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Herr von Hiergeist hat einen Gast

Novelle

»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.«
Goethe Faust II.

Der kaiserliche Gesandte Josef von Hiergeist war von dem kleinen nordischen Hof, bei dem er bisher beglaubigt gewesen, zurückgerufen worden, und befand sich gerade einige Tage in der Hauptstadt, auf der Durchreise nach seinem neuen Posten im Orient. Seit etwa 10 Jahren war ihm alles nach Wunsch gegangen; der Aufstieg seiner Laufbahn, eine glückliche Heirat, drei vielversprechende Kinderchen, alles das war Schlag auf Schlag gekommen, und nun wurde der knapp Vierzigjährige für eine der verantwortungsreichsten Stellen bestimmt, wo man von ihm das Besondere verlangte. Schnell hatte er die Familie an die Küste gebracht, wo sie den Rest des Sommers verweilen sollte, um ihm erst im Herbst an seine neue Wirkungsstätte zu folgen. Alles war aufs beste geordnet, und dennoch hatte sich des Herrn von Hiergeist seit der neuen Ernennung eine Schwermut bemächtigt, die ihm zuerst als etwas ganz Fremdes erschien, sich bald aber als eine alte Bekannte herausstellte, die ihn in der Zeit der Jünglingsreife, und dann wieder am Ende seiner zwanziger Jahre heimgesucht hatte, als es sich fragte, ob er wirklich sein Leben dem Staatsdienst widmen oder in der Einsamkeit auf seinem fränkischen Gut vergraben solle. Zu dieser Möglichkeit des Entscheids trieben ihn seine Jagd- und Naturliebe, sowie ein ausgesprochenes philosophisches Bedürfnis, als er sich in eine junge Baltin verliebte, die hübsche, gesellschaftliche Erika von Pforten, die bald seine Frau wurde; um ihrer Neigungen willen erhielt für ihn das weltliche Leben einen neuen mittelbaren Sinn. So entschloß er sich zum diplomatischen Dienst. In dieser Lebensluft entwickelte sich Erika bald durch Liebenswürdigkeit und Takt zu dem Typus der Diplomatenfrau, wie sie zum Nutzen der Heimat sein soll. Fehlte es den stets freundlichen Beziehungen der beiden Gatten etwas an engvertrauter Herzlichkeit, so machten das die drei munteren blonden Kinder wieder gut. Herr von Hiergeist galt für einen der glücklichsten Menschen, der über alle inneren und äußeren Nöte hinaus war. In der Tat quälte ihn kein Ehrgeiz, noch sonst ein hitziges Verlangen; er hatte die Gaben des Glückes stets in Ruhe hingenommen und darum neidlos auch jedem Anderen das Seine gegönnt. Klatsch und Ränke der ihn umgebenden Welt, die er klug übersah, reichten nicht an ihn heran.

Trotz alledem hatte ihn nun wieder jene frühere Schwermut überfallen. Als er in ihr das alte Gespenst erkannte, erschrak er heftig. Einst hatte er es gut zu bannen gewußt, das erstemal durch das bunte Leben, das den Jüngling in der akademischen Freiheit bald reich umfing, das zweitemal durch seine Liebe zu Erika von Pforten. Welche Kraft sollte ihm jetzt zu Hilfe kommen, da er doch alles schon besaß, was man wünschen konnte?

In der Nähe der Linden gab es einen halb verborgenen Gasthof, den die Hauptstädter nicht kennen, da er ihnen in seiner prunklosen Vornehmheit »power« erscheinen würde. Dort stieg vorzugsweise süddeutscher, österreichisch-ungarischer und polnischer Adel ab und die höhere katholische Geistlichkeit; zu den Mahlzeiten erschienen mehrere Herren der verschiedenen Bot- und Gesandtschaften. In diesem Haus wohnte auch Herr von Hiergeist in einem graugrünen, eiförmigen Zimmer mit weißen Halbsäulen an den Wänden, wie es wohl in der ganzen Hauptstadt kein zweites gibt. So bequem alles eingerichtet war, dem modernen Geschmack hatte man keinerlei Zugeständnisse gemacht. Ein heller Porzellanofen, breite Tüllvorhänge, ein hoher Empirespiegel zwischen den Fenstern und das alte Mahagonibett, alles dies versetzte in die vorbismärckische Zeit. Dazu trug ein verblichenes Ölbild bei, das den König Wilhelm mit der Königin Augusta in Krinoline darstellte. Sie glichen einem gemütvollen Ehepaar, das selten seinen stillen Landsitz verläßt, in der Stadt zwar wohl weiß, was sich in Haltung und Kleidung schickt, aber ohne im mindesten tonangebend zu sein. In dieses eiförmige Gemach drang der Großstadtlärm in ferner Dämpfung, da es in einem Bogen über einem nur dem Fußgängerverkehr geöffneten Hofe lag. Dorthin war nun Herr von Hiergeist in einer nassen Augustnacht heimgekehrt, die schon die Vorahnung des Herbstes wachrief. Beim Pförtner lagen drei Briefe für ihn. Gleichgültig las er sie. Erika schrieb glücklich aus dem Bad über die Gesundheit der Kinder, über sich selber und einige gerade für den neuen Wirkungskreis wertvolle Beziehungen, die sie angeknüpft hatte. Der zweite Brief war von dem Gut in Franken und berichtete von einer überraschend guten Ernte. Der dritte enthielt die Mitteilung eines Bekannten, daß Herrn von Hiergeist vor seiner Abreise noch ein hoher Orden zugedacht war. Er warf die drei Briefe auf den Tisch, voll Grauen vor seinem Glück, das den in ihm brütenden Trübsinn zu höhnen, ja herauszufordern schien.

