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Zweierlei Herrschaft

Ein Märchen im Geist Lao-tses

Iktar war der mächtigste Mann im Reich. In der Einsamkeit des Felsengebirges lebend, erfuhr er durch Kundschafter alles, was geschah. Mißfielen ihm Worte oder Taten des Königs und seiner Berater, so gab er ihnen ein Zeichen. Als Bensidech, der Kanzler, z. B. die Macht des Kronrates vergrößern wollte, steckte ihm eines Morgens im Gewühl des Marktes ein Einäugiger einen Brief zu und verschwand wieder in der Menge. Bensidech las nur die Worte: »Gib dein Vorhaben auf.« Er spottete der Warnung und legte dem König Makarek seinen Plan vor. Als er zwei Stunden nach Mitternacht den Königspalast verließ, wurden seine Sänftenträger überrumpelt, Bensidech von Vermummten in ein Gehölz gebracht und dort mit einem Axthieb des kleinen Fingers der linken Hand beraubt. Dann ließ man ihn frei. Bensidech machte die Wut nur noch hartnäckiger; erst recht verfolgte er nun seinen Plan, begab sich aber nur noch mit zahlreichem Geleit ins Freie. Nichtsdestoweniger wurde eines Abends in der Dämmerung sein Troß wieder überwältigt, Bensidech selbst in eine Felsenschlucht geschleppt und dort der linken Hand beraubt. In die rechte Hand wurde ihm ein Zettel gesteckt. Bensidech las: »Das nächste Mal kostet es ein Auge.« Nun nahm Bensidech seinen Abschied und zog sich mit den Seinen in die Stille eines Landhauses bei den Mondteichen zurück, wo er lediglich den Wissenschaften lebte.

Bensidechs Nachfolger war Halela. Mehrere Jahre blieb er unangefochten. Schon lange hatte der König seine Aufmerksamkeit dem Nachbarreich gen Osten geschenkt, das von einer kinderlosen Königin beherrscht wurde. Sie war nicht abgeneigt, König Makarek ihr Land zu vermachen; alle Hoffnungen des Königs schienen sich zu erfüllen, als man gewahr wurde, daß auch der Nachbar gen Norden das Reich der kinderlosen Königin begehrte. Halela fand bald auf seinem Lager, bald in den Taschen seines Gewandes Briefe, deren Herkunft niemand erklären konnte. Darin standen genaue Berichte über die Vorgänge in den Nachbarreichen. In einem solchen Schreiben stand: Erkläre dem Nachbar gen Norden am nächsten Neumond den Krieg. Halela meldete dies dem König, aber der war unentschlossen. Er fürchtete beide Nachbarn würden sich verbünden und ihrer Macht sei sein Heer nicht gewachsen. Der Krieg wurde nicht erklärt. Am Tage nach dem Neumond fand man Halela tot in seinem Bett.

König Makarek kannte wohl Iktars geheime Macht, aber bisher hatte er sie geduldet, weil sie deutlich zu seinem Vorteil wirkte; dieser gewaltsame Eingriff in seine eigenen Entschlüsse indessen erfüllte ihn mit Zorn. Er ließ Iktar vor ein Staatsgericht rufen und drohte, falls er nicht erscheinen würde, sein Nest im Felsengebirge mit Waffengewalt auszuheben. Am Gerichtstag wurden Soldaten bereit gehalten, denn man fürchtete, Iktar möchte, falls er nicht vorzöge, sich in seiner Burg zu verschanzen, mit großem bewaffneten Gefolge erscheinen. Auch beargwöhnte man die vielen geheimen Anhänger, die er in Stadt und Land hatte.

