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4. Kapitel

Untergang und Erleuchtung

Der Sturmangriff, den unser Generalstabschef geplant hatte, wurde ausgeführt. Ich entnehme die Einzelheiten der Schilderung den Berichten der Meldeoffiziere, die während der Schlacht dauernd im Generalstabszimmer des Bungalows aus- und eingingen, wo ich meinen Schreibtisch neben Postel und Sturmfeder hatte. Eines Morgens führten unsere kühnen Offiziere die laut brüllenden Hornviehherden gegen das Warenhaus. Die Eisenläden vor Tor und Fenstern hielten dem furchtbaren Ansturm der Hörner nicht stand. Die Scheiben klirrten zusammen, und von allen Seiten gleichzeitig brachen unsere Stiere, Büffel, Bisons, und hinter ihnen die Elefanten auf die im Onyxsaal gerade zu einer Ansprache versammelten Tiger, Leoparden, Panther und Marder ein. Zunächst entstand eine allgemeine Panik, während der Mr. Puma als Erster an einem Kandelaber hinaufkletterte, von der aus er im Sprung die Galerie gewann. Von hier aus befeuerte er seine Truppen, die schnell ihre Geistesgegenwart wieder fanden und sich wütend auf das Hornvieh stürzten. Sehr viele von ihnen wurden niedergetrampelt, so daß man ihre Knochen knirschen hörte. Andern aber gelang es auf die Nacken und Rücken der Edelhirsche, Stiere und Büffel zu springen, und sich dort zu verbeißen, so daß schwarze Blutströme über die Felle rannen. Oft kam ein Nebenmann einem also Gequälten zu Hilfe und stieß dessen Peiniger ein Horn in den weichen Bauch, aus dem dann die blutenden Gedärme hervorquollen. Manches so zugerichtete Raubtier ließ nun von seinem Opfer ab und schleppte sich fort, seine Eingeweide am Boden herziehend, um in einer Ecke heulend zu verenden. Ein fürchterlicher Brodem von Blut und Schweiß erfüllte den Saal und ein Gebrüll erscholl, als sei die Natur selber wahnsinnig geworden und kreische auf durch die Schlünde ihrer stärksten Geschöpfe. Mr. Puma stand auf der Galerie und schrie unverständliche Worte zwischen die Kämpfenden. Viel mutiger benahm sich Asta, die Königstigerin. Sie stand unerschütterlich auf der Rednerbühne, von wo aus sie alles übersah, und leitete selbst den Kampf. Von den Treppen neben und hinter ihr fluteten immer neue Tiere in den Saal, denen sie furchtlos die besten Angriffspunkte wies. Da gelang es plötzlich einem Bison, sich den Weg zu ihr frei zu machen. Den ungeheuren Schädel fast bis zum Boden gebeugt, gelang es ihm, ihrer von unten habhaft zu werden, und sie auf seinen Hörnern aufzuspießen. Ihr herrliches helles Fell war im Nu blutüberströmt. Der Puma brach auf der Galerie in ein gräßliches Geschrei aus, kam ihr aber nicht zu Hilfe. Dagegen biß ein kühner Leopard dem Bison ins Gemächt, so daß er aufbrüllend zu Boden fiel. Asta wurde von Panthern von den Hörnern ihres Gegners heruntergezogen und lag nun am Boden, geschützt von einem Kreis fauchender Katzen. Noch einmal erhob sie ihr in diesem Augenblick wahrhaft majestätisches Haupt und schrie mit einer hohen, schon hysterisch überspannten Stimme, die allen Lärm wie ein Blitz dumpfes Gewölk durchdrang: » Vive la liberté!« Dann sank sie zurück und verschied. Dieser wirklich erschütternde Augenblick brachte den Kampf kurz zum Stehen. Auch unsere braven Truppen erhoben die schweren, blutübertrieften Köpfe und horchten auf so unerhörten Laut. Der Tod ihrer Führerin verwirrte die Feinde sichtlich. Vergebens brüllte der Puma: » Never mind – go on – go on,« aber diese kümmerlichen Worte hatten keine Wirkung mehr nach jenem Beispiel von Heldentum, das man eben erlebt hatte. Die Truppen des Feindes wären nun ohne Zweifel erbarmungslos von den Unseren niedergetrampelt worden, wenn nicht plötzlich einer Meerkatze aus Astas persönlichem Dienst gelungen wäre, eine Seitentür einzuschlagen, aus der nun – offenbar verspätet – ein bunt geflecktes und gestreiftes Geringel von Giftschlangen hervorbrach. Die kleinen Vipern und Ottern schossen auf unsere Truppen zu, die großen krochen langsamer, aber furchtbar züngelnd heran: schwarz und gelb gefleckte Klapperschlangen, hellgelbe Brillenschlangen, mit Zacken gezeichnete Kreuzottern und purpurn und himmelblau geringelte Korallenschlangen. Als dies unser Oberst sah, gab er schnell entschlossen den Befehl der Ablösung vom Feind. Diesen Angriff abzuwarten, hätte geheißen, unsere tapferen Truppen nutzlos zu opfern. Was von dem halb zerrissenen Hornvieh noch laufen konnte, kehrte um und gewann über Haufen von Leichen das Freie. Auf die Schlangen aber stürzte sich jetzt unsere wackere Mungoschar und richtete großen Schaden an. Die Opossums machten sich über das kleine Raubzeug her, das sich nun hervorwagen konnte, ohne befürchten zu müssen, zertrampelt zu werden. Ihre Taktik, sich tot zu stellen, bewährte sich gut. Der Gorilla mit seinem Menschenaffen war bis auf die Galerie gelangt. Ihn gelüstete, ein Wort mit Mr. Puma selbst zu reden, aber dieser war plötzlich spurlos in einem feuer- und einbruchssicheren Geldschrank verschwunden, den er sich für alle Fälle vorher mit einem Luftloch und Nahrungsmitteln hatte versehen lassen. So mächtig der Gorilla daran rüttelte, gegen dieses Wunderwerk der Zivilisation war seine Urkraft ein Nichts. Wohlweislich zog auch er sich mit den Seinen zurück, als er die völlige Unmöglichkeit einsah, in diesem Augenblick sein Ziel zu erreichen. Gänzlich unsichtbar geblieben war der Alligator Siegfried. Offenbar glaubte er wirtschaftlich genügend beigesteuert zu haben durch Überlassung seines teuren Onyxsaales als Schlachtfeld.

