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Heimliche Geschichte

Hans Eichhorn, ein philosophischer Kopf, ging vor der Schlehdornhecke seines Landsitzes Belfried auf und ab. Die eben noch durchsichtige, fast nordische Abenddämmerung eines hellen Julitages hatte sich verdüstert. Rings über den Berghalden, die den selbst hochgelegenen Landsitz im Kreis umgaben, ließen sich graue Wolkenvorhänge herab, die Belfried und die umliegenden Täler wie einen Stern für sich gegen das Weltall abgrenzten. Hans Eichhorn blieb unter einer Linde stehen, aus der Duftströme auf die Wiesen quollen und deren Krone wie die Memnonsäule einen tausendfachen Klang vernehmen ließ: eine Welt von Bienen und Brachkäfern durchsummte erregt die süßen Blütenpfade in dem schwarzen Blätterdickicht. »Welten überall,« dachte Hans Eichhorn, während er lauschte und voll Lust atmete, »und doch: was veranlaßt mich zu glauben, daß jenseits der Berge und Wolkenvorhänge die Welt noch lebt, wie ich sie zum letztenmal sah oder – wer weiß? – vielleicht nur träumte: die Erde, grünes deutsches Hügelland, wimmelnde Städte, der Rhein, Paris, das Weltmeer? Was ist überhaupt Wirklichkeit? Was besitze ich so gewiß, daß es mir nicht unter den Händen zerrinnt? Alles, was ich hier gewahre, liebe, ist nur die Kräftespannung eines Augenblicks, eine bunte Perlenkette, deren Faden jeden Augenblick reißen kann, so daß die Perlen in alle Himmelsgegenden zerstäuben. Nichts ist wirklich, nichts ist mein.« Wie erschreckt drehte er sich auf dem Absatz herum und blickte auf sein weiß zwischen den Kastanienbäumen des Gartens leuchtendes Haus, als müsse er sich von dessen Dasein überzeugen, und dann eilte er, beseligt von der noch immer greifbaren Welt, nach dem Gartenpförtchen, betrachtete dankbar das rauhe, noch tagwarme Holz und trat ein. Er ging über den weichen, wildgelassenen Rasen; ein zahmes Reh, das er hielt, huschte geheimnisvoll an ihm vorbei, streifte ihn sacht. In dem Dachgebälk der Laube hatte sich ein Vogel verfangen. Seine Flügel schlugen unruhig ans Holz. Hans Eichhorn öffnete die Haustür; ganz leise zitterte die Klingel. Er schauerte zusammen unter dem ihm aus vielen Wintern und Sommern wohlbekannten heimischen Klang, dann sprang er fast lautlos die dunkle Treppe hinauf und schlich ins Schlafzimmer. Beim bläulichen Schimmer eines Nachtlichts sah er, daß seine Frau schon schlief. Leise, aber innerlich frohlockend über das wiedergefundene Dasein, über sein, noch junges, volles Leben entkleidete er sich und warf sich ins Bett. Einige Augenblicke beobachtete er die regelmäßig neben ihm atmende Frau, dann küßte er vorsichtig, um sie nicht zu wecken, aber voll Überschwenglichkeit ihre Hand und schlief ein.