Der Tag des Gerichts kam. Von dem mächtigen Iktar und den Seinen sah man nichts. Als aber der Gerichtshof der Form halber den vermeintlich Ausgebliebenen dreimal aufrief, siehe, da trat ein dünnes kleines Männlein in lumpigem lehmbraunem Gewand in die Schranken und sagte mit fast blödem Gesichtsausdruck in dem verrunzelten Gesicht, das einem vertrockneten Apfel glich: »Ihr riefet den Mönch Iktar, hier bin ich.«

Das Staunen war groß. Seit fast 20 Jahren hatte Iktar in dem Gebirg gelebt und die sich seiner noch erinnerten, trugen sein Bild im Gedächtnis wie eines stattlichen muskelkräftigen Mannes mit langem Kriegerbart und kühnen hellen Augen. Er hatte in seiner Jugend oft im Felde gelegen. Nun waren seine Augen scheu und klein, der Bart verschwunden, der Schädel kahl, von kränklicher gelbrötlicher Farbe. Man richtete an ihm einige Fragen, die er nicht recht zu begreifen schien, und als man ihm schließlich klar machte, er sei vieler Gewalttaten angeklagt, da schüttelte er wie geistesabwesend den kahlen Kopf, und sagte: nein, nein, Gewalttaten begehe er nicht. Dabei schien ihn die Anklage nicht im mindesten zu erregen. »Warum sollte ich es nicht sagen, wenn ich ein Mörder wäre, auch die Mörder sind von den Göttern geschaffen, damit der Kerker Bewohner und das Richtbeil Speise hat, aber ich bin Iktar, der Mönch.«

Der Gerichtshof mußte ihn freisprechen. Auch dies schien keinen Eindruck auf ihn zu machen. Er blieb ruhig auf seinem Platz sitzen, als betreffe dies alles nicht ihn. Ein Diener nötigte ihn dann zum Aufbruch. »Haben sie genug?« fragte er. »Ja, ja, Alter Ihr seid frei, Ihr könnt wieder heimgehen.«

So erhob er sich und verließ die Stadt durch das südliche Tor.

In der nächsten Woche wurde die kinderlose Herrscherin des Reiches gen Osten ermordet. Makarek rückte mit seinen Truppen ein und bemächtigte sich als rechtmäßiger Erbe des Thrones. Den Nachbar gen Norden hatte gerade in jenen Tagen ein schmerzhaftes Siechtum befallen, das ihm alle Entschlußkraft lähmte.

Makarek, der nunmehrige König zweier Reiche, beschloß eine große Kriegsflotte zu bauen. Er berief als Kanzler wiederum Bensidech, der seine Einsamkeit an den Mondteichen ungern verließ. Bald bemerkte er, daß es schwer halten würde, aus dem Volke die Steuern für die Kriegsflotte zu pressen. Makareks Zorn darüber war grenzenlos. Er erklärte: »Schaffst du mir nicht die Mittel für meinen Plan, so kostet es dich den Kopf.« Bensidech erhob die rechte Hand, sowie den Stumpf der Linken und flehte um Gnade, aber der König wollte von Gnade nichts wissen.

Bensidech hatte die Einsamkeit gelehrt, seiner Leidenschaften Herr zu werden. Haß und Rachsucht kannte er nicht. Was er allein noch liebte, war der Friede und die Wissenschaft. So sprach er denn: »Es gibt einen Mann im Reich, o Herr, der Euch die Mittel für alles schafft, wenn es sich um Mehrung der Macht handelt.« »Wer ist es?« fragte Makarek begierig. »Derselbe, dem Ihr den Besitz des Landes gen Osten verdankt: Iktar!« »Wie?« rief der König, »ist das die Wahrheit, was ich mir nicht zu gestehen gewagt?« »Wenn es Euch der selbst sagt, der Iktars Feind sein sollte, weil er ihm die Hand geraubt.« »So ruft Iktar herbei, er soll statt deiner Kanzler werden!« Bensidech atmete auf, und schon weilte seine Sehnsucht wieder bei den Mondteichen.

Iktar wurde ein königliches Handschreiben gesandt, aber noch ehe er darauf geantwortet hatte, traten auf allen Märkten des Landes, in den Schänken und den Hallen der Kaufläden redegewandte Männer auf, die vorschlugen, das Volk solle den König anflehen, huldvollst eine Kriegsflotte zu bauen, um die Handelsschiffe des blühenden Reiches sicher über die See bis an die fernsten Gestade geleiten zu können. Zu seinem Staunen erhielt Makarek zahlreiche solcher Gesuche aus allen Teilen beider Reiche. Von Iktar aber kam die Nachricht: »Der Mönch Iktar begehrt nicht weltliche Macht. Er dankt dem König für seine Huld.«