So ging dieser erste Schlachttag vorüber. Wir setzten uns abends zu Tisch, in der Meinung, einen Sieg zu feiern. Unser Bericht, der überall angeschlagen wurde, enthielt die volle Wahrheit: der Kampf war ausschließlich auf feindlichem Boden ausgefochten worden und hatte dem Feind ungeheuren Verlust an Truppen und Material gebracht. Die Haupturheberin der Revolution, Asta, war gefallen. Auch wir hatten wohl Verluste zu beklagen, die aber in keinem Verhältnis zu denen der Gegner standen. »Bei denen drüben mag es jetzt übel aussehen!« sagte bei Tisch Sturmfeder. Wie staunten wir aber, als uns gegen 10 Uhr die Nachricht kam, daß drüben ebenfalls Sieg gefeiert wurde. Das Warenhaus und die angrenzenden Straßen waren farbig erleuchtet, von festlicher Menge durchflutet. Man riß sich um die Sonderausgabe des »Wahrheitsbrüllers.« Der aber verkündete, der Feind sei unter furchtbaren Verlusten zurückgeschlagen, die eigenen Truppen hätten den Kampfplatz behauptet, das feindliche Unternehmen sei als völlig gescheitert zu betrachten. Von uns begriff das niemand, selbst unser schlauer Minister Reinhardt nicht. Nur der alte Rabbiner wunderte sich nicht. Vor sich hin lächelnd, sagte er nur: »Kriegspsychologie.«

Mit Postel, der den ganzen Abend sehr wortkarg und niedergeschlagen gewesen war, stand ich kurz vor dem Schlafengehen noch eine Viertelstunde auf der Galerie des Bungalows unter einem klaren Sternenhimmel. »Nun, und wenn wir siegen sollten, unwidersprochen siegen sollten,« sagte er, »was dann? Mein Werk ist zerstört. Während die da drüben den Tieren die Menschenrechte verkünden, bereiten sie in Wahrheit den völligen Rückfall in die Tierheit.« »Aber das wird eben unser Sieg unmöglich machen!« rief ich, von Sturmfeders Zuversicht stark gemacht. »Aber wieso denn?« fragte Postel, »haben wir uns nicht ihnen schon unterworfen, indem wir den gräßlichen Krieg überhaupt mit ihnen führen? Ich wollte das Menschentier schaffen, nun muß ich selbst, wenn wir nicht untergehen wollen, das Tier wieder entfesseln.« »Ja, aber doch nur vorübergehend und im Rahmen unserer eisernen Disziplin.« »Gleichgültig, du wirst sehen, wohin das führt. Ein Rückfall bleibt es. Mit dem Menschentier ist es nichts und mit dem Tiermenschen auch nichts.« »Ja, das Tier muß eben überwunden werden.« »Das sagst du, der Dachs?« erwiderte Postel; höhnisch fügte er hinzu: »Ja so, ich habe ganz vergessen, daß du jetzt Geschichtsschreiber bist. Aber warum gehst du nicht gleich zu den Menschen zurück?« »Zu den Menschen?« fragte ich, »um keinen Preis. Ist es denn bei denen besser? Die zerfleischen sich doch zur Zeit auch im Weltkrieg, und was sie nachher tun werden, das ist sicher auch wenig verlockend.« »Also was muß überwunden werden?« fuhr Postel fort, »das Tier? Nein, der Mensch.« »Sollen wir lieber ganz vertieren?« »Das gewiß nicht; aber es muß ein anderer Weg gefunden werden mit Umgehung, mit Überspringung dieses mißlungenen Dings, das man Mensch nennt.« »Das verstehe ich nicht!« »Und gerade du wirst es verstehen, der du jetzt an der Grenze stehst, wo auch du weiter weder Tier noch Mensch sein kannst. Schau nur einmal recht tief hinein in deinen Abgrund!« Ich erschrak. Zu den Menschen zurück? Unmöglich. Mich in die Erde vergraben und ganz verdachsen? Ebenso unmöglich. Postels Reich, wo ich allein noch zu leben vermochte – und wie glücklich! – stand vor dem Untergang. Das war klar, wenn sein eigener Schöpfer so redete. Wohin also? Mich in den Kampf stürzen und ruhmvoll untergehen? Für was? Für das Reich der Menschentiere oder Tiermenschen, dessen Untergang in der Idee ich gerade eben begriffen hatte, woran sein etwaiger Sieg im Stoff nichts ändern konnte? »Zeig mir einen Weg!« rief ich verzweifelt aus. »Noch ist nicht Zeit,« antwortete er, »aber halte dich bereit!«

In diesem Augenblick hörte man ein mächtiges Flügelrauschen. Der Sternenschimmer verdunkelte sich, und auf der Galerie neben Postel ließ sich ein ungeheurer schwarzer Kondor nieder. »Endlich!« rief Postel, wie aus einem bösen Traum erlöst, »endlich, Meister, bist du zurückgekehrt! Lange genug habe ich geharrt auf das Wort!« Ich erschauerte und meine Blicke hefteten sich in die funkelnden Augen des Vogels, dessen Kopf kühn wie aus einer Halskrause von buntem Gefieder hervorwuchs. »Das ist der Retter!« wußte ich. »Laß uns allein,« flüsterte Postel.