Als er erwachte, waren die Vorhänge der Schlafzimmerfenster weit geöffnet, ein trüber Tag schien herein. Daß seine Frau nicht mehr neben ihm lag, wunderte ihn nicht. Sie war eine Frühaufsteherin. Aber daß ihr Bett bereits gemacht war, erstaunte ihn. Hatte er so fest geschlafen, daß er die Geräusche der Magd nicht gehört? Außerdem war das gegen die Hausgewohnheiten. Er kleidete sich träge an, etwas verstimmt darüber, daß die lange Reihe sonniger Tage nun beendet schien. Als er durch das Vorhaus ging, fiel ihm die Stille auf. Im Garten vermißte er das Reh, das dort bei Sonne und Regen zu grasen pflegte. Der Hof, den sonst sieben phantastische Perlhühner belebten, war wie ausgestorben. Wie eine morgenländische Gesandtschaft pflegten die schmucken, etwas geziert wirkenden Tiere, stets in einer Gruppe zusammengedrängt, feierlich umherzuziehen. Jetzt lagen nur noch ein paar weißgetupfte, braune und graue Federn auf dem reingescheuerten Ziegelpflaster. In der Küche befand sich kein Mensch, alles war musterhaft aufgeräumt, wie vor einer Abreise. In der Fensterlaibung standen ein paar bescheidene Feldblümchen in einem Schnapsglas, als einzige Erinnerung an eine junge blonde Magd, die sonst hier flink zwischen den Geschirren zu schalten pflegte. Kopfschüttelnd betrat Hans Eichhorn das Eßzimmer. Dort stand wie immer in der getäfelten Ecke unter einem hängenden Geweih der Frühstückstisch. Während er sich den noch ganz heißen Tee eingoß, gewahrte er neben der Tasse ein vergilbtes, am Rand etwas zerfetztes Blatt. Es sah aus, wie aus einem alten Buch gerissen, und war etwas stockfleckig. In der Mitte stand, zusammengedrängt wie ein Bibelvers: »Fürchte Dich nicht, Du bist der letzte Mensch; die Übel sind vorüber. Weiter wird Dir nichts geschehen. Leben und Gesundheit, Deine geistigen und körperlichen Kräfte sind geschützt. Dreimal täglich wirst Du auf diesem Tisch die gewohnte Mahlzeit vorfinden. Die Ordnung im Haus vollzieht sich von selbst. Die Verwitterung des Stoffes ist, wenn auch nicht aufgehoben, so doch derart gehemmt, daß Du sie kaum spüren wirst. Klage also nicht!« Hans Eichhorn las und las wieder, ohne zu verstehen. Wie war dieses rätselhafte Blatt hierhergekommen? In zitternder Unruhe durchsuchte er das leere Haus bis zum Speicher. Als er in den verlassenen Garten trat, fiel ein erster Sonnenstrahl durch das lastende Gewölk. Er rief laut »Irene«, den Namen seiner Frau. In der Laube lagen ein paar Bücher, in denen sie noch gestern in den heißen Nachmittagstunden gelesen hatte. Er rief ihren Namen in den Gemüsegarten, wo er oft ihr Sommerkleid zwischen den Bohnenhecken und Sonnenblumenwänden mit den Blicken verfolgt hatte. Kein Laut war vernehmbar, als das Gesumm der dem Menschen fremden Insektenvölker und das Zwitschern von Vögeln. Sonst hatte man bisweilen einen Hund aus dem Tal heraufbellen, beim Nachbar eine Gais meckern oder ein Pferd wiehern hören. Nicht nur die Menschen, auch die Tiere schienen verschwunden zu sein. Hans Eichhorn eilte hinaus. An dem Berghang lagen ein paar Hütten, vor denen sonst barfüßige, flachshaarige Kinder in der Wiese spielten, während die Weiber in rotbraunem Kopftuch herumwirtschafteten. Auch hier war alles still, jede Tür fest verschlossen. Hans Eichhorn klopfte an einem der Häuser an. »Lechnerin, Lechnerin!« rief er laut einer der Häuslerfrauen, aber er erhielt keine Antwort. Inzwischen hatte stechender Sonnenschein die Wolken zerteilt. Hans trat an ein Fenster und sah hinter den Geranien in die saubere Stube mit dem hohen Bauernbett und dem Kochherd. Alles war aufgeräumt, aber kein Mensch zu sehen. Verzweifelt sank er auf die von Kletterrosen überlaubte Holzbank vor dem Häuschen und lauschte in das Tal. Aus dem nächsten Dörfchen, von dem ein Teil mit dem weißen Kirchturm unverdeckt war durch die gegenüberliegende Berglehne, hörte man keines der gewohnten Geräusche, keinen Hahn, keine Glocke, keinen Pfiff der Eisenbahn. Hans nahm das geheimnisvolle Blatt aus der Tasche und las es noch einmal: »Fürchte Dich nicht, die Übel sind vorüber ...« Das hieß also, daß er als letzter Mensch nun ungestört in der leeren Welt walten und schalten könnte. Menschenleer! Welch ein unfaßbarer Begriff! Jenseits einer grünen Mulde lag der Hof des Unterbauern. Wie es wohl bei dem aussah? Hans eilte über den Wiesenpfad, sprang über einen Bach und kam zu dem stattlichen Hof. Wie immer waren dort Tongefäße und Gießkannen auf die Pfähle des Zauns gestülpt. Ein heller, bösartig stechender Sonnenschein fiel auf die grellen Bauernblumen, spiegelte sich in der vergoldeten Kugel mitten im Garten, dem Stolz des etwas großspurigen Unterbauern. Aber weder er war da, noch seine Familie, noch das Gesinde. Alles Rufen vergeblich. Das Tor war fest verschlossen. Hans Eichhorn brach der Schweiß aus allen Poren. Um hinunter in das Dorf zu eilen, war er schon zu abgespannt. Auch konnte er sich schon denken, wie es da aussah. Es war ganz klar, es gab keine Menschen mehr, außer ihm, sonst aber war die Welt unversehrt und zu seiner Verfügung, so wie der Garten Eden Adam und Eva gehörte. »Eva«, der Name des ersten Weibes ließ ihn erschauern, ihn, den letzten Mann, und von plötzlichem Schluchzen geschüttelt warf er sich ins Gras und dachte an Irene. Wo war die? Mit ihr wäre ihm die ganze menschenleere Welt nicht zu weit gewesen. Aber so? Gab es nicht doch noch eine Beziehung zu ihr? Wer weiß, welche Wunder sich noch erfüllen sollten! Vielleicht fand sich ein Mittel, sie wieder in die Wirklichkeit zu rufen. Da gewahrte er, daß eine menschliche Gestalt vor ihm stand. Er wollte aufspringen und dem Wesen um den Hals fallen, aber es war eine Vogelscheuche mit einem verschabten alten Jägerhut, die der Unterbauer auf seinem Kartoffelacker aufgestellt hatte. Erschreckt und wie gedemütigt taumelte Hans ins Gras zurück. Er dachte an seine Gedanken von gestern abend. Was ist Wirklichkeit? Nichts ist ganz wirklich, und alles ist möglich. Lauschen, aufmerksam hinhören auf alle Stimmen der verzauberten Welt! Das galt es nun. Vielleicht, vielleicht würde der hingegeben Gläubige rettende Stimmen vernehmen! Hans war plötzlich, als ob diese in ihm auftauchenden Gedanken rings in der Natur mit einem Widerhall beantwortet würden. Düfte, Summen, Leuchten drang auf ihn ein; beseligt rief er »Irene«, und wenn er sie auch nicht sah, ihm wurde auf einmal Gewißheit, daß sie noch in dieser Welt war.

Stundenlang mochte er so gelegen haben. Die Sonne stand gerade über ihm. Er fühlte Hunger, und da packte ihn eine ganz gemeine Neugier, ob die Worte des Blattes, das die drei gewohnten täglichen Mahlzeiten verhieß, sich erfüllen würden. Er eilte heim. Im Eßzimmer stand unter dem Hirschgeweih der vertraute, dampfende Suppentopf. Hans ließ es sich schmecken. Mit einem gewissen überlegenen Humor fand er sich in seine Lage. Ohne daß er sich's versah, stand Fleisch und Gemüse vor ihm, dann ein Teller mit Himbeeren, von denen jener heiße Sommer eine Überfülle bot. Nach Tisch erhob sich Hans; nachdem er ein paar Töne auf dem Klavier angeschlagen, wendete er sich wieder nach dem Zimmer. Der Tisch war abgeräumt. Seine ihm so teure tägliche Ordnung schien in nichts gestört. Er ging, wie jeden Tag, hinaus in die Laube, um dort der Mittagsruhe zu pflegen. Die Bücher Irenes trieben ihm wieder die Tränen in die Augen. Er versuchte darin zu lesen. Es waren Romane. Aber was war das? Welcher Unsinn! Konnte man denn noch Romane lesen, wo es keine Menschen mehr gab? Was hatte es für einen Sinn, jetzt noch den Erlebnissen irgendeines Eduard und einer Marie zu folgen? Es gab ja nur noch Wiesen und Wälder, Himmel und Sonne und Wolken. Mit ihnen mußte man nun leben, ihre Schicksale teilen. Hans erschauerte einen Augenblick. Es hielt ihn nicht länger in der Laube. Er eilte davon zu dem nahen Wald.

