß erbleichen.
Da die Henkersknecht' es wagen
Gall' und Essig ihm zu reichen.

Weiche Polster, seid'ne Kissen,
Kann mir noch nach euch verlangen,
Da mein Herr, so gar zerrissen.
Muß am harten Kreuze hangen?«

Sind das nicht Perlen und Juwelen geistlicher Dichtkunst? Wir könnten noch viele Stellen anführen – das »Geistliche Jahr« ist voll davon – aber diese wenigen mögen genügen.

Werfen wir noch einen Blick in die weltlichen Gedichte. Wie vertraut ist unsere Dichterin mit allen Lebensverhältnissen! Die Schwächen und Tugenden eines Ehepaares sind gewiß nie seiner und schärfer gezeichnet worden als von Annette in: »Die beschränkte Frau«.

»Vor allem macht' ihm Überdruß
Ein Wort, das sie an alles knüpfte.
Das freilich in der Rede Fluß
Gedankenlos dem Mund entschlüpfte:
»In Gottes Namen«, sprach sie dann,
Wenn schwere Prüfungsstunden kamen;
Und wenn zu Weine ging ihr Mann,
Dann sprach sie auch: »In Gottes Namen.«

Das schien ihm lächerlich und dumm.
Mitunter frevelhaft vermessen;
Oft schalt er, und sie weinte drum
Und hat es immer doch vergessen.«

Und wie trefflich finden wir im selben Gedicht mit wenigen Strichen den Kaufmannsstand gezeichnet:

»Der Handel ist ein zart Gebäu,
Und ruht gar sehr auf fremden Säulen.
Ein Freund falliert, ein Schuldner flieht.
Ein Gläub'ger will sich nicht gedulden,
Und eh' ein halbes Jahr verzieht.
Weiß unser Krämer sich in Schulden«.

Welch feines Verständnis hatte die Dichterin, um noch eines anzuführen, für das verschiedenartige Glück des Kloster- und Familienlebens! Wie wird sie beiden gerecht im letzten Gesang des »Hospiz auf dem St. Bernhard«, wo die Mönche, auf der Felsplatte stehend, dem Sennen, dem Weib, dem Kind und greisen Großvater nachsehen und dann sich heimwärts ihrem Kloster zuwenden:

»So zieh'n auf immer sie geschieden,
Zum Glücke die, und die zum Frieden.
Was schöner sei, was minder hehr? –
Dies zu entscheiden würde schwer.
In Wahrheit! Beide sind nur eins!
Glück ohne Frieden gibt es keins,
Und Frieden trägt ein mildes Glück.
Dies sagt dir jeder Augenblick.
Wirst du aus reinem Herzen fragen.
Sind nimmer auch die Formen gleich.
Was diesem karg, dünkt jenem reich:
Nicht über Lüge darfst du klagen.
Der Tau die Schimmer wirft zurück.
In sieben Farben bricht der Schein,
Doch hüllen einen Strahl sie ein. –
Ach, Glück ist Friede – Frieden Glück!«

Der natürliche Drang eines jeden schaffenden Geistes ist es, seine Werke, wenn sie einmal als Kunstwerke sich ihm darstellen, an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch bei Annette war dies der Fall. Schücking stand ihr treulich dabei zur Seite und erwies sich hierin als wahrer Freund. Es war ihm selbst vielleicht mehr noch als der Dichterin daran gelegen, daß ihr Licht auf den Leuchter gestellt werde und die Welt ihr Talent kennen lerne. Bei seinen Beziehungen zu den meisten damaligen Dichtern und Verlegern von Ruf, war es ihm nicht schwer, Annette in die literarische Welt einzuführen. »Das Morgenblatt«, das damals einflußreichste Organ für belletristische Literatur, öffnete ihr seine Spalten. Gleich die ersten Gedichte wurden mit Enthusiasmus aufgenommen; Freiligrath schreibt an Schücking darüber: »Deine und der Droste jüngste Beiträge im Morgenblatt habe ich mit herzinniger Freude gelesen. »Der Knabe im Moor« ist ganz vortrefflich. Es ist bösartig von Deiner Freundin, einen so ins Gruseln zu bringen; die Haare haben mir dabei zu Berg gestanden.« Schücking ging täglich auf's Museum, – ein Zimmer in einem Gasthaus des oberen Städtchens – um die Zeitungen zu lesen, und es entzückte ihn stets, wenn er darin etwas von sich oder von der Freundin fand. Voll Begeisterung brachte er Annette die Nachricht, welche auch große Freude darüber empfand und sich immer mehr zu dichterischem Schaffen angeregt fühlte.


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