Ich ging auf mein Zimmer. Frieda erwartete mich mit der gewohnten zärtlichen Ungeduld. Zum ersten Mal fühlte ich mich in meilenweiter Ferne von ihr; nicht als ob meine Gefühle zu ihr abgekühlt oder gar erstorben gewesen wären. O, sie waren da wie immer; aber mein Selbst war nicht mehr in diesen Gefühlen. Ich sah mir zu, wie ich Friedas Zärtlichkeiten empfing und erwiderte, aber mein Selbst schwebte wo ganz anders. Die Gute hat kaum etwas davon bemerkt, denn daß ich etwas ernster und stiller war, als sonst, entsprach ja nur zu sehr der äußeren Lage. Die Nacht über schlief ich nicht. Mir fiel ein, daß mir Postel am Anfang meines Aufenthaltes im Tierreich erzählt hatte, auch er habe einen Meister, der ihn von Zeit zu Zeit besuche und ihm stets »das Wort« bringe; er nannte ihn, den in der heutigen Welt höchstfliegenden Weisen Zarathustra. Den schwarzen Vogel hatte er Meister angeredet; und war nicht der Kondor das sich am weitesten erhebende Tier? Von den höchsten Bergspitzen der Erde stiegt er noch einmal ebenso hoch in den Azur. Ich fühlte: diese Nacht ist entscheidend für Postel, für mich, für uns alle; der Welt wird ein neues Wort gebracht: aller Kleinmut war von mir geschwunden. »Schau nur einmal tief hinein in deinen Abgrund!« hatte Postel gesagt. Das wollte ich nun furchtlos tun. Ich wußte ja schon das Eine: es gibt kein Zurück, weder zum Menschen, noch zum Tier. Also: nur ein Vorwärts, ein Aufwärts zur höchstfliegenden Weisheit des geheimnisvollen Meisters! Aber meine Dachshaftigkeit? Ich fühlte sie nicht im mindesten mehr als Hemmnis in jener außermenschlichen Wunderwelt als jede andere Form. Unter Menschen nur ein Dachs ... aber dort ... die Letzten werden die Ersten sein.

Täglich wurden nun Sturmangriffe gemacht, wie der beschriebene. Der Erfolg war jedesmal derselbe. Wir brachten dem Feind ungeheure Verluste bei und zogen uns abends in unsere Stellungen zurück, was er als Flucht nach ergebnisloser Anstrengung deutete. Dieses ewige Einerlei der äußeren Dinge, so gräßlich es war, wurde geradezu langweilig. Den Anblick der zurückkehrenden, oft halb zerfleischten und zerfetzten Tiere vermied man möglichst als etwas äußerst Widerwärtiges und Unabänderliches, aber erschüttert oder siegesfroh, wie am ersten Tag, war man bald nicht mehr. Hatte ich schon früher gern die Blicke von außen nach innen gewendet, so tat ich es jetzt, einer so entsetzlichen Wirklichkeit gegenüber, fast ausschließlich. Der äußere Kampf und seine Ergebnisse wurden mir fast gleichgültig, dagegen wartete ich hochgespannt auf jedes Wort Postels, denn ich wußte: nur von ihm konnte mir die Lösung des Rätsels all dieser nutz- und sinnlosen Greuel kommen. Der Kondor muß nach kurzer Zwiesprache noch in derselben Nacht, in der er gekommen, das Bungulow verlassen haben. Von Postel war indessen seine Traurigkeit völlig geschwunden. In stiller Heiterkeit saß er zwischen uns und den Greueln, die jeder Tag brachte, gegen keinen und nichts lieblos, aber doch so, als sei er schon von einer anderen Welt. Fragen an ihn zu stellen, wagte niemand.