Am Rain lief ein heißer, buntbegraster Weg, an dessen Seite schon erstes Grummet trocknete. Wo waren die Hände, die es vor einigen Tagen gemäht hatten? Würden sie wiederkommen und es einbringen? Aus der unerträglich werdenden Schwüle trat Hans in dunkeln, feuchten Wald, einer halb verzweifelten, halb beglückten Hoffnung hingegeben, dort durch keine Menschenspuren an das Verlorene erinnert zu werden, zum erstenmal ganz ungestört durch Menschliches den Stimmen der Natur zu lauschen. Ein kühler Anhauch stieg aus der schwarzen, von einem Bach durchflossen Erde, die fettes Grün von Farn, Nesseln, Huflattich und Sauerklee üppig hervorsprießen ließ. Die dunkeln Stämme waren wie vollgesogen von Feuchtigkeit. Wie fern war alles schwüle Menschenleben! Hans fühlte sich schon von einem Urhauch umweht; da sah er auf einem Stamm ein rotes kreisförmiges Mal, daneben einen grellgelben Tupfen und ein himmelblaues Dreieck. Es waren die ihm wohlbekannten und verständlichen Wegzeichen des »Vereins der Wanderfreunde«; da gewahrte er auch, daß der grüne Weg die Furchen von Bauernwagen zeigte und teils von sorgsam geschichteten Tannenstämmen künstlich gestützt war. In einzelnen Bäumen waren Buchstaben und Herzen eingeschnitten; noch ganz frisch leuchtete das rosa Fleisch einer jungen Birke durch die weiße seidige Rinde. Hans krampfte sich das Herz zusammen, und sein Geist verfluchte alle Erinnerungen, die in diesem Augenblick wirklicher zu sein beanspruchten, als die sichtbare, hörbare, riechbare Welt um ihn. Nein, er wollte vergessen, nur mit dem sonnedurchzitterten Buchenlaub und dem schwarzen Tannengelock leben, aber da gemahnten ihn die rötlichen Sonnenkringel, die sich am Boden malten, an die Lichtschimmer, die durch bunte Fenster auf die Steinfliesen von menschenerbauten Domen fielen in geliebten alten Städten. Er trat in ein bemoostes Felsenviereck, an dessen Wänden Schlinggewächse mit blauen und gelben Blüten emporkletterten. »Dies ist das Heiligtum«, sagte etwas in ihm. Hier wollte er verweilen, in diese unentweihte Stille nun täglich pilgern. Hier würde er Stimmen vernehmen, die ihn lehrten, ohne Menschen zu sein. Trotz der reinen Kühle des feuchtigkeitgesättigten Waldes, in dem selbst der Sonnenschein wie perlende Flüssigkeit wirkte, fühlte Hans noch fiebernde Unruhe in sich. Es stach ihn etwas am Fuß. Er zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte die heißen Füße in den Waldbach. Das beruhigte. Er saß am Ufer, und ihm war, als ob der Schlammboden des Baches seinen Gliedern etwas von der Ruhe und Unerbittlichkeit der Natur mitteilte. Kaum konnte er die Füße auf dem Boden des schnell strömenden Wildwassers festhalten, aber diese Anstrengung und das lange Blicken auf den flirrenden Spiegel nahmen ihn so sehr in Anspruch, daß er an nichts mehr dachte und seine Seele ganz ruhig und frei wurde. Als er den Kopf wieder erhob, sah er zwischen den Felsen durch in das schimmernde Waldinnere. Da fiel ihm auf, daß die Bäume nicht regellos durcheinander standen, sondern immer in Gruppen von zwei und drei; oft wuchsen zwei aus demselben Stamm hervor und gabelten sich wie eine schlanke Leier. Da war auf einmal wieder alle seine Sammlung jenseits der Menschennöte dahin, und unwillkürlich flüsterte er: »Irene.« Und nun erinnerte plötzlich alles an sie. Einige Stämme waren zerbrochen, die Kronen schleiften am Boden, zweifellos die Folgen eines abendlichen Gewittersturmes, der vor wenigen Tagen die Gegend heimgesucht hatte. Er war während jener Stunde der aufgerührten Natur mit Irene in der Laube seines Gartens gewesen. Das Dach schützte sie gegen Regen, eine große Reisedecke, in der sie sich zusammengeschmiegt, gegen den Wind, und so beobachteten sie aus sicherem Versteck, wie sich die Baumkronen beugten und dazwischen senkrechte Blitze gleich umgekehrten Raketen herabfuhren. Ein paarmal schlug der Donner tosend in der Umgegend ein, und dann sah man eine Feuersäule jenseits auf einer Hügelhalde aufsteigen. Das Reh aber, so ängstlich vor Menschenlärm, graste unbeirrt zu ihren Füßen in der regendurchpeitschten Dämmerung.

Hans zog, von dieser Erinnerung traurig, die Füße aus dem Bach und während er Schuhe und Strümpfe wieder anzog, dachte er in kindlicher Verdrossenheit: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Verzweifelt ging er weiter und seine Beobachtung klammerte sich ratlos an jede Kleinigkeit. Auf dem Waldpfad lagen Scherben eines Mineralwasserkrugs und schließlich stand mitten im Weg ein alter Schuh. Hans verweilte sinnend lange davor und stocherte mit dem Stock in diesem verwitterten Andenken an verschwundenes Menschendasein. Dann gewahrte er weißbraune Pilze. Gewohnheitsgemäß riß er sie aus und stellte fest, daß sie eßbar waren. Sonst pflegte er gern von seinen Waldspaziergängen Irene Pilze zum Abendessen mitzubringen; aber heute warf er sie mißmutig weg; seine drei Mahlzeiten waren ihm ja gesichert, pünktlich wuchsen sie aus dem Holz des Tisches in der Eßzimmerecke unter dem Geweih.

Der Waldweg stieg etwas an. Von einer sonnigen Wiese her drang Hitze durch die Bäume. Der Bach war verschwunden, mit ihm die feuchtschwarze Erde. Aus dem trockenen Boden voll gelben Laubes starrten von grauem Moos bedeckte Stämme. Eine welke, heiße Luft verbreitete sich. Hans setzte sich zwischen ein paar dünnen Tannen nieder und schaute einem Ameisenkrieg in der hellen bröckelnden Erde zu. Es packte ihn eine Wut gegen die Überzahl der nackten roten Ameisen, die in den Bau der viel größeren, langsameren schwarzen Ameisen eingedrungen waren und diese mit einer erbarmungslosen Gründlichkeit vernichteten, deren Geheimnis immer die gemeine Masse gegen die edle Minderheit besitzt. Hans vertiefte sich in diesen ihm gewohnten Gedankengang, sann über Weltentwicklung, ja über Politik und wurde erst durch das Geschrei eines Hähers aufgeschreckt; ihm war, als verhöhne ihn der Vogel, ihn, der in der menschenleeren Welt noch über derartige, nun endgültig erledigte Fragen nachsann und sich dabei sogar erregte.

