Thekla Schneider
Schloß Meersburg am Bodensee
Thekla Schneider

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Die Landschaft des inneren Lebens

Eingang zum Schloß.

Am 1. Oktober 1846, nachmittags 2 Uhr, hielt vor dem Schloßtor ein Wagen, in dem niemand anders sich befand als Annette von Droste. Die Familie, welche noch bei Tisch war, eilte herunter, um die Reisende, die man schon seit einigen Tagen erwartet hatte, zu empfangen. Ihre Wangen waren hochgerötet, sie atmete schwer. Am Arme der Schwester und einer Nichte durchschritt sie die große Eingangshalle. Man hatte ihr diesmal die Zimmer des Vorderbaues zum Bewohnen eingerichtet, von denen aus sie leicht, ohne Treppen zu steigen, ins Freie gelangen konnte. Hier angekommen, setzte sie sich gleich aufs Bett. Der blaue, pelzgefütterte Reisemantel glitt ihr von den Schultern und sie sagte, tief aufatmend: »Wie froh bin ich, daß ich da bin!« Sie hatte auf der langen Reise fortwährend unter furchtbarem Kopfweh, Fieber und Erbrechen gelitten.

Der Brunnenarzt von Überlingen, welcher gerufen wurde, hielt das Übel für hochgradig überreizte Nerven und verordnete geistige und körperliche Ruhe. Wochen-, monatelang mußte die Kranke das Bett hüten und immer ganz still liegen. Sie sollte soviel wie möglich schlafen, nichts denken oder nur Angenehmes. Dennoch bekümmerte sie sich um ihr Rebhäuschen und um die Weinernte, die in diesem Jahr eine außergewöhnlich gute und reiche war.

Als der Zustand gegen den Frühling 1847 hin sich besserte und Annette wieder Besuche empfangen durfte, kam wieder, wie früher, jeden Sonntag ihre geliebte Fürstin Salm von Herrschberg herüber. Auch der Pfarrgeistliche von Meersburg, Dekan Hain, welcher ein häufiger Gast im Schlosse und Religionslehrer der Kinder war, ging nie an Annettens Zimmer vorbei, ohne einzutreten. Er wurde von ihr stets aufs liebenswürdigste empfangen. Sie unterhielt sich gerne und gut mit ihm.

Mitten im Gespräch konnte Annette manchmal, zum großen Erstaunen des geistlichen Herrn, von ihrem Platze sich erheben und sagen: »Bitte, Hochwürden, lassen Sie mich beichten.« Auf dem Boden vor dem Priester knieend bekannte sie ihre Sünden und empfing die Lossprechung.

Die Familie umgab Annette mit der größten Sorge und Liebe. Schwager Laßberg besuchte sie immer nachmittags eine Stunde; Jenny und die Kinder brachten regelmäßig die Abendstunden bei ihr zu. Alles Aufregende im Gespräch wurde vermieden. Die Leidende hörte zu, in einen großen Lehnstuhl gekauert, der zwischen ihrem Bett und einem grünen Kachelofen stand. Letzteren ließ Annette selbst setzen, wodurch das Zimmer bedeutend an Wärme und Behaglichkeit gewann. Sie ist auch ganz entzückt davon, wie wir aus einem Brief an ihre Freundin Rüdiger sehen, der sie schreibt: »Meine Spiegelei ist ganz reizend, heizt sich vortrefflich, faßt jeden Sonnenblick auf und ist durch den Widerschein des Sees selbst in den trübsten Tagen hell.« Frau von Laßberg sorgte dafür, daß immer ein paar blühende Stöcke aus dem Treibhaus auf dem Tische standen.

An Langeweile litt Annette niemals. Ihre Phantasie arbeitete immer; es fiel ihr deshalb schwer, nicht zur Feder greifen zu dürfen. »Gott, dürfte ich jetzt schreiben,« sagte sie einmal, »wie leicht würde es mir werden!« Sie hatte den ganzen Winter ihre Klause nicht verlassen.