Dies war das erstemal in der Geschichte des Reiches, daß ein Diener wagte dem Ruf des Königs in ein Amt nicht zu folgen. Makarek überfiel die Wut, die er, aus Mangel an dem wahren Schuldigen, an Bensidech ausließ. Er bedrohte ihn von neuem mit dem Tode, falls die Flotte nicht gebaut werden könne. Aber sie wurde gebaut. Das Volk zahlte willig die Steuern. Nach einem Jahr durfte Bensidech, mit Ehren und Geschenken seines Königs überhäuft, zu den Mondteichen zurückkehren.

Das Land blühte und flößte allen Nachbarn Schrecken ein. Ließ Makareks starker Arm einmal nach, – denn er war mehr von sprunghafter Heftigkeit im Handeln, als von zäher Ausdauer – so erhielt er jedesmal irgend ein blutiges Zeichen. Genügte dies nicht, dann wurde diese Zeichensprache deutlicher. Als Makarek einmal dazu neigte, die Liebeswünsche seines Sohnes zu erfüllen, der eine Prinzessin aus einem armen Fürstentum heiraten wollte, anstatt die Tochter des Königs gen Norden, da wurde eines Nachts Makareks Lieblingsroß von unbekannter Hand erschlagen, und als er dies Zeichen nicht verstehen wollte, lag eines Morgens der Leichnam seines fast vergötterten achtjährigen Töchterchens, das ihm eine Nebenfrau spät geboren hatte, blutig auf dem Teppich des Thronsaals.

*

Alles Treiben der Menschen durchschaute Iktar. Ehe er klug geworden, war er stark von Leib gewesen. Stets von mittlerer, mehr untersetzter Gestalt pflegte er einst den Eber und den Wildstier zu jagen. Auch mit Weibern hatte er sich damals vergeudet, aber dann nach Kriegerart wenig nach ihnen und ihrer Brut gefragt. Als er später das Geheime zu durchschauen begann, erkannte, daß Macht nur im Verborgenen wirkt, und sich in das Felsengebirg zurückzog, da fühlte er auch zum ersten Mal die Hinfälligkeit des Menschenleibs, so daß kein Werk die Mühe lohnt ohne einen Sohn des Wirkenden. Darum verließ er noch manchmal die Einsamkeit und spähte in den Dörfern nach den Hüften, die würdig wären seine Frucht auszutragen zu überschwänglichem Leben. Unter den Tempeldirnen der Mondgöttin, die beim ersten Vollmond des Jahres den Fremdlingen preisgegeben werden sollten – denn der Fremdling steht unter des Mondes Schutz – entdeckte der spähende Iktar die breitbrüstige jungfräuliche Kettara. Er gewahrte sie, wie sie die Kühe der Göttin zur Tränke führte; während das Vieh gierig aus dem Teiche soff, löste Kettara den Gürtel, so daß das Gewand von der Fülle ihres Leibes herab fiel. Dann stieg sie selbst in die Flut, lachte vor Behagen in die sonnige Luft hinaus und spritzte mit dem weißen Fuß das gurgelnd seinen Durst stillende Vieh. Iktar hatte die Mutter seines Sohnes gefunden. In der Vollmondnacht kleidete er sich in ein silbernes Gewand, bespannte einen Elfenbeinwagen mit 12 weißen Gazellen, fuhr zum Tempel und verlangte die jungfräuliche Kettara im Namen der Göttin. Voll Ehrfurcht wurde sie von den Priestern hervorgebracht. Iktar hob sie auf den Wagen und jagte mit der in heiliger Scheu Bebenden in seine Felsenburg. Dort spürte Kettara zum ersten Mal die in Wollust keuchende Brust des Mannes auf der ihren, und in dieser Nacht empfing sie Iktars Sohn Jubal, nicht anders wähnend, als ein Gott habe sie umarmt.