Hans ging einige Schritte weiter und kam nach einem Försterhaus, wo er oft auf seinen Waldgängen ein Glas frischer Milch getrunken hatte. Es erstaunte ihn nicht weiter, daß auch hier keine Menschenseele zu finden und die Tür des Holzhauses fest verschlossen war. Noch standen dort die alten Gartenmöbel aus Holz und Eisen. Oh, sie würden noch lange halten, dachte Hans mit Selbstverhöhnung, die Verwitterung des Stoffes sollte ja verlangsamt werden. Er setzte sich nieder und genoß den geliebten Blick hinab in die weite Flußebene mit einer burg- und domgeschmückten Stadt und dahinter einem hohen sanftgeformten blauen Gebirg. Das Försterhaus war sonst ein Ausflugsziel für die Besucher jener blühenden Stadt gewesen. An Freitag-Nachmittagen – heute war gerade Freitag – pflegten ein Herr Rat, ein Herr Rendant sowie Seine Hochwürden zusammen heraufzukommen. Hans hatte sich oft über ihre treuherzigen harmlosen Gespräche gefreut, die stets in der Feststellung gipfelten, daß die Zeiten schwer sind. Wo waren jetzt der Rat, der Rendant und Seine Hochwürden? Ein Schauer erfaßte Hans, als er sich die menschenleere Stadt vorstellte, er beschloß, den etwa zweistündigen Weg nicht zu scheuen, und ging in das Tal hinab. Silberblaue Haferfelder erstreckten sich längs des Weges. Der rote Roggen lag halb gemäht in der Nachmittagssonne. Neben den schweren, gebeugten Halmen standen schon Garben, in Mandeln gehäuft. Hans betrat die öde Vorstadt. Da erstreckte sich unter der Sonnenglut ein leerer Kasernenhof, wo noch vor wenig Tagen kurze Kommandorufe die Mannschaften in Drillichröcken in abgezirkelte Bewegung gebracht hatten. Jedenfalls war jetzt die Frage Weltfriede oder Kriege zugunsten des Friedens entschieden. Aus der Kaspelreiterschen Brauerei drang säuerliche Feuchtigkeit. Der schattige Wirtsgarten mit den langen Holzbänken war leer. Sogar das Storchennest auf dem Schornstein, das Hans nie verfehlt hatte, beim Vorübergehen liebevoll zu beobachten, war verlassen. Im Schuppen standen Wagen in allen Formen, bäuerliche und städtische, geflochtene und lackierte; über alle diese Fuhrwerke hätte Hans verfügen können, aber die Pferde waren fort. Ein gelber Kraftomnibus frommte ihm ebensowenig, denn er verstand nicht damit umzugehen.

Die nachmittägliche Julihitze brannte auf die staubigen Stadtstraßen. Die Obststände waren verlassen, wo es sonst unter Leinwandzelten bunt geglüht und heiß gesummt hatte. Hans flüchtete sich unter die kühlen Steinlauben, die schwarz und leer längs der weißen Häuser hinliefen. Verödet lagen die blanken Gasthausküchen. Wo waren die vielen weißen Arme, die sich hier sonst zwischen bewegtem Geschirr schwangen? Er erreichte die alte Steinbrücke mit dem schwerfälligen Standbild eines selbst tief bedrückten und doch hilfreichen heiligen Johannes von Nepomuk. Hans blickte in die grünlichgraue Flut des starken Stroms, der sich an den Brückenpfeilern brach. Am Ufer stand aus weißem Holz die Schwimmanstalt, das Paradies glühender Sommernachmittage. Nur etwas zu voll war es dort manchmal für Hansens Geschmack gewesen; bekanntlich genügt ja ein halbes Dutzend wilder Buben, um eine Riesenschwimmanstalt für beschauliche Menschen unbenutzbar zu machen, die gleich Schwänen die Flut durchfurchen möchten. Heute war dort gewiß volles Schwanenglück möglich. Hans ging hinunter. Mit einem Fußtritt bewältigte er die verschlossene Tür. Der ihm wohlbekannte angenehme Geruch von sonnebeschienenem Holz und Teer empfing ihn, als er über das weite, leere Becken blickte, das von vielen Ankleidehüttchen umgeben war. Heute mußte er nicht ungeduldig warten, bis eines frei würde, auch brauchte man es nicht erst auszulüften, daß der Menschengeruch wich. Hans entkleidete sich und ging über den schwankenden, laut dröhnenden Bretterboden. Aus einer bewußten Ecke der Anstalt drang vertrockneter, heißer Gestank. Ungestört durch allzu wilde Buben und durch eine allzu strenge Sittenpolizei konnte er sich ohne Badehose in die starke Strömung werfen, gegen die er mit den Armen ankämpfte. Er schwamm an dem Holzspalt vorbei, durch den man in die Damenabteilung spähen konnte. Dieser Spalt hatte schon zu Hansens Schulzeit bestanden und war, hochberühmt bei allen Buben, stets von den älteren den jüngeren Geschlechtern gezeigt worden, die ihre dünnen Ärmchen und Rücken dort vorüberschoben und durchzublicken suchten, weil es forsch und verboten war, indessen ohne noch recht den Reiz dieses Spiels zu verstehen. Aber die Älteren drangen nun einmal in männlicher Geschlossenheit gegen »die Weiber« darauf, daß kein Auge keusch blieb. Hans konnte sich's nicht versagen, heute einen wehmütigen Blick durch den Spalt zu werfen, durch den er früher manches in sonnigen Tropfen glitzerndes Wassernixchen in bunter Bademütze und mit flatternden Achselhärchen beobachtet hatte. Er schwamm weiter. An der Querwand der Anstalt hing ein schräger Spiegel, in dem der Schwimmer sein Bild wahrnehmen konnte. Oft war Hans dies aufgefallen, aber heute schauerte er, als er das Bild des letzten Menschen sah, dessen Arme die Flut zerteilten.