Aus dieser inneren Hochspannung wurde ich durch neue, noch gräßlichere äußere Ereignisse herausgerissen. Eines Abends führte mich Postel wieder auf jene Galerie, wo neulich der Kondor erschienen war und sagte: »Nun ist es soweit, die völlige Auflösung beginnt. Angefangen hat es mit den Hyänen. Du weißt, sie sind unsere Totengräber. In den ersten Tagen haben sie sich auch noch gut gehalten und Leichen beider Parteien von dem Schlachtfeld geräumt. Jetzt bemühen sie sich nicht einmal, sie bis zum abseits gelegenen Friedhof zu tragen, geschweige denn zu begraben, vielmehr ...« Postel hielt inne. »Was tun sie mit ihnen?« fragte ich in banger Ahnung. »Nun, was sie außerhalb unseres Staates zu tun pflegten, sie nähren sich davon!« »Scheußlich,« sagte ich. »Aber das ist noch nicht alles. Das Beispiel hat angesteckt. Alles, was früher Aas zu fressen gewohnt war, schleicht nachts aus beiden Lagern auf die Schlachtfelder und mästet sich am Fleisch der Feinde und Kameraden. Zuerst kamen die Geier – Herr Moische Schönheit, der sonst nicht koscher genug gekocht haben konnte, gab das Zeichen dazu – andere Vögel folgten, besonders Raben und Krähen; sehr zahlreich sind die Ratten, selbst die aus unserer eigenen Wirtschaft sind dabei; die Krebse aus der Schneiderei des Hummers ließen auch nicht lange warten, und zuletzt kamen, dafür in um so größerer Schar, die Käfer. Die Hälfte der Angestellten unserer Druckerei geht hin. Und stell' dir vor: heute früh hat man vor der Dachkammer des alten Adlerpaares, das sich bisher so anständig hielt, stinkende Haufen von Knochen und Gewöll gefunden. Alle Tiere fallen in den Urzustand zurück. Unsere Stiere haben bereits die ihnen vorgesetzten Hirsche angegriffen. Die Iltisse und Frettchen unserer Polizei schnuppern dauernd um die Schule, nicht mehr weil sie bei den Hähnen und Hennen aufrührerische Gesinnung vermuten, sondern weil sie in ihnen schmackhafte Braten wittern. Unser alter Metzger, der Wolf, ist in die Maison eingebrochen, nicht etwa aus irgend einem harmlosen Johannistrieb, sondern um dort einige Lämmer zu zerreißen. Ich könnte dir noch viele Beispiele sagen. Nur noch dieses eine: Ihre Majestät steht selbst in dringendem Verdacht, heute Nacht mit ihren Jungen die ganze Familie unseres Schneiders zerrissen zu haben. Der Guanako mit seinem Alpakkaweibchen und der sofaähnlichen Tochter wurden heute früh halb aufgefressen in ihrer Werkstatt gefunden. Die Blutspuren führen zum Palast bis vor die Zimmer der Königin, die den ganzen Tag ihre Gemächer nicht verlassen hat. Kurzum, der Staat löst sich zusehends auf!« »Schauerlich!« sagte ich. »Schauerlich?« fragte Postel überlegen, »meinetwegen, dann leben wir eine Zeit lang in Schauern. Was liegt daran?« »Aber dein eigenes Werk, der Tierstaat?« »Geht zu Grunde, wie jede Übergangsform. Wäre es nicht gräßlich, wenn das Leben stillstünde, das Werdende in einem endgültigen Sein erstarrte, statt zu vergehen und neues Werden zu gebären? Du glaubst nach an Sein und Tod. Für meinen Blick aber ist alles Sein nur noch ein wechselnder Schein, und darum gibt es auch keinen eigentlichen Tod. Stirb und werde!« Mit dem Verstand begriff ich diese Worte, im Inneren fühlte ich Schauer vor ihrer Erhabenheit; aber sie mir zu eigen machen, ihnen zu folgen, vermochte ich noch nicht. Mehr wollte Postel fürs Erste nicht sagen.