Erst als der Frühling ins Land gezogen war, gestattete der Arzt ihr, sich wieder an die Luft zu wagen und riet ihr sogar, sich viel Bewegung im Freien zu machen. Wie kamen ihr jetzt die Parterrezimmer zu statten! Sie brauchte nur durch ein paar Türen zu gehen, um im Hofe zu sein. Ihr Lieblingsweg war an den Zinnen, wo sie oft lange auf und ab ging, die Schritte zählend, und sich freute, wenn sie recht viele gemacht hatte, so daß sie einem großen Spaziergang gleichkamen.

Im Juli 1847 beglückte Gustav Schwab, Laßbergs langjähriger Freund, die Meersburg mit einem Besuch. Er brachte seine Frau und Tochter und eine Freundin der letzteren mit. Es waren schöne Stunden des Zusammenseins, das noch einen besonderen Reiz erhielt durch die Anwesenheit Annettens, die bereits als Dichterin bekannt war und deren reiche geistige Begabung den selbst so hochbegabten schwäbischen Dichter in hohem Grade anzog. Sie fragte ihn, als von ihren Poesien die Rede war, welches ihrer Gedichte ihm denn am besten gefalle, worauf Schwab antwortete: »Die beschränkte Frau.«

Nicht nur körperlich krank, auch mit einer tiefen Wunde im Herzen, ist Annette nach Meersburg gekommen, für die sie in der reinen, milden Luft Genesung und Heilung suchte.

Das Band, das sie mit Schücking verknüpfte, das sie gehegt und gepflegt und wie ihr teuerstes Kleinod gehalten hatte, war durchschnitten.

Der ehemalige Freund hatte seinen Roman »Die Ritterbürtigen« herausgegeben, in dem von seinem freiheitlich gesinnten Standpunkt aus, Anekdoten und Vorfälle eingeflochten waren, wodurch der westfälische Adel in ein ungünstiges Licht gestellt wurde.

Der Verdacht, dem Schriftsteller das Material zu diesen »Giftmischereien« geliefert zu haben, fiel sofort auf Annette; denn er konnte diese Geschichten nur von einer in diesen Kreisen ganz vertrauten Persönlichkeit haben, und jedermann kannte die Beziehungen Annettens zu Schücking. Man machte sie also dafür verantwortlich, überschüttete sie mit Vorwürfen von allen Seiten, zieh sie des Vertrauensbruches und der Untreue gegen ihre Standesgenossen. Wie bitter Annette darunter litt, zeigt ein Brief an Professor Schlüter, in dem sie klagt: »Schücking hat an mir wie mein ärgster Todfeind gehandelt, ich bin wie zerschlagen; – o Gott, wie weit kann Schriftstellereitelkeit, und die Sucht, Effekt in der Welt zu machen, führen!«

Dies war aber nur die äußere Veranlassung zu dem Bruch. Im Innern waren die Wege schon früher auseinandergegangen und es hatte dies nicht zuletzt seinen Grund in den religiös-freiheitlichen Bahnen, welche Schücking betreten. Annette wußte zwar immer, daß er nicht auf dem festen kirchlichen Boden stand wie sie, aber die Kluft erweiterte sich immer mehr, daß sie nimmer darüber wegsehen konnte. In demselben Briefe klagt sie Schlüter: »Er ist verloren, denn er hat die einzige Stütze fahren lassen, an der wir uns von unsern Fehlern und Schwächen aufrichten können. Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, er schlägt vor der Kirche die Zunge aus, und hier findet keine Entschuldigung statt, höchstens eine: »Herr vergib ihm, er weiß nicht, was er tut.« »Lassen Sie uns für ihn beten,« fügte die Dichterin hinzu, »Christi Blut ist auch für ihn geflossen und Gott hat tausend Wege, die Verirrten zu sich zurückzuführen, oft durch Not und Kummer, und die sehe ich bei Schückings Lust am Glanze und der Unhaltbarkeit seines Talentes voraus ...«

Was das Letztere anbelangt, so hatte Annette darin zu schwarz gesehen. Schücking war von Du Mont die Redakteurstelle an der »Kölnischen Zeitung« angeboten worden, weshalb er seinen Wohnsitz von Augsburg weg in die rheinische Metropole verlegte, wo sich seine Verhältnisse sehr gut gestalteten.

Endlich war Schückings Frau die Klippe, an der diese Freundschaft Schiffbruch gelitten hat. Die beiden Naturen waren zu verschieden, als daß ein Verhältnis hätte zustande kommen können, wie Annette es sich mit der zukünftigen Gattin ihres Freundes geträumt und vorgestellt.