Nach dem Bad ging er den Fluß entlang bei den alten Patrizierhäusern in sanft welligen Barockformen. Beim Notar, dem Medizinalrat, dem Bürgermeister – überall dasselbe Schweigen. Die grünen Läden waren geschlossen wie bei einer langen Abwesenheit, die Gärten mit ihren bunten Zelten und Korbmöbeln standen leer. Nur die Insekten summten in den Obstbäumen. Hans ging durch die engen schattigen Gassen. Auf dem Markt befand sich ein Kaffeehaus, das er bisweilen besuchte, um Zeitungen zu lesen. Die Tür war zu fest, um sie ohne weiteres zu durchstoßen; an die großen Scheiben aber traute er sich nicht. Er drückte die Stirn an das Glas und erkannte die Tische und Stühle im dämmrigen Raum. Auf dem vordersten Marmortisch lag noch eine große in Holz eingespannte Zeitung, ein gestriges Abendblatt. Er kannte seinen Inhalt nicht, da er Abendblätter auf seinem Landsitz erst am nächsten Morgen zu erhalten pflegte. Heute war begreiflicherweise keine Post gekommen. Jenes letzte Abendblatt der Menschheit mußte eine wichtige Entscheidung darüber enthalten, ob zwei Staaten im Osten miteinander Krieg führen oder sich friedlich einigen würden. Mit gespanntester Neugier hatte Hans bis gestern die Entwicklung der Ereignisse verfolgt, und – so unwichtig dies nun alles geworden war – Hans hätte doch gern wie bei einer fremden Schachpartie, deren Anfang er verfolgt hatte, auch den Ausgang gewußt. Es war ihm aber unmöglich, durch das Fenster den kleinen Druck zu lesen. Er ging weiter und blieb an den Geschäften stehen, die ihre alten Auslagen zeigten. »Das alles ist nun mein,« dachte Hans, aber er wußte nicht, was er hätte entnehmen sollen. Selbst in der Buchhandlung sah er nichts, was er gerade brauchen konnte. Halt! In einem Notengeschäft lag ganz vorne die prachtvolle soeben erschienene Neuausgabe eines italienischen Tonsetzers aus dem 18. Jahrhundert. Für solche Musik besaß Hans eine besondere Vorliebe, doch war ihm jene Luxus-Ausgabe bisher zu teuer gewesen. Schnell entschlossen suchte er einen Stein, warf ihn nach der Scheibe, die in tausend Scherben zerbrach. Nun brach er in der Auslage ein und bemächtigte sich des Bandes. (Auch juristisch gehörte er ja ihm, denn da letzten Endes alle Menschen verwandt sind, war er der Erbe der ganzen Menschheit; als einziger Überlebender stellte er zugleich die Allgemeinheit dar, ja er war sogar der Fiskus, falls der Erbansprüche haben sollte.) Hans drang in die Handlung, in deren dämmrigem Hinterzimmer der Besitzer eine kleine Sammlung alter sonderbar geformter Instrumente angelegt hatte. Sie war Hans wohl bekannt. Einen Augenblick schwankte er, ob er eine alte Geige mitnehmen sollte, aber er hatte noch einen langen Heimweg. Was bedeutete all der Reichtum, wenn es keine Gelegenheit gab, ihn dahin schleppen zu lassen, wo man ihn brauchte! So begnügte sich Hans mit dem Notenband, der ihn schwer genug dünkte. Er ging weiter. Vor der Auslage eines Juwelierladens dachte er an Irene. Wie reich hätte er sie jetzt beschenken können!

Die bläulichen Schatten des Spätnachmittags fielen in die Gassen und gemahnten Hans an den Heimweg. Der kürzeste Weg führte ihn durch ein sanft ansteigendes Wiesental zwischen Hängen hinauf. Der Anfang des Tals war noch von den letzten Giebelhäusern einer Vorstadt erfüllt, den ältesten Gebäuden der Stadt, die von zweideutigem, diebischem Gesindel bewohnt gewesen waren. Diese Verstoßenen lebten von Waschen, Gerben und Färben. Der Bach war daher dauernd milchig-trüb; scharfe Gerüche beizten die Luft. Auch jetzt war diese Unsauberkeit noch nicht verschwunden. Viele hölzerne Häuschen waren in Niederungen unterhalb der Straße zwischen allerlei Grün verkrochen. In zerbrochenen Töpfen gewährten ein paar kümmerliche Pflanzen ein bißchen Schönheit, die hier nicht recht gedeihen wollte. Einige zweideutige Buden befanden sich an den Ecken. Dort gab es allerlei schmierige Waren in giftigen Farben, minderwertige Süßigkeiten zum Lutschen, und wohl auch Fusel. Offene Aborte aus Holz standen in den verwahrlosten Gärten zwischen Kohlpflanzungen. An den Zäunen hingen stinkende Häute neben Weiberwäsche in grellen Farben. Auffallend waren auch die vielen zerbrochenen Nachttöpfe, die überall herumlagen. In den Büschen an der Hügelwand – ein Dorn im Auge des geistlichen Herrn – pflegten sich nachts die Töchter dieser Gerber und Färber, die tags wuschen, den Burschen der umliegenden Bauerngemeinden gegen Münze preiszugeben. Diese ganze Vorstadt war in ihrer Menschenleere besonders grauenhaft. Nun schien alles früher halb Verborgene, Gemeine, was ihre Bewohner seit undenklichen Zeiten geübt hatten, offen zu liegen. Fest verschlossen – wie grollend – kauerte die kleine Kapelle am Ende der Vorstadt, dann begann unentweihtes Wiesenland. In diese Kapelle hatten die Bewohner ihre schmutzigen Sünden getragen, vielleicht dort ihre Lieblingsheiligen um Förderung ihrer dunklen Pläne angefleht. Hans war oft hier gegangen und hatte diese Welt als eine Merkwürdigkeit beobachtet. Heute, wo doch das Schlimmste in ihr, die Menschen fehlten, ertrug er dieses versteinerte Entsetzen nicht. Er atmete auf, als ihn wieder reine Wiesenluft umfing. Bald befand er sich oben auf der Landstraße. Dort stand ein altes Muttergottesbild. Vor ihm kauerten sonst in der Dämmerung die Bauernweiber, zündeten Kerzen an und murmelten unaufhörlich Gebete. Den Alten und Bresthaften wurden kleine Hocksitze hingestellt. Die heilige Jungfrau schien ihren unsichtbaren Mantel durch die trostreichen Abende zu breiten über alles im dämmernden Land, was hilfsbedürftig war. Hans stand lange stumm vor dem Muttergottesbild. »Was ist ein Gott in Menschengestalt,« dachte er, »wenn es nur noch einen Menschen auf der Erde gibt, der obendrein unglücklicherweise ein Philosoph ist?«

In der Dunkelheit kam Hans nach Hause. Es hatte fast etwas Aufreizendes, daß der Eßtisch pünktlich die Abendmahlzeit in der gewohnten Weise von sich gab. Hans warf unwillig den schweren Notenband auf die Tischplatte, so daß die gezauberte Mahlzeit klirrte. Er aß traurig. Dann legte er sich zu Bett, wie zerschlagen von seinem langen Gang.