Jubal wurde rauh gehalten. Nachdem er der Brust der Mutter entwöhnt war, ließ Iktar diese, mit Geschenken beladen, in den Tempel zurückbringen. Jubal aber lebte mit Hirten, Fischern und Jägern. Erst nachdem er deren Künste und das Waffenhandwerk genau kannte, lehrte ihn der Vater selbst die Schrift und die Ruhmestaten der Vorzeit kennen. Dann verkündete er ihm das Wesen der Götter und die Bräuche, um ihre Macht zu beschwören, die tieferen Kräfte der Natur, den Gang der Gestirne, die hohe Rechen- und Meßkunst und zuletzt die Geheimnisse der Regierungs- und Staatskunst; Jubal lernte die Regeln des Verkehrs mit Königen, mit Reichen, mit dem Volke. Überall aber wies Iktar darauf hin, wie man dieses Wissen zu seinem Vorteil benützt, indem man schnell die Schwächen der andern erspäht, die Ruhm- oder Genußsucht der Könige, die Eitelkeit der Reichen und die mannigfachen Begierden des Volks. Alles dies nahm Jubal gelehrig auf mit lebhaftem Verstand, als wären es die Regeln eines Schachspiels, das ihn wenig anging. Von dem Weibe aber erfuhr er noch nichts. Seine Freude waren lange Ritte durch die unbewohnten Wälder und Steppen seines Vaters, die von einer hohen Mauer umschlossen waren und an den wenigen Toren von zuverlässigen Wächtern gehütet wurden. Nichts bemerkte Jubal von den geheimen nächtlichen Zusammenkünften in den Gemächern des Vaters, von denen aus die Geschicke des Reichs heimlich gelenkt wurden. Iktars Plan ging dahin, das 18. Jahr des Sohnes abzuwarten, dann, ehe er Brunst litte, ein Weib zu ihm zu legen, ihn allmählich in die Staatsgeheimnisse einzuweihen, hie und da in seinen Diensten zu verwenden und zu üben, zuletzt an einige fremde Höfe zu schicken und ihm schließlich alle die verborgene Macht zu offenbaren und zu übertragen, die er selbst im Reiche besaß.

Aber der kluge Iktar hatte ohne die unvermeidlichen Zufälle der Geschehnisse gerechnet. Einst war Jubal in der Nähe der Mauer einem Eichhorn in eine Baumkrone nachgeklettert. Von hier aus öffnete sich ihm zum ersten Mal ein Blick in die Welt. Er sah auf einen abgelegenen Winkel der Mondteiche, wo einige der Tempeldirnen Linnen wuschen. Sein Blick verwirrte sich, und kaum vermochte er sich fest in den Zweigen zu halten. Eines der Mädchen bemerkte plötzlich den Jüngling in den Zweigen. Sie zeigte ihn den andern, und alle brachen in ein neckendes Gelächter aus. Jubal aber verharrte sprachlos. »Wer bist du denn?« rief eine der Dirnen, »ein Tier oder ein Mensch?« Eine Ältere mahnte die Rufende zur Vorsicht, war es doch bekannt, daß hinter jener Mauer der unheimliche Iktar hauste. »Macht nichts,« versetzte die Junge und trat näher. »Kannst du nicht sprechen?« sagte sie. »Ich kann sprechen,« erwiderte Jubal bestimmt. »Hört ihr, er kann sprechen,« sagte die Dirne zu ihren Gehilfinnen; dann wieder zu Jubal gewandt: »Komm über die Mauer und laß uns zusammen vom Brot der Götter essen.« Nun lauschten alle die Mädchen gespannt auf die Antwort. »Vom Brot der Götter?« fragte Jubal verwundert; »wie wäre das möglich?« »Das wirst du sehen,« versetzte die Sprecherin. Jubal aber erschrak und dachte: »vielleicht sind sie selbst Götter.« Die Wäscherinnen knüpften nun eilig ein paar Tücher mit den Enden aneinander und warfen einen Teil über die Mauer, den andern Teil mit gemeinsamer Kraft festhaltend. Jubal stieg, seines Willens nicht mehr mächtig, vom Baum herab, vergaß sogar vom Boden sein Gewand aufzunehmen, das er der Hitze wegen ins Gras geworfen hatte, und kletterte an den verknüpften Tüchern empor. Mit Jubel begrüßten ihn die Mädchen, als er oben auf der Mauer erschien. Sitzend schwang er sich zu ihnen hinab. Nun stand er unter ihnen in kräftigem Gliederbau, den ganzen Leib mit einem leichten hellen Flaum bedeckt. Wie Weizen war sein Haupthaar, das ihm wie einem Weib auf die Schultern fiel. Die Mädchen umringten ihn lachend und tanzten. Er aber fürchtete sie nicht, auch schämte er sich nicht, nur war er voll von Staunen und Verwunderung. Als aber ihre zarten Hände seine Haut berührten, da erwachte eine Wildheit in ihm, die er selbst nicht begriff. Ihm war, als müsse er sich wehren und wollte um sich schlagen, aber als er die Nächste, dieselbe die zuerst mit ihm gesprochen hatte, heftig ergriff, da fühlte er seine Schlagkraft schwinden. Das Mädchen blieb ihm fast bewegungslos im Arm hängen, die andern stoben auseinander und lachten über den Unerfahrenen. Jene Ältere aber, die zuerst gewarnt hatte, raunte ihm zu: »Folge deiner Freundin unter die Bäume, damit ihr vom Brot der Götter kostet.«