In den nächsten Tagen trat das Schauerliche des äußeren Geschehens in seine letzte Phase: Die Insekten der Feinde waren bis zu uns vorgedrungen. Mit Flöhen, Wanzen, Läusen fing es an. In keinem Bett fehlte das Ungeziefer, selbst die Königin-Witwe, die äußerlich trotz dem furchtbar auf ihr lastenden Verdacht noch einwandfrei zu leben schien, sah die erste Wanze ihres Lebens, die sie anfangs für ein Marienkäferchen hielt und auf einem Blumentopf pflegte. Erst als die Tierchen in Massen auftraten, bissen und stanken, mußte ihr der Pinguin, nach wie vor ihr Kammerherr, vorsichtig die Wahrheit über die Tierchen sagen, die sie anfangs in königlicher Umgebung für unmöglich hielt. Gegen die Plage half noch reichliche Anwendung von Insektenpulver. Bedenklich wurde, als die ersten Skorpione sich von der Decke fallen ließen. Auch davor konnten wir im Bungalow uns noch durch Netze schützen. Furchtbar dagegen litten unsere Truppen: Giftfliegen, Hornissen, ja vereinzelte Tsetsefliegen bedeckten sie und machten sie kampfunfähig. In die klaffenden schmerzenden Wunden nistete sich das wimmelnde Geziefer und barg dort seine Brut. Dauernd wurden die gequälten Tiere mit kaltem Wasser besprengt. Unsere eigenen Insekten, die Bienen, vergaßen ihre Pflichten als Sanitätssoldaten, bedrohten uns vielmehr selbst. Nicht anders gebärdeten sich die Hummeln und Wespen. Immer gefährlichere Insekten rückten heran. Meine arme Frieda wurde das Opfer eines indischen Sandflohs. Trotz meiner wiederholten Warnung war sie immer wieder barfuß im Schlafzimmer umhergelaufen. Eines Tages war ihr linkes Hinterfüßchen etwas geschwollen. Sie weigerte sich, Grödling rufen zu lassen, es ginge auch so vorüber. Am Abend war schon das ganze Bein von der Geschwulst ergriffen. Grödling mußte sofort zur Amputation schreiten, konnte nicht einmal die Sicherheit geben, daß das Gift nicht schon in den Rumpf vorgeschritten sei. Ich verbrachte die bängste Nacht meines Lebens an Friedas Leidenslager. Nun fühlte ich wieder, wie eng wir miteinander verwachsen waren, aber gleichzeitig wurde mir immer gewisser, daß ich sie jetzt verlieren würde, daß sie zu dem alten Leben gehörte, das vor meinen Augen zugrunde ging, daß mein neues Werden sich ohne sie verwirklichen müsse. Während ich bei der mit einem starken Schlafmittel Betäubten wachte, jedem Atemzug folgend, und dachte: »O ich verzichte auf alles neue Werden, wenn nur sie mir noch eine Zeit lang im alten Sein erhalten bleibt«, da fühlte ich plötzlich ein scharfes Gekribbel auf dem rechten Oberarm. Grödling hatte uns alle eindringlich davor gewarnt, in solch einem Falle gedankenlos an die kitzelnde Stelle zu greifen. Ich schlug also vorsichtig, aber zitternd, den weiten Ärmel des Nachthemdes zurück und sah im Schein der Nachtlampe ein schauderhaftes, schwarzes Tier, wie einen vielfüßigen dicken Wurm, gut einen Fuß lang, auf meiner Haut sitzen. Das war der so gefürchtete indische Tausendfuß oder Skolophender. Gerade von ihm hatte Grödling voll Befürchtung gesprochen. Erschreckte man das die Körperwärme suchende Tier durch die leiseste Bewegung, dann krampfte es sich ins Fleisch und ließ nicht mehr los. Schnitt man auch dann den Leib mit dem Messer weg, die zahllosen feinen Füße waren durch nichts zu entfernen und bildeten scheußliche, schließlich das ganze Blut verseuchende Geschwüre. Hielt man aber ruhig aus, dann war gewiß, daß das grauenhafte Tier sich nach einiger Zeit wieder entfernte. Zwei Stunden saß ich nun still, nachdem ich vorsichtig dem Arm eine Stuhllehne untergeschoben hatte. Das Ungeheuer rührte sich nicht. Diese mir wie ein Wunder aufgezwungene bewegungslose Ruhe in dem Augenblick, wo das Teuerste, das ich besaß, neben mir aus diesem Leben hinüberschlief, war die Stunde, in der ich den tiefsten Blick in den Abgrund des Seins tat; Tod und Verwesung, hoffnungsloses Seelenleid und bohrender Körperschmerz bedrohten mich so überwältigend, daß ich laut, aber in starrer Bewegungslosigkeit verbleibend, schrie: »Nein, ich will nicht mehr«. Da wurde mir plötzlich gewiß, daß man alles Grausen des Daseins mit furchtlosem Wissen und Willen genau so sicher bewältigen kann, wie diesen Tausendfuß, der noch immer ohne sich zu rühren, auf meinem Arm saß. Machte ich ihn durch meine eisige, äußere Ruhe nicht völlig unschädlich? Was geschah denn eigentlich? Ich saß zwei Stunden in der Nacht still und dachte an die ewigen Dinge. War das ein Unglück? Nicht vielmehr das Beste, was es gab? War das ganze Entsetzen vor diesem Ungeheuer nicht von mir geschaffen, so wie ich mir jetzt diesen Ewigkeitsblick schuf? Ich habe also die Wahl: ich bin frei, entsetzliche Endlichkeit oder tiefblickende Unendlichkeit zu leben! Der Tausendfuß selbst ist keine Wirklichkeit. Nur, wenn ich meine Hand, in irrem Selbsterhaltungstrieb nach ihm greifen lasse, nur dann bohrt er sich, oder vielmehr bohre ich ihn, das willenlose Werkzeug meiner rasenden Hand in mein Fleisch. Ich bin also frei, frei von dem um mich zerfallenden Leben, ja von dem neben mir zu Tod verwundeten Tierleib, denn auch meine Liebe zu Frieda ist mein Geschöpf. Diese Liebe bin ich selbst; in leiblicher Verstrickung habe ich sie an das gebrechliche Ding Frieda geknüpft, und ich entknüpfe sie nun wieder, sie in mein unendliches Selbst zurückziehend. Wozu brauche ich noch Friedas Verkörperung in einem Tierleib, wenn meine Liebe und mein Selbst eins sind? Fort mit allem, meinetwegen auch mit dem eigenen Tierleichnam! Mit großem Interesse betrachtete ich nun den Tausendfuß und bewunderte den Reichtum seiner zahllosen Glieder. Auch er, der eben noch der bittere Feind meines Lebens schien, so wie Frieda seine süße Freundin, auch er war, so wie er da saß, nichts als ein gleichgültiger Tierkadaver wie mein eigner Leib, wie die sterbende Geliebte an meiner Seite. Das Nachtlicht erlosch. Ich sah und fühlte nichts mehr. Ich schlief ein.

Im Morgengrauen trat Grödling ein, um die Operierte zu sehen. Ich erwachte. »Was haben Sie denn?« fragte er mich. Noch saß ich in derselben Stellung wie in der Nacht, den bloßen Arm auf eine Stuhllehne gestützt. Der Tausendfuß war nicht mehr zu sehen. Eben wollte ich Grödling davon berichten, als er etwas erschreckt an Friedas Bett trat. Sie war kalt.

Ich schaute ihn ruhig an, als er es mir sagte und beugte mich dann über sie, meinen menschlichen Tränen freien Lauf lassend. Man ließ mich tagsüber bei ihr. Postel kam gegen Mittag und drückte mir die Hand. So aufrichtig mein Schmerz um sie war, die Erlebnisse der Nacht blieben in ihrer Macht bestehen. Ich wußte, daß ich zusammen mit Frieda den Tod meines früheren Lebens gestorben war. Ich hielt mich nicht zurück, ihm nachzuweinen, wie auch der bei einem Abschied weint, der dabei doch unerschütterlich entschlossen ist, die Reise in die ungewisse Fremde zu machen. Draußen überstürzten sich nun die Ereignisse. Am selben Tag gelang es dem Gorilla, der Tag für Tag nichts anderes im Sinn gehabt hatte, den Puma im Kampf zu stellen. Der hatte gerade einen Leitartikel für den »Wahrheitsbrüller« diktiert und dann plötzlich in einem Anfall von Wildheit der Maschinenschreiberin, einer Antilope, die Gurgel durchgebissen. Die ihm durch seine puritanische Erziehung auferlegte Selbstbeherrschung verließ ihn auch hier nicht ganz. Ehe er sich der Gier seines Blutdurstes an der Ermordeten in sicherem Behagen zu überlassen wagte, schlich er vorsichtig an die Tür, um sie zu verriegeln. Da trat dem nach allen Seiten Spähenden plötzlich der Gorilla gegenüber, umschlang ihn mit seinen ungeheuren Armen und erwürgte ihn. Ein Mungo überfiel am selben Tag den Alligator Siegfried, der sich dauernd in der Stahlkammer des Kellers aufhielt und nur einmal am Tag die Tür öffnete, um einem alten treuen Gnu den Nachtstuhl hinauszureichen und gleichzeitig Nahrung zu empfangen. Diesen Augenblick benützte der Mungo. Den eigenen Untergang für nichts achtend, sprang er dem Alligator geradeaus ins Maul und verbiß sich in dessen Zunge, so daß Herr Siegfried unter dumpfen Würgen erstickte. Das Gnu stand wie angewurzelt dabei, half aber dann dem selbst halb erstickten Mungo aus den Zähnen des verhaßten Herrn Siegfried heraus.