Am nächsten Morgen weckte ihn das Rauschen eines der erbarmungslosen Regen, die in der Gegend viele Tage zu dauern pflegten. Der Sommer, der noch gestern durch offene Türen und Fenster blau und golden in das Haus gezogen war, schien wie ein Prinz Karneval vertrieben. Hans setzte sich im Eßzimmer neben den Kachelofen und starrte auf den einsamen, pünktlich gedeckten Eßtisch in der Ecke gegenüber. Sonst war ihm solche Aschermittwochstimmung mitten im Sommer, wenn sie nicht zu lange dauerte, zur Abwechslung ganz recht. Sie fesselte ihn mehr an das Behagen des Hauses, an die Bücher, an den Schreibtisch, das Klavier und vor allem an Irene, der nur in ihren vier Wänden wohl wurde, die nur dort ganz sie selbst war und ihre stille Holdheit zu entfalten vermochte. In der Natur konnte Hans ihrer bisweilen auf Stunden vergessen, aber das Haus ohne sie war ein Gefängnis. Hans saß fast den ganzen Tag wie erstarrt in seiner Ecke neben dem kalten Kachelofen. In der Dämmerung ging er durch den Vorraum und öffnete Irenes Schränke. Er wühlte den Kopf in ihre Kleider und umfaßte sie, ihre entschwundene Form, ihren zarten Duft suchend. Tagelang schlich er müßig im Haus umher; manchmal flüchtete er in die Laube, der Regen rann unaufhörlich ins Gras. Als die Dunkelheit eintrat, entzündete sich von selbst die Lampe im Eßzimmer. Hans ging hinein und setzte sich zu seiner trüben Mahlzeit. Schon überlegte er eines Abends, ob noch genug von dem Schlafmittel da war, das Irene vorigen Winter während einer Krankheit hatte einnehmen müssen. Ein paar Pulver genügten wohl für den ewigen Schlaf. Da gewahrte Hans neben seinem Teller wieder ein vergilbtes Blatt, wie vor einigen Tagen. Hastig griff er danach und las erstaunt: »Fünf Worte sind erlaubt.« Plötzlich fiel die Einsamkeit wie ein Mantel von ihm ab. Also man kümmerte sich um ihn, man wollte ihn sogar zu Wort kommen lassen? Eine ungewohnte Lustigkeit schüttelte ihn plötzlich, er sprang auf, pfiff und tanzte: »Fünf Worte! Offenbar darf ich etwas wünschen! Es gilt nur, diesen fünf Worten wie einer Zauberformel den mächtigsten Inhalt zu geben.« Er dachte an die einfältigen Wünsche im Märchen, deren Erfüllung schließlich dem Wünschenden so unerträglich wurde, daß er sie wieder wegwünschen mußte. Nein, er, Hans Eichhorn, wollte klüger wünschen. Sinnend und beglückt durchmaß er das Zimmer. Im Büfett stand noch eine angebrochene Flasche Burgunder. Hans begann zu trinken, um seine Gedanken zu beflügeln. Halt, dachte er, ich werde noch gar nicht gleich wünschen. Der Zustand, noch alles vor sich zu haben, über das ganze Leben zu verfügen, ist zu schön. Alle Wünsche seiner Jugend tauchten auf: Weite Reisen, stärker als alle sein, Ruhm, zuzeiten auch Reichtum. Nein, nein, das alles galt ihm, dem Gereiften und vom Glück Gesegneten, heute nicht mehr viel. Er setzte sich an das Klavier und stellte die Flasche mit dem Glas neben sich. Wie an den schönsten Winterabenden, die er mit der lauschenden Irene verbracht hatte, begann er zu phantasieren und dazwischen bisweilen einen Schluck Burgunder zu trinken. Seine Kraft bestand hauptsächlich darin, Volkslieder aus allen Teilen der Erde auf dem Klavier wiederzugeben. Von vielen wußte er auch die Worte, und oft fiel seine Baßstimme singend ein. In solchen Stunden pflegte er das Leben am tiefsten zu fühlen, und wenn er dann aufsprang und sein ebenso hingerissenes Weib in den Arm nahm, dann verlangte sich ihre Liebe und sie fühlten sie wieder, wie sie tief und süß aus den alten Liedern klang. Dann dachte Hans oft des Lutherschen Spruches: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.« Auch heute ging ihm der wieder durch den Kopf. Er sprang auf, Irene war nicht da; aber da lag doch das alte Blatt, das von ihm fünf Worte verlangte. Schnell entschlossen schrieb er darauf: »Gebt Wein, Weib und Gesang.« In diesem Augenblick wuchsen einige verstaubte dicke Burgunder Flaschen und einige schlanke Rheinweinflaschen aus der Tischplatte; von der Decke herab aber tönte reich wie aus der Kuppel von Sankt Peter der Chor: »Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium.« Die Lampe verlöschte. Hans fühlte ein paar Lippen auf den seinen und weiche Arme, die sich um seinen Hals schlangen. Die Nacht ging wortlos hin unter Trinken, Küssen und Gesang. Gegen Morgen flüsterte eine Stimme: »Ich komme wieder, wenn es dunkel wird.« Dann war Hans allein. Die erste Frühdämmerung drang durch die Fenster. Hans war unfähig, über irgend etwas nachzudenken. Trunken ging er durch das dämmernde Vorhaus und tastete sich in sein Bett, wo er sofort in schweren Schlaf verfiel.

Spät erwachte er und gleich wiederholte sich in ihm das Wort: »Ich komme wieder, wenn es dunkel wird.« Er stand auf. Er sah weder den Himmel, noch die Bäume, er wußte nicht, ob die Sonne schien, oder ob es noch regnete, ob er gegessen hatte oder nicht. Er saß lange in der Laube und wiederholte nur immer: »Ich komme wieder, wenn es dunkel wird.« Gegen Mittag kam ihm der erste folgerichtige Gedanke, er fragte sich: »Wann wird es denn dunkel?« Und dann verwünschte er die langen Sommertage, an denen erst um neun Uhr die Nacht eintritt. Sein Geist erwachte langsam: Wer war dieses Weib, vielleicht der Teufel, oder war es gar – er erschauerte – Irene selbst? Das mußte er herausbekommen. Auf Wein würde er heute nacht verzichten, tunlichst auch auf Gesang; vielmehr wollte er seine Genossin zum Reden bringen. Er wurde immer kühner in seinen Gedanken: hatte er nicht früher manches spröde Frauengeheimnis keck erforscht? Mit beflügelten Schritten eilte er ins Schlafzimmer, denn dort wollte er sie heute erwarten, und schloß alle Läden in der Hoffnung, die Dunkelheit früher zu erzwingen. Leider aber drang immer noch genug Licht herein, um ein Antlitz erkennen zu können. Gegen acht Uhr wurde es endlich merklich finster. Hans war so kühn, sich zu Bett zu legen. Bald darauf trat in dem Zimmer völlige Nacht ein. Er fühlte Frauenglieder in seinen Armen.

»Wer bist du, woher kommst du? steh mir Rede!« rief er.

Das Weib kicherte leise.

»Was sind das für törichte Fragen für einen Philosophen! Wußte man denn sonst, was der Mensch ist, woher er kommt, wohin er geht? Weißt du denn, was du selber bist?«

»Ich bin ein Mensch, aber du? Vielleicht bist du der Teufel.«

Das Weib ergriff im Dunkel Hansens rechte Hand und ließ ihn ihre Stirn berühren.

»Habe ich Hörner?« Hans fühlte glatte, frische Haut und volles duftiges Haar.