Bis die Sonne dicht über der Fläche des Teiches stand, blieb Jubal bei den Tempeldirnen und genoß mit ihnen Wein, Früchte und vom Brot der Götter. Er fühlte, daß das, was er hier in wenigen flüchtigen Stunden erfuhr, so schwer wog, wie alles, was ihn der kluge Vater in einem langen Jahrzehnt gelehrt hatte. Auch wußte er genau, daß dieses Götterleben mit dem andern nicht vereinbar sei und darum dem Vater verschwiegen werden müsse, der wahrscheinlich von solchen Sachen nichts wußte oder sie aufs äußerste mißbilligte.

Jubal mußte den Mädchen versprechen wieder zu kommen. Der Rückweg über die Mauer war leicht. Dicht an der äußeren Wand standen Bäume, von deren Krone aus die Höhe der Mauer zu erreichen war. Wollte Jubal künftig zu seinen Freundinnen gehen, dann bestieg er den Baum, aus dessen Zweigen er sie zuerst gesehen. Sie warfen ihm wieder die verknüpften Tücher herüber und er kletterte daran hinauf wie das erste Mal. Nicht immer waren es dieselben Mädchen, die dort am Teich Linnen wuschen. Einzelne verschwanden aus den Reihen, dafür kamen neue hinzu, doch alle waren gleich lieblich. Bald hatte Jubal ihre Künste gelernt. Er kannte die 18 Arten der Umarmung und die 23 Arten der Halbumarmung, den Königskuß und den Götterkuß, die 9 Dufträusche und die 6 Safträusche. Er kannte die 500 Strophen der milden und die 800 der feurigen Leidenschaft, die 60 der Sehnsucht, die 14 Wiegetänze und die 7 Wahnsinnstänze. Die Mädchen hatten ihn nichts mehr zu lehren, wohl aber bewarben sich alle um seine Gunst, und aus sich selbst erkannte er die 60 Arten des weiblichen Grolles, die 77 Weisen der Verstellung, die 4 Grade der Falschheit, die 9 Formen der Eifersucht, die natürliche Wärme des Herzens und die künstliche Hitze des Verstandes, das zu stillende Dürsten des Fleisches und den unersättlichen Brand der Phantasie.

Iktar fiel an dem Sohne eine große Veränderung auf. Nicht mehr nahm sein lebhafter Verstand alles gelehrig an wie die Regeln eines Schachspieles, das ihn nichts anging; sondern er widersprach oder billigte. Er weigerte sich, Gelerntes zur Probe zu wiederholen, aber im Gespräch merkte man wohl, wenn ein Samen aufgegangen war. Iktar schien es an der Zeit, dem Sohn eine Beischläferin zu geben, und eines Abends fand Jubal in seiner Schlafzelle, statt des gewohnten Dieners, Heraile, die Tochter eines Hirten. Jubal lächelte, als er sie sah und ließ sich ihre Bedienung gefallen. Wohl verwunderte er sich, daß ihm der Vater zur Bedienung ein Weib sandte – denn nichts geschah ja ohne dessen Befehl –, aber Heraile hielt Iktars prüfenden Blicken nicht stand. Gewiß war sie wohl gewachsen und reinlich, aber ihre Hände waren ungelenk, ihr Geist plump. Nachdem sie ihm die Füße gewaschen, entließ er sie. Wie ein zahmes Tier schlief sie künftig auf einer Matte vor seiner Kammer.