Damit waren wohl die Häupter der feindlichen Verschwörung sämtlich vernichtet, und unser Sieg schien gewiß. Aber was bedeutete dieser Sieg, wenn man ihn näher betrachtete? Auch bei uns war furchtbares geschehen. Einer der Auerochsen hatte sich den Befehlen des Generalstabchefs widersetzt, und als dieser ihn in Arrest zu führen befahl, folgte niemand. Vielmehr zerquetschte der Unbotmäßige unseren prächtigen Sturmfeder an der Mauer.

Diese Nachrichten brachte mir gegen Abend Postel selbst in das Sterbegemach, wo indessen Frau Schupp und die gute Wetti die Leiche aufgebahrt und Kerzen angezündet hatten. Ich hörte Postel ruhig an, ohne Erschütterung, aber bereit, alles zu tun, was nötig war. »Das Kriegsglück hat sich für uns entschieden,« sagte Postel, »aber der Tierstaat ist kein Staat mehr, sondern ein zoologischer Garten, dessen Käfige offen stehen. Was bleibt uns da anders zu tun übrig, als ihn zu verlassen?«

In diesem Augenblick ertönte ein furchtbares Krachen, das zugleich von draußen und innen kam. Postel riß die Türe auf; da sahen wir, daß die Hälfte des hölzernen Bungalows in einem Augenblick zusammengebrochen war. Zwischen dem zerbröckelten Gebälk der Treppe lag der Möbelauswurf der aufgeborstenen Zimmer. Hilferufe winselten uns aus allen Ecken entgegen. Die Katzen und Ratten des Haushaltes sprangen blutend wie irr auf den Trümmern umher. Der Eber in der Küche steckte mit dem Hinterteil im Schutt und brüllte laut. Nicht weniger verzweifelt wälzte sich Fräulein Rosa in ihrem Blut. Auf einem Türpfosten saß mit gesträubten Federn laut schreiend Dr. Karfunkel, während ihn das alte Adlerpaar feindselig umkreiste. Grödling und der Minister befanden sich im Erdgeschoß und schienen unversehrt; sie machten sich daran Verwundete hervorzuziehen. Postel und ich standen wie gelähmt auf dem noch erhaltenen Treppenabsatz.

»Auch dies war zu erwarten,« sagte Postel schließlich. »Das ist das Werk unserer weißen Ameisen, der Termitenabteilung. Von innen haben sie das Gebälk des Hauses angefressen. Nun gibt es kein Bleiben mehr.«

Postel machte sich Grödling und Reinhardt gegenüber durch Rufen bemerkbar. Diese gaben Zeichen des Staunens und der Freude. Eine Leiter lag im Garten. Man stellte sie an und Postel forderte mich auf, mit ihm hinunterzusteigen. Da fühlte ich, daß hier noch etwas war, außer meiner Person, das ich nicht zurücklassen konnte. Ich warf einen Blick auf Friedas Leiche. »Unmöglich!« sagte Postel kurz. »Denke doch ... die Hyänen ...« beschwor ich ihn. »Du hast recht,« erwiderte er. Er stieg zuerst einige Stufen hinunter. Ich trug die Leiche vom Bett ihm entgegen und so brachten wir sie mühsam hinab.

Außer dem Gewinsel, das noch immer aus den nicht zu bewältigenden Trümmern zu uns drang, herrschte in der Nähe der Bungalows auffällige Ruhe. Sofort nach dem Tod Sturmfeders hatte sich alles Hornvieh am Boden gelagert oder graste in dem Garten oder stand stier umher. Niemand dachte daran, heute den Sturmangriff zu erneuern. Die ganze Umgebung sah friedlich aus wie ein Viehmarkt am frühen Morgen. Bald sah man, erst schüchtern, dann beherzter die Insassen der Maison Pompadour, die Affen des Theaters, das Geflügel der Schulen hervorkommen. Was im feindlichen Lager geschah, weiß ich nicht. Noch eine Zeit lang hörte man von dort Brüllen wie von heftigen Kämpfen.

Wir suchten vergeblich noch Verschüttete zu befreien, aber ohne sie retten zu können. So erlag der Eber schnell seinen Wunden. Von Frau Schupp, Frau Hirsekorn und dem armen Vaverl war keine Spur zu finden. Sicher lagen sie unter den Trümmern begraben.