»Sieh her, nicht eine Hand dir nur,
Ich reiche beide dir entgegen,
Zum Leiten auf verlorene Spur,
Zum Liebe spenden und zum Segen;«

Schöner hätte sie nicht ausdrücken können, welche Rolle sie sich zugedacht in dem neuen Leben, das durch die Verheiratung Schückings für ihre Freundschaft begann. Denn, daß letztere nun in eine andere Phase trat, daß sie auch den letzten Winkel im Herzen des Freundes an Luise abtreten mußte, hatte Annette, die so groß von der Heiligkeit der Ehe dachte, doch von Anfang an erkannt.

Sie wollte beiden Freundin, Mutter, Schwester; sie wollte der hehre Schutzgeist dieses Ehebundes sein. Aber Levin und Luise haben es nicht verstanden. Diese konkurrierte mit Annette und stellte sich mit ihr auf eine und dieselbe Stufe geistiger Bedeutung, was Annette, die bei aller Bescheidenheit ihrer hohen Begabung sich vollkommen bewußt war, nicht ertrug. Luisens Talent bestand in der Hauptsache in Weltgewandtheit und Geselligkeit und konnte sich mit der schöpferischen Kraft Annettens niemals messen. Schücking aber fühlte sich vollkommen glücklich und befriedigt an der Seite seiner Gemahlin, welche neben ihren glänzenden gesellschaftlichen Eigenschaften eine gute Hausfrau, ihm eine treue, hingebende Gattin und Mutter seiner Kinder war.

Nicht ausgeschlossen ist, ja sogar sehr wahrscheinlich, daß Annette infolge ihres leidenden Zustandes alle diese Dinge eben in einem zu grellen Lichte sah und beurteilte, wie es bei empfindsamen Naturen, zu denen die Dichterin infolge ihrer psychischen wie physischen Veranlagung gehörte, ja meistens der Fall ist.

Um die Zeit, als Annette nach Meersburg kam, hatte sich der erste Sturm schon gelegt. In dem stillen Schlosse, angesichts der großen Alpenwelt, des Sees, beginnt die Wunde zu vernarben. Annette wird wieder die große Einsame, die sie früher gewesen. Sie steht auf Höhen, wo das Genie immer allein steht, allein stehen muß und zu denen der Weg immer oder doch fast immer durch Leiden und Trübsale führt. Nur mit tiefem Bedauern können wir den Bericht lesen, den die Dichterin im Sommer 1846, wo sie krank in Rüschhaus lag, ihrer Freundin Rüdiger von sich selbst gab: »Sechs- bis siebenmal im Tag Erbrechen, ein erstickender Husten, immer Fieber, kein Schlaf«, schreibt sie. Dabei lebte sie in voller Einsamkeit, immer nur auf den Arzt harrend. Die Mutter, welcher sie ihren Zustand verheimlichte, war nach der Meersburg abgereist. Sie hatte sich noch lange aufrecht erhalten, »dann aber fiel ich zusammen wie ein Taschenmesser,« heißt es in dem Brief und weiter: »ach lieb Lies, da war Rüschhaus gar kein liebes, heimliches Winkelchen mehr! Ich sah den ganzen Tag nur die niedrigen Balken meines Schlafzimmers und außer dreimal im Tage sah keine Seele nach mir, da die Ernte im Gange war und auch die Köchin viel daran half. Von eins bis sieben war das Haus ringsum verschlossen – ich mutterseelenallein darin, fiebernd und würgend. Bedurfte ich etwas Unvorhergesehenes, so mußte ich selbst aus dem Bett klettern und mir selber Rat schaffen oder wenn ich gerade im Fieber lag, geduldig aushalten bis zur Erlöserstunde. Ich habe dies in meinem Eremitenleben sonst auch schon mitgemacht, aber nicht krank. Dann freute ich mich dieser tiefen Einsamkeit, da mir Küche und Keller ja offen standen und ich im Notfall an der steinernen Gartenbank meine Leute sehr leicht anrufen konnte; aber jetzt kam ich mir vor wie ein armer Soldat, der sich auf dem Schlachtfeld verblutet. Freilich war dies meine eigene Schuld, ich hätte ja bloß Jennchen oder Anna zuhause behalten dürfen; aber die Leute sahen alle so eilfertig aus, rannten und schnauften so furchtbar, daß es mir nicht einfiel, jemand dem großen Werk zu entziehen.«

Nehmen wir die oben erwähnten seelischen Erregungen dazu, so werden wir es leicht verstehen und nicht als Übertriebenheit betrachten, wenn Annette sich »Gottes schwer geprüftes Kind« genannt hat.