Jubal brannte darauf, diese Neuigkeit seinen Freundinnen am Mondteich zu erzählen. Am folgenden Tag fand er bei den Linnenwäscherinnen eine unbekannte Frau. Sie war bedeutend älter, als alle die Mädchen, doch noch schön und von Götterwuchs. Ohne daß Jubal es gewahrte, beobachtete sie seine Spiele mit den Mädchen, die zu seiner Verwunderung über seine Erzählung unfroh wurden, dann gab sie ihnen ein herrisches Zeichen, so daß sie sich entfernten, eilte auf den erstaunten Jüngling zu, schloß ihn in die Arme und rief: »Jubal, mein lieber Sohn!« Jubal zitterte am ganzen Leib. Er hatte geglaubt, daß er alles wußte von den Frauen, aber was er nun fühlte, war etwas ganz neues. Kettara setzte sich mit ihm unter den Schatten der Bäume und erzählte ihm, daß sie ihn vor 18 Jahren seinem Vater Iktar geboren habe, nun aber Oberpriesterin im Mondtempel sei. Ihr Glück, den Sohn wieder gefunden zu haben und ihn so herrlich erblüht zu sehen, war unaussprechlich. Sie küßte ihn ein um das andere Mal, und er mußte ihr genau erzählen, wie ihn Iktar hielt. »O der Grausame, der Entsetzliche,« rief sie aus. Jubal mußte versprechen, nun jeden Tag über die Mauer zu kommen.

Bisher hatte er die beiden Welten, in denen er lebte, gut auseinander halten können. So wie der Verkehr mit den Tempeldirnen seinen Geist auch für die Studien daheim lebhafter gemacht hatte, so kam ihm wiederum sein lebhafter Geist bei der Beherrschung der Mädchen zu gut. Nun aber war Jubal zum ersten Mal gänzlich verwirrt. Der Weg über die Mauer war kein tändelndes Spiel mehr, sondern er wurde nun Jubals eigentliches Leben; dennoch verzehrte er sich weniger in Unruhe als früher, wenn einmal die Pläne des Vaters den Ausflug unmöglich machten. Er bedurfte nicht so sehr Kettaras häufiger Nähe selbst, als einer Klärung seiner Gefühle zu ihr. Er dachte nicht so sehr an ihre Gestalt, als daß ihr Wesen völlig von ihm Besitz ergriffen hatte, ihn mit einer Sehnsucht erfüllte, die kein bestimmtes Ziel hatte und ihn doch zu Zeiten in der Einsamkeit des Waldes vollkommen glücklich machte. Das Einzige, was ihm mit immer größerer Deutlichkeit klar wurde, war der in ihm wachsende Haß gegen den Vater. Er begann den welken Körper des Greises, vor allem aber seine eintönige Stimme immer widerwärtiger zu empfinden. Seine kalten Lehren, wie man die Menschen beherrscht, konnte er kaum mehr mit anhören; eines Tages ließ seine Ungeduld die Worte herausfahren: »Und was ist diese Welt, deren Gesetze du mich lehrst? Du sagst mir von ihr nur, daß ich sie beherrschen soll, aber warum, was ist sie selbst, woher kommt sie und wohin zieht sie? Warum verheimlichst du mir dies, so daß alles, was du sagst, hohl wird? Hast du mich nicht mit einem Weib gezeugt? Wo hältst du dieses Weib gefangen? Warum darf ich nicht Mutter zu ihr sagen? Warum durfte ich kein Weib sehen? Was hast du mit mir vor? Warum umspinnst du mich mit Lügen?«

Von diesem Ausbruch wurde Iktar so betreten, wie einst, als er wegen seiner Verbrechen vor dem Staatsgericht stand. Nur dieses Mal war seine Scheu nicht Verstellung.