»Nun aber sobald wie möglich fort von hier!« rief Postel. »Welch ein Wunder!« bemerkte ich, als Grödling und Reinhardt in ihre im Erdgeschoß liegenden Zimmer traten, um sich reisefertig zu machen, »daß gerade unsere Räume erhalten blieben.« »Kein Wunder!« sagte Postel. »Wir alle waren durch meinen Willen geschützt, so lange der Staat durch mich bestand. Jetzt aber ist mein Wille gänzlich entspannt, und wir sehen uns wieder einer wilden Tierwelt gegenüber. Sie wird sich freilich hier nicht halten können, denn mit meinem sie bändigenden Willen ist ihnen auch ihr Menschliches genommen, das sie eine Zeit lang über ihre Tierheit erhob und unabhängig von Klima und gewohnter Nahrung machte. Diese tropischen Bestien und Insekten werden nun, ihrer menschlichen Anpassungsfähigkeit wieder beraubt, hier schnell verhungern oder erfrieren. Die, welche mögliche Lebensbedingungen finden, fallen erinnerungslos in ihre Tierheit zurück. Grödling und Reinhardt werden wieder Menschen. »Und wir?« wagte ich zu fragen. »Wir beide haben nachher noch ein Wort zusammen zu reden.« Grödling und Reinhardt waren inzwischen aus ihren Zimmern zurückgekommen; Grödling sah aus wie einst, als er mich hierher gebracht hatte, trug einen Lodenrock und einen prallen Rucksack; Reinhardt hatte wieder seine grüne Schirmmütze auf und eine altmodische Reisetasche in der Hand. Aus ihren Abschiedsworten ging hervor, daß Grödling wie bisher seine Bezirkstierarztstelle ausfüllen würde. Reinhardt war auch nicht besorgt. Er konnte jeden Augenblick in fürstlichen Dienst eintreten; er kannte die ganze österreichische und ungarische Hocharistokratie. Ein Mann von seinen Fähigkeiten findet immer ein Unterkommen. Der Abschied war herzlich wie nach einer längeren, gemeinsam gemachten Reise, doch nicht empfindsam. Beide Männer gingen dem Ausgang zu. Da sahen wir plötzlich wie Dr. Karfunkel mit gellendem Geschrei aus den Lüften sie umflatterte. Lachend erlaubte ihm Grödling, sich auf seiner Schulter niederzusetzen und mit ihm in die Welt zurückzukehren. Er wird wohl dem alten Kakadu das Gnadenbrot gegeben haben. Von unseren übrigen Hausgenossen hörte ich nichts mehr. Der junge Tapir war schon nach dem Tod Astas, als die Aussichten auf einen französisch sprechenden Friedenskongreß im Tierreich schwanden, nach Berlin gefahren, um sich dem Auswärtigen Amt zur Verfügung zu stellen zum Zweck der Beeinflussung der öffentlichen Meinung in neutralen Ländern. Der alte Rabbiner lag begraben unter den Trümmern des Bungalows. Auch die klagende Stimme des Fräulein Rosa war inzwischen verstummt. Das alte Adlerpaar kreiste hoch in den Lüften. Das Gebrüll aus dem Lager der Feinde nahm merklich ab. Die Raubtiere hatten sich wohl gegenseitig vernichtet. Um uns kroch entkräftet und schläfrig allerlei Ungeziefer, aber ohne Lust zum Angriff. In den Bäumen saßen neugierig und jämmerlich frierend die Affen. Postel und ich standen allein zwischen den Trümmern des verendenden Tierreichs. Neben uns auf dem Rasen lag die Leiche meiner Frau. Überall verbreitete sich ein schauerlicher Aasgeruch.

»Und nun will ich dir deinen Weg zeigen«, sagte Postel. Ich folgte ihm in den nur wenig beschädigten Keller, den Raum meiner früheren, freilich sehr geringen Tätigkeit. Hier stand noch unberührt Faß neben Faß. Am Ende des Ganges war eine eiserne Tür, die immer verschlossen gewesen war, mich aber bisher nie gekümmert hatte. Postel zog einen Schlüssel hervor und öffnete. Ich blickte in einen langen düsteren Gang, der hie und da von oben etwas Licht erhielt. »Wenn du von hier aus eine halbe Stunde weiter gehst«, sagte Postel, »gelangst du unter einer vermoosten Waldbrücke ins Freie. Dort findest du leicht einen Ort, wo du die Tote begraben kannst. Vergiß nicht, nebenan aus dem Gärtnerhäuschen einen Spaten mitzunehmen.« »Und dann?« fragte ich, als Postel schwieg, wieder etwas bang. »Dann?« antwortete Postel, »das mußt du nun selbst wissen. Du bist jetzt weit genug.« »Du sagtest doch vorhin ...« stotterte ich, »zeige mir wenigstens den Weg!« »Den Weg?« Postel lächelte. »Du glaubst nach alledem noch an den Weg? Den Weg gibt es nicht, sondern nur für jeden seinen Weg, und den kann keiner dem anderen zeigen. Nur nennen kann ich ihn dir, da ich dich so weit erkannt habe. Menschen- und Tierleben sind wie gesagt für dich so erschöpft wie für mich. Also was bleibt? Die Entwicklung zum Gotttier, wenn nicht zu noch Höherem.«

Das war offenbar das neue Wort, das der Kondor gebracht hatte: das Gotttier. Es riß in mir den tiefsten Seelengrund auf, aus dem es wie eine lang unterdrückte Stimme widerhallte. »Du wirst verstehen« fuhr Postel fort, »daß jetzt nichts mehr zu sagen ist. So tief schaut keiner in den andern. Finde selbst deine neue Gestalt, die kein anderer Gott dir geben kann, nur du allein. Mir wirst du noch einmal begegnen, aber auch dann wirst du nichts mehr von mir hören, sondern nur schauen. Ob ich noch einmal eine Welt schaffen werde, weiß ich nicht, aber ich will nichts verreden, die Ewigkeit ist lang. Wenn ich es tue, so wird es eine Götterwelt sein ohne Menschenzusatz.«