Dann führte sie seine Hand an ihre schlanken Füßchen.

»Habe ich einen Pferdefuß? Rieche ich vielleicht nach Schwefel?«

Hans warf sich berauscht in ihre Arme, wie in einen feuchten Rasen voll zarter Frühlingsblumen.

Nach einiger Zeit begann er von neuem: »Warum wird mir dies entsetzliche Schicksal zuteil?«

»Was fehlt denn dem alleinigen Herrn der Erde?«

Hans überlegte, was er sagen sollte. Das einzige, was ihm ernstlich gefehlt hatte, war Irene, aber dies jetzt zu sagen, verbot ihm doch der ritterliche Anstand. Ja, was fehlte ihm eigentlich? Um nur irgend etwas zu sagen, antwortete er: »Nun, als ich vor einigen Tagen in der verlassenen Stadt war, hätte ich doch gern eine Tasse Kaffee getrunken, wie sonst.«

»Ist das alles? du wirst künftig das Kaffeehaus geöffnet und dort alle die Erfrischungen finden, die du zu nehmen gewohnt warst. Selbst Zeitungen sollst du finden von ebenso buntem, bewegtem Inhalt wie früher. Hast du weitere Wünsche?«

Hans wurde keck. Es reizte ihn, gerade das Unmögliche zu verlangen.

»Gewiß. Am Donnerstag pflegte mein Freund Dr. Specht vom Land in die Stadt zu kommen. Dann trafen wir uns meistens in dem Kaffeehaus.«

»Gut, morgen ist Donnerstag, er wird wieder dort sein.«

Hans traute seinen Ohren nicht. Durch die Läden drang erste graue Dämmerung ins Zimmer.

»Auf Wiedersehen, mein Lieber,« flüsterte eine zärtliche Stimme. »Ich komme wieder, wenn es dunkel wird.«

Hansens Arme tasteten ins Leere. Zuerst war er unwillig, aber dann mußte er sich sagen, daß das Wesen doch recht verständig war. Nichts von dem alten Märchenschnack, keine von den abgedroschenen Drohungen: »Falls du Licht anzündest, bin ich dir auf ewig verloren.« Wenn es hell wurde, entschwand sie einfach von selbst, ihrer nächtlichen Natur gemäß. Ob sie wirklich ihr Versprechen halten würde, den Dr. Specht in das Kaffeehaus zu zaubern?

Den Tag verbrachte Hans in freudiger Unruhe. Am Nachmittag ging er in die leere Stadt hinunter. Die Straßen unterschieden sich in nichts von dem öden Anblick, den sie neulich geboten hatten. Als er aber auf den Markt kam, stand wahrhaftig die Glastür des Kaffeehauses offen. Das rot und graue Zelttuch zum Sonnenschutz war herabgelassen. Hans trat ein, und da sah er auch schon das gelbliche bartlose Gesicht des etwas fetten Freundes Specht an dem gewohnten Platz über eine Zeitung gebeugt. Mit den Fingern zerbröselte er einen Zigarettenstummel. Er blickte auf. »Grüß Gott, Eichhorn, schön, daß du kommst.« Hans war etwas betreten und hielt die Hand des Freundes ungläubig in der seinen. Sie war schwer und weich wie immer.

»Was sagst du zu dieser Erfindung?« lachte Dr. Specht; die fleischigen Lippen zeigten zwei Reihen kerngesunder Zähne. »Welche Erfindung?« fragte Hans, fast ärgerlich über Spechts unbefangenen Ton. »Nun, wenn das kein Sieg der exakten Naturwissenschaft ist ...« sagte Specht.

Er schien die alte, zwischen den Freunden stets schwebende Streitfrage zwischen metaphysischer und naturwissenschaftlicher Welterklärung sofort in seiner gutmütig frozzelnden Art aufnehmen zu wollen.

Hans setzte sich an den Marmortisch. Vor ihm stand der gewohnte Milchkaffee. Auf einem Tellerchen lagen zwei mürbe Kipferln. Er wollte nicht weniger Fassung zeigen als sein Freund.

»Wie lebst du?« begann er.

»Na, meine Praxis ist natürlich eingegangen. In dem ganzen Nest lebt keine Menschenseele mehr. Aber ich habe jetzt Zeit, mich ausschließlich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen.«

»Bist du auch ganz allein?«

»Ganz, das heißt, wie man's nimmt ... So wie früher.«

Die braunen, mandelförmigen Augen des Dr. Specht schienen zu lachen, so wie einst, wenn er Mädelgeschichten erzählte.

»Kommt auch zu dir eine Frau?« fragte Hans fast schüchtern.

»Du weißt, ich war nie monogam veranlagt.«

»Also kommen mehrere?«

»Wie du nur fragst. Ich habe – bis auf die ausgefallene Praxis – mein Leben in nichts geändert.«

Hans konnte sich vor Staunen kaum fassen.

»Was hat dich denn heute hierher geführt?« fragte er weiter.

»Es ist doch Donnerstag.«

»Ja, wußtest du denn, daß ich da sein würde – trotz allem?«

»Trotz allem ist gut,« lachte Dr. Specht. »Ich habe dich doch kommen lassen.«

»Wa–as?« rief Hans fast erschrocken. »Du mich? Ich dich!«

Der Doktor schüttelte sich vor Lachen.

»Wie hast du denn das angestellt, Philosoph?«

»Ich habe einfach dein Erscheinen gewünscht.«

»Bei wem denn, wenn ich fragen darf?«

Hans kam in Verlegenheit. Er suchte nach Worten. Er wollte doch sein zartes Geheimnis nicht preisgeben. Dann sagte er entschlossen:

»Nun, bei der metaphysischen Kraft, die mich umgibt.«

Das runde Gesicht des Doktors wurde immer aufgeräumter und zeigte beständig die gesunden Zähne des fast kreisrunden dicken Mundes.

»Ja, bist du denn immer noch nicht geheilt von deiner Metaphysik?« fragte er. »Ich, der letzte Mensch, habe ein ganz einfaches Naturgesetz entdeckt, das mir ermöglicht, alle Formen – natürlich nur solche, die im Leben einmal vorgekommen sind, natura non facit saltus – mit Hilfe von Strahlen neu zu beleben, und so, Freunderl, bist du soeben entstanden.«

»Ich?« rief Hans empört.

»Ja, du,« sagte der Doktor und begann immer lebhafter sein Steckenpferd zu reiten. »Also meine Erfindung ist so: links stell' dir vor ... eine riesenhafte radioaktive Platte, daran schließt sich ein breites Gestänge ...«

»Um Gottes willen ... hör auf,« rief Hans, der Worte wie Gestänge nicht vertragen konnte. Aber der Doktor ließ sich in seinem Eifer keinen Einhalt gebieten.