»Was denn für Lügen?« sagte er kleinlaut. »Habe ich dir nicht ein junges Weib beigelegt?« »Jene Magd?« rief Jubal höhnend. »War dies die Meinung? Nun so wisse, daß ich sie nicht berührt habe, daß sie wie ein Hund vor meiner Tür schläft.«

Iktar erschrak. Wenn dies die Wahrheit war – und daran ließ Jubals Ton für den alten Kenner aller menschlichen Verborgenheiten keinen Zweifel – dann hatte der Sohn eine andere Quelle, aus der er Erkenntnis schöpfte, und damit war das ganze Erziehungswerk untergraben.

Jubal war nach seinen Worten hinausgeeilt. Entschlossen, nie mehr wiederzukehren, begab er sich nach den Mondteichen. Dort fand er Kettara, der er alles berichtete und erklärte, künftig bei ihr bleiben zu wollen. Kettaras Herz jubelte, und sie vergoß Tränen der Rührung, aber den Sohn bei sich behalten konnte die Oberpriesterin nicht. Ihr verbot das Tempelgesetz jeden Anhang. Sie ließ daher den alten Gelehrten Bensidech zu sich bitten, mit dem sie, seit er an den Mondteichen wohnte, Freundschaft verband. Ihm allein hatte sie einst ihren Kummer anvertraut, als sie, von Iktar ihres Sohnes beraubt, zu den Tempeldirnen zurückgeschickt worden war. Er, der ja auch ein Opfer des Mächtigen war, verstand sie zu trösten. Er weihte sie ein in die tieferen Geheimnisse des Monddienstes, und empfahl nach drei Jahren dem König, sie zur Oberpriesterin zu ernennen. Durch jene Geheimnisse werden dem Erkennenden alle die Bilder des fleischlichen Lebens, woran die Sinne hängen, zu Gleichnissen eines tieferen Sinnes, der alles Begehren und Sehnen in höherer Schau zum Schweigen bringt. So hatte Kettara aufgehört an ihrem Mutterschmerz zu leiden, ohne darum zu den gemeinen Mitteln des Unterdrückens und Vergessens greifen zu müssen. Als Bild hatte ihn ihr Gedächtnis vielmehr treu bewahrt. Nun, da sich durch Jubals Erscheinen das Bild wiederum zu bewegen begann, begriff sie dies als Zeichen der Göttin. Sie gab sich ihrem Muttergefühl hin, nicht ohne das deutliche Gefühl, daß dies alles etwas anderes, ja viel mehr war, als das, was ihr in der Erscheinung widerfuhr.

Der greise Bensidech freute sich des Jünglings und nahm ihn auf Kettaras Bitte in sein nahes Haus auf, von wo aus der Sohn die Mutter fast täglich besuchen konnte. Bensidech versuchte Jubal leise mit seinen Geheimnissen bekannt zu machen. In der Morgenfrühe ließ er ihn gen Osten blicken, ehe zwischen zwei einsamen Felsen der blutigrote Sonnenball emporstieg, und lehrte ihn, das, was er sah, aus der einfachen Wahrnehmung zum Bild zu gestalten, und dabei zu denken: »Dies bin ich nicht!« Dann mußte er auf seinen eigenen Leib schauen und denken: »Auch dies bin ich nicht!« Wenn man dies immer wieder geduldig getrieben hatte, dann kam nach Bensidechs Lehre eine Stunde, in der alles in sein Gegenteil übersprang und der Versenkte fühlte: »Dies alles bin ich. Ich bin der Schöpfer.« So erkannte Bensidech das, wovon die Bilder nur Gleichnisse waren, indem er die Bilder zuerst sich selbst entfremdete, um sie dann in ihrer tieferen Bedeutung wiederzufinden. »So aber wie du den Sonnenaufgang betrachtest«, lehrte Bensidech, »so betrachte alles andere, deinen Haß gegen den Vater und das, was dir das Teuerste ist – ich sage nicht: deine Mutter – sondern deine Liebe zur Mutter, denn deine Mutter ist geschaffen durch deine Liebe, und auch diese Liebe ist noch Bild einer ganz anderen Liebe, über die nichts zu sagen ist, denn was man noch sagen kann, das ist sie nicht, sondern auch höchstens Bild von ihr.«