Postel drückte mir die Hand wie vorher Grödling und Reinhardt, und dann ging er zwischen den Fässern zurück, so daß seine Tritte in den Kellergewölben hallten. In mir waren alle Worte verstummt, aber heiß glühte neues Werden in meinem Blut. Inzwischen erfüllte ich wie eine Maschine die letzten Aufgaben des alten Seins. Ich ging wieder zwischen den Fässern zurück und stieg ans Tageslicht empor. Im Gärtnerhaus fand ich einen Spaten. Der Bock Seidel, offenbar von einem Raubtier zerrissen, schwamm in seinem Blute, an dem sich Fliegen letzten. Ein Rabe, unser alter Kammerjäger, hackte dem Leichnam die Augen aus. Ich lud mir Friedas Leiche auf die beiden Schultern, so wie auf den alten Bildern der gute Hirte das wiedergefundene Lamm trägt, und dann durchschritt ich den Gang, den mir Postel im Keller geöffnet hatte. Nach einer halben Stunde kam ich unter der vermoosten Brücke ans Licht zurück. Ich befand mich in rauschendem Sommerwald. Schnell war in der weichen duftenden Erde eine Grube geschaufelt. Ich legte sie sorgfältig mit Zweigen aus und bettete die Leiche hinein. In der Nähe fand ich Farren, sowie blaue und gelbe Waldblumen in großer Fülle. Damit bedeckte ich die Tote und schaufelte zu. Mit welken Blättern machte ich die Stelle unkenntlich.

Ohne nachzudenken tat ich alles dies. Auch das Weitere ergab sich ohne jedes Besinnen oder gar Zweifeln. Ich nahm vorläufig wieder Dachsgestalt an und grub mir einen verborgenen Bau. Zeitweise vermenschlichte ich mich wieder und ging in die Städte. Einmal mietete ich mich sogar auf vier Wochen in einer nahen Stadt der Voralpen ein, empfing dort Geld und Briefe, wie früher, aß im Gasthaus; in solcher Lage schrieb ich aus pietätvollem Andenken an Postel diese Aufzeichnungen, die man finden soll, wenn ich die Tier-Menschenform ganz verlassen habe, denn dies wird geschehen, sobald der Götterkeim, der mich befruchtet hat, ausgetragen ist. Schon bin ich frei von allem, was Menschen und Tiere berührt, von ihren Tugenden und ihren Lastern, von Idealen und Sehnsucht, von allen Satzungen und Gewissensbissen, doch wandle ich lauschend, ja liebend, aber ohne Verstrickung, zwischen den Wundern des tierisch-menschlichen Seins umher, geführt von einer schattenhaften Hand, der ich mich ganz vertraue. Zu tief war mein Blick ins menschlich-tierische Leben, als daß mich von dort noch irgend etwas verwundern, versuchen oder erschrecken könnte. Für den ist das Einzelne nicht mehr gut oder schlecht, der gottwerdend im Einen Ungeschiedenen lebt.

Mein Bau ist nicht ferne von der alten Stätte des Tierreichs. Sinnend besuche ich sie bisweilen, denn Sinnen ist alles, was ich jetzt tun darf, um das göttliche Wirken in mir nicht zu stören, dessen Erfüllung mir nun gewiß ist, seit ich Postel dort an einem föhnigen Nachmittag noch einmal begegnet bin, wie er verheißen hat. Gesprochen wurde nichts, aber ich habe ihn in seiner Gotttiergestalt geschaut. Von weitem hörte ich zuerst ein Schäumen und Schnauben, wie Meeresbrandung und wie Marschmusik dröhnenden Hufschlag; dann brachen wie von einem Sturmwind die Zweige prasselnd auseinander und vorüber raste mit feurigem Götterblick ein schneeweißes bärtiges Einhorn.

*

Diese Aufzeichnungen wurden dem Herausgeber im Herbst 1916 von Bauern des Alpengebiets übergeben. Unter folgenden Umständen sind sie gefunden worden: Ein Dachs sollte aus einem Bau aufgestöbert werden. Die Hunde waren keck in die beiden Gänge hineingelaufen, um, wie sie in ähnlichen Fällen oft getan hatten, das Tier in seinem Kessel zu stellen; aber unter deutlichen Anzeichen eines außerordentlichen Schreckens, mit Winseln und Beben, waren sie sofort wieder zurückgekommen. Durch nichts ließen sie sich veranlassen, den Bau wieder zu betreten. In der Annahme, es müsse darin irgend ein gefährliches Tier sein, häufte man mit Petroleum getränkten Werg in die Eingänge und über den Bau und legte Feuer an. Plötzlich sah man, wie sich unter dem Brand die Erde hob, als wenn ein riesiger Maulwurfhaufen entstünde. Aus Rauch und Flammen flog rauschend ein gold- und rotgefiederter Vogel von Adlergestalt hervor und erhob sich mit erstaunlicher Schnelligkeit so hoch in die Lüfte, daß er bald nur noch als ferner Punkt zu sehen war. In den Fängen hielt er etwas, das er über den Köpfen der Bauern fallen ließ. Es waren die Blätter, die sie dann dem Herausgeber, als einen »g'studierten Herrn« übergaben. Dieser erhielt schließlich auf die Frage, wie denn der Vogel näher beschaffen war, nur noch die Antwort: »Akkurat so, wie das goldne Viech auf dem Schild von der Versicherungsgesellschaft Phönix«.


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