»Über dem Gestänge ist ein Gebläse mit einem Riesenkolben ...«

Hans sprang auf und schrie: »Genug von dem Unsinn ... ich kann das nicht hören.«

Der Doktor aber lächelte gutmütig und sagte: »Dir fehlt eben die exakte naturwissenschaftliche Vorbildung – was ich immer gesagt habe. Also setz dich wieder hin.«

Hans setzte sich – dann sagte er trocken: »Ich habe dich ohne Gestänge und Gebläse durch die geistige Kraft meines Wunsches hier entstehen lassen, dich genau wie diese zwei Kipferln. Das alles ist mein Geschöpf.«

»Da erkenne ich wieder den Hochmut des Philosophen,« rief Dr. Specht und schlug auf den Tisch, hochbefriedigt, den Gegner nun da zu haben, wo er ihn ins Herz treffen könnte. »Geschöpf! Nichts können wir schaffen. Ich bin so wenig dein Geschöpf, wie du meines. So anmaßend sind wir schlichten Naturwissenschafter nicht. Wie ich schon gesagt habe: wärst du nicht bereits in der Welt der Erscheinung vorgekommen, so hätte ich dich mit meinem Gebläse (Hansens Gesichtsnerven zuckten) ebensowenig beleben können, wie diesen Kaffee. Die Naturwissenschaft erstrebt nichts anderes, als das Vorhandene zu erkennen, zu ordnen und zu nutzen. Nur dieser bescheidenen Tätigkeit verdankst du dein Dasein. Geschaffen habe ich dich nicht.«

»Aber ich habe dich geschaffen. Ich bin der letzte Mensch und ich werde weiter schaffen.«

»Bitte, laß dich nicht stören, laß mich sehen, was du kannst.«

»Ich muß erst wieder zu meinem ... Gebläse zurück,« erwiderte Hans sarkastisch; dann rief er: »Kellner, zahlen!« Aber schon im nächsten Augenblick bemerkte er seine Zerstreutheit. Es gab ja keinen Kellner. Plötzlich erschrak er aber. Wenn es am Ende doch einen gab? Den hätte dann Dr. Specht mit seinem Gestänge hergezaubert. Das wäre freilich ein Beweis gegen die metaphysische Weltanschauung gewesen. Aber auch das sonst so selbstsichere runde Gesicht des Dr. Specht schien ungewisse lauernde Angst zu verraten. Offenbar dachte er Ähnliches. Auch er hatte versäumt, die Form eines Kellners vorzubereiten, und wenn nun doch auf Hansens Wunsch einer kam, so wäre es ein Sieg der Metaphysik über die Naturwissenschaft gewesen. Aber es kam keiner.

Wieder einmal stand die große Frage dicht vor der Lösung und blieb schließlich wie immer ungelöst.

Hans reichte seinem Freund die Hand zum Abschied.

»Nichts für ungut,« sagte dieser. Hans lachte.

»Aber keine Spur,« erwiderte er. »An solche Streitereien sind wir doch nachgerade gewöhnt. Also, Servus.«

»Servus,« rief der Doktor. »Kommst du nächsten Donnerstag?«

»Falls bis dahin das beiderseitige Gebläse nicht versagt,« spottete Hans, der schon in der Tür war.

Dr. Specht lachte pfiffig, als sei er seiner Sache wieder gewisser als je.

Hans kehrte nachdenklich nach Belfried zurück. Er beschloß die Kraft seines Wunsches zu versuchen und in der Nacht von seiner Geistergattin das Unwahrscheinlichste zu verlangen; die Metaphysik mußte dieses Mal über die Naturwissenschaft siegen. Um acht Uhr lag er im Bett, bald darauf fühlte er das Weib in den Armen.

»Warst du mit deinem Tag zufrieden?« fragte die ihm schon vertraute Stimme.

»Nicht ganz. Diese unbelebte Welt ist gräßlich. Beleben wir sie.«

»Gerne, ich tue für dich alles, was ich kann.«

»Lasse die alten Bewohner in die Stadt zurückkehren,« wagte Hans zu fordern.

»Morgen werden sie dort sein.«

Er glaubte sich verhört zu haben. War denn das alles so leicht?

»Dann belebe auch wieder das Dorf, den Garten, gib mir das Reh zurück, die Hühner, das Gesinde, die – –«

Hier stockte Hans. Er hatte die Liebe jenes Geisterwesens genossen. Vielleicht konnte es ihm alles geben, die Gattin aber würde es ihm gewiß vorenthalten.

»Das Dorf, das Gesinde, das Reh, die Hühner, den Garten – alles wirst du morgen wiederfinden.«

Voll überschwenglichen Dankes umarmte Hans das Wesen und schlief in seinen Armen ein. Aber im Schlaf setzten sich die Ereignisse fort. Ihm war, als wisse er, daß er träumte, und er vermochte den Traum zu lenken.

»Ich habe aber noch einen Wunsch,« begann er heimlich.

»Ich weiß ihn wohl,« erwiderte das Wesen.

»Dann erfülle ihn mir.«

»Nicht ehe du ihn ausgesprochen hast.«

»Warum ist das nötig?«

»Bist du so feige?«

In diesem Augenblick nahm Hans sich zusammen und schrie aus Leibeskräften: »Irene.«

Er fühlte, wie sich das Wesen über ihn beugte, umarmte und erschreckt fragte:

»Was ist dir ... Da bin ich ja.«

»Nein,« rief er, sich wehrend, »dich will ich nicht. Ich will meine Frau.«

»Hier bin ich ja, hier bin ich ja,« rief die Stimme.

Hans erwachte und er sah, daß er in Irenens Armen lag.

*

Als Hans am Abend wieder vor Belfried spazieren ging, gedachte er seines gestrigen verzweifelten Gedankens: »Nichts ist wirklich, nichts ist mein.« War es nicht vielmehr umgekehrt? Gerade wie alles, was er wahrnahm, fühlte, erlebte, nur in ihm war, war es sein. Gerade weil es keine eigene Wirklichkeit besaß, war es ihm ganz und gar wirklich. Jede Nacht schuf sein Traum die Welt neu und jeden Morgen fand er sie wieder in gleicher Fülle, bald trüb, bald heiter; so lange Liebe in ihm war, würde er immer wieder Geliebtes schaffen, wenn es auch eines Tages vielleicht nicht mehr Irene hieß; und so lange noch die Lust der leisen Ungewißheit in ihm stach, die zu dialektischer Verteidigung Standpunkte gegen Widersacher einnahm, würde auch immer wieder irgendwo ein Dr. Specht sitzen, der sich auf Gestänge oder Gebläse berief.

Der Traum des Kommandeurs


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