Jubal hörte voll Ehrfurcht diese Lehren. Er folgte ihnen und betrachtete in der Frühe die Morgenröte und seinen Haß und seine Liebe. Er betrachtete seine arme Vergangenheit, das kurze Spiel mit den Mädchen am Teich und die Fülle seiner Gegenwart zwischen dem verehrten Greis und der geliebten Mutter, aber das, was Bensidech erwartete, trat nicht ein. Wohl lebte sein Geist zwischen Bildern, aber je inniger er sie betrachtete, desto tiefer glühten sie auf, desto heißer umarmte er sie, desto weniger vermochte er zu denken: »dies bin ich nicht.« Eines Tages aber sagte er zu Bensidech: »Längst bin ich am Ziel. Nicht bedarf ich des Umweges der Entfremdung der Bilder, denn schon jetzt fühle ich: dies alles ist mein, die Sonne im Felsentor, deine Güte und Weisheit und die Liebe meiner Mutter. O Bensidech, dank deinem Schutze bin ich glückselig und will nichts sonst. Und zu meinem Glück gehört auch der Haß gegen den Vater; wie könnte ein Mensch der Liebe und Sonne so genießen, der nicht früher die Wüste und den Schatten gekannt hätte?«

Bensidech lächelte und sagte: »Aus dir spricht die Verblendung der Jugend. Da hilft keine Lehre. Gehe hin und sei fröhlich, aber du wirst viel leiden müssen. Dein Glück steht auf schwachen Füßen. Ich werde bald sterben, wo bleibt dann dein Schutz? So lange deine Liebe am Bild der Mutter haftet, hängt sie am verweslichen Fleisch. So lange deine Blicke die aufgehende Sonne brauchen, um das Unendliche zu schauen, bedarfst du des klebrig-wässerigen Dings, das man Auge nennt. Alles dies aber ist Schein. Ich weiß eine Geborgenheit über allem Schutz, eine Liebe über allen Bildern und eine Erkenntnis über allen Sinnen. Der Unterschied deines früheren und deines jetzigen Lebens ist nicht so groß wie du wähnst. Noch stehst du auf derselben Kugel, nur am andern Pol. Dein Vater Iktar lehrte dich die Macht, bei deiner Mutter Kettara fandest du die Liebe; aber in beiden Fällen lebtest du in den Bildern. Ziel war erst Macht über die Bilder, nun ist es Liebe zu den Bildern. Vielleicht wirst du eines Tages wieder in die Macht und dann wieder in Liebe zurückfallen und so fort, aber auf diese Weise gibt es keine Erlösung. Wer über den Bildern ist, der schwankt nicht mehr, sondern er hat Liebe und Herrschaft zugleich. Bis du das verstehst, mußt du dich wohl noch lange gefreut und noch lange gelitten haben. Nun plage dich nicht länger, dem Unendlichen ein Geheimnis abzutrotzen, für dessen Besitz du noch zu jung bist. Mein Werk ist getan, wenn ich dir für immer ins Gedächtnis gegraben habe, daß es diesen Weg zum Heile gibt, und du wirst dich seiner erinnern, wenn um dich einmal die Bilder zu schwanken beginnen.«

So sprach Bensidech. Jubal aber lebte noch zwei Jahre fröhlich zwischen ihm und der Mutter und las mit ihm die Dichter. Diese begriff er besser als die Lehren Bensidechs selbst. »Sie besitzen die halbe Wahrheit,« sagte Bensidech, »wohl vermögen sie die Bilder aus sich herauszustülpen und sich einen Augenblick als ihre Schöpfer zu fühlen, aber dadurch, daß sie die Bilder in Werke gießen, haften sie sich selbst wieder fest an sie. So vermehren sie nur die Bilder und das Feste um sich und halten sich immer wieder zurück vor dem Sturz ins ewig Fließende. Wohl sind die Dichtwerke Stufen zum Heil, aber auch zugleich Mauern, die es verhüllen. Wer über sie hinaus kommt, dem sind die Dichter führende Genien, wer aber bei ihnen verweilt, dem sind sie fesselnde Dämonen.«


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