Aber gerade in dieser Zeit vollzog sich in Annette jene innere Wandlung, das »Stirb und Werde«, wo der Mensch mit seinem Ich aus sich selbst herauswandert, der Aufstieg zu den Höhen, wo die Seele sich ganz versenkt in Gott; wo der Künstler, der Dichter trinkt am Urquell ewiger Schönheit; wo die religiösen Wahrheiten tief erfaßt, wo sie Erlebnisse werden und sich zur höchsten Poesie, zur Gebetspoesie, kristallisieren.

Oft und immer wieder kamen, bei seelischen wie körperlichen Leiden, der Dichterin die Worte in den Sinn, welche ihr blinder Freund Schlüter, zehn Jahre vorher schon, ihr einmal geschrieben und die für jeden beachtenswert sind:

»Zur Landschaft unseres inneren Lebens in der Zeit gehören auch dürre Sandwege, Steingruben und Heidestrecken, nicht bloß der Mannigfaltigkeit wegen, sondern uns zu erinnern, daß wir Nomaden und Pilger sind«, heißt es in dem Brief von 27. März 1835, und weiter schreibt der liebenswürdige, des Augenlichtes beraubte Gelehrte an das »Fräulein«, dem er mehr zutraut als vielen andern und dem er sehr gut ist:

»Viele Schätze sind nur um Leiden zu haben. Ihr Geist, vergessen Sie das nicht, ist zum Teil Frucht und Lohn derselben, obschon, hoffe ich, nicht der größte.«

So hatte denn Annette in mancher Beziehung die Meersburg als eine andere betreten, als da sie vor zwei Jahren von ihr Abschied genommen.

Dichterruhm und Glanz waren niemals bei ihr im Vordergrund gestanden; nun aber erschienen sie ihr mehr und mehr als Schattenbilder.

Die Beziehungen zu ihren literarischen Freunden waren schon durch ihr Leiden, das ihr lange Zeit das Schreiben unmöglich machte, abgebrochen und sie wollte die Fäden auch nicht wieder anspinnen.

Mit Schücking ist sie in keine Verbindung mehr getreten; aber sie hatte ihm von Herzen vergeben und konnte mit Ruhe und ohne Bitterkeit an ihn denken.

Was ihr noch am Herzen lag, waren ihre geistlichen Lieder.

Sie hatte in Münster auf der Durchreise, schon sehr krank sich fühlend, das Manuskript des »Geistlichen Jahres« Schlüter übergeben mit dem Bemerken, daß er daran bessern und ändern dürfe, so viel er wolle, ihm aber das Versprechen abgenommen, es erst nach ihrem Tode drucken zu lassen.

Nun erbat sie sich das Manuskript wieder von dem Freunde und ließ es nach Meersburg kommen, um es noch einmal einer Durcharbeit zu unterziehen.

Sie feilte und besserte und änderte und dichtete Neues hinzu, den Blick schon nach der ewigen Heimat gerichtet.

Während sie über diesen wundervollen, einzigartigen Liedern saß, wie sie kein Dichter vor ihr gesungen noch einer nach ihr singen wird, fingen die Stürme der Revolution an durch das Land zu toben und schlugen auch an Annettens stille Dichterklause.

Von einem Revolutionär aus Konstanz wurde vor dem Rathaus in Meersburg die Republik proklamiert. Die Freischärler drangen ins Alte Schloß ein und forderten Waffen von dem Freiherrn, der sie ihnen aber verweigerte. Laßberg bewahrte seinen unerschütterlichen Gleichmut, während die Frauen sich ängstigten und Annette besonders sehr schwarz in die Zukunft sah. Diese sollte sie aber nicht mehr berühren; ihre Lebensuhr war abgelaufen.


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