Als er wieder aufblickte, sah er sich selber in ganzer Gestalt im Spiegel. »Was ist das für ein Mensch?« fragte es in ihm, und je mehr er dem hohen Spiegelbild ein vortreffliches Aussehen, geschmeidigen Wuchs, edle Gesichtszüge, eine klare Stirn und lichte warme Augen zusprechen mußte, desto weniger schien sein Selbst damit zu tun zu haben. »Was ist das für ein Mensch?« fragte es wieder in ihm. Da trat das Bild aus dem Spiegel heraus, setzte sich auf einen der dunkelgrünen Polstersessel und sagte:

»Plaudern wir ein wenig.«

»Warum nicht?« antwortete Herr von Hiergeist und nahm seinem Gast gegenüber Platz.

»Sie sind nicht zufrieden?« begann jener.

»Nein, das bin ich nicht.«

»Was wollen Sie eigentlich?«

»Ich will gar nichts.«

»Das ist allerdings tragisch, wenn man alles hat und nichts will. Häufiger kommt das Gegenteil vor.«

»Mag sein. Sagen Sie einmal, sind Sie eigentlich wirklich?«

»Das ist eine indiskrete Frage,« erwiderte der Gast lächelnd, »besonders für einen Diplomaten.«

»Ich bin kein Diplomat«, erklärte Herr von Hiergeist entschieden, doch ohne Trotz.

»Auf einmal also nicht?«

»Ich war es nie. Sie sind einer und wollen mir nur einreden, ich sei einer, ich sei Sie ...!«

»Nun, das sind Sie doch auch,« erwiderte der Andere mit herzlos spöttischer Überlegenheit.

»Nicht im geringsten, mein Lieber.«

Der Andere wurde unsicher. Herr von Hiergeist schwieg und verfolgte die Verwirrung auf dem Antlitz des Gastes aufmerksam. »Merkwürdig«, dachte er, »man braucht es ihm nur einmal entschlossen ins Gesicht zu sagen, und schon wird er schwankend. Nun aber nicht mehr locker lassen! Wer weiß, wann er mir wieder einmal so fest in die Hände gerät?« Der schweigende Blick des Herrn von Hiergeist schien den Andern immer mehr aus der Fassung zu bringen. Er versuchte es, durch Geschmeidigkeit die Lage für sich zu retten, und schien sich vertragen zu wollen: »Woher wissen Sie denn das auf einmal, daß ich nicht Sie bin, bisher hat es doch darüber keinen Zweifel gegeben?« »Zweifel hat es allerdings gegeben. Das erstemal, ehe ich auf die Hochschule zog, das zweitemal vor meiner Ehe, das drittemal seit etwas 14 Tagen; nur die Gewißheit hat mir gefehlt, daß Sie und ich nicht derselbe sind.« »Und jetzt?« fragte der Gast ängstlich. »Jetzt habe ich die Gewißheit, seitdem dieser Spiegel Sie aufgefangen hat und Sie Ihren letzten Trumpf auszuspielen gedachten, indem Sie heraustraten, um mich ...«

Herrn von Hiergeist wurde plötzlich so bang, daß er kaum mehr sprechen konnte. Erst jetzt, beim Antworten, merkte er, in welcher Gefahr er geschwebt, aus der er sich mit unbewußter Instinktsicherheit gerettet hatte. Er faßte sich an die Kehle und machte eine Bewegung, die das Würgen ausdrückt.

»Wie?« schrie der Andere auf, »Sie wollen doch nicht behaupten, daß ich Sie ermorden wollte?«

»Doch,« sagte Herr von Hiergeist mit plötzlich wieder gefundener Ruhe, »das behaupte ich.«

»Unerhört!« antwortete der Gast und beteuerte seine Unschuld, aber seine Aufregung verriet das schlechte Gewissen.

»Machen wir uns nichts vor«, fuhr Herr von Hiergeist fort. »Ich behaupte nicht, daß Sie mich erwürgen wollten. Ihre Mittel zum Morden sind das Geschwätz, die Überredung, die Täuschung, die Verblendung.«

»Ah«, rief der Andere befreit, »darüber läßt sich reden. Alles, was Sie da sagen, sind einseitige Urteile, die eben so gut falsch wie richtig sein können. Erörtern wir also redlich, wer recht hat, Sie oder ich.« »Nein, das werden wir bleiben lassen; wenn ich Ihnen den Gefallen täte, dann hätten Sie bald wieder Oberwasser. Das ist aber gerade mein Vorteil, daß ich Sie nun durchschaut habe, ihre Advokatenzunge kenne. Daß Sie alles Schwarze weiß und alles Weiße schwarz machen können, ist mir bekannt. Was beweist also Ihr Schwarzes und Ihr Weißes? Es kann ja manchmal richtig sein, aber die bloße Tatsache, daß es von Ihnen kommt, macht es unbrauchbar. Ich werde künftig überhaupt nicht mehr auf Sie hören, sondern meiner eigenen Eingebung folgen.« »Wenn Sie das können, versuchen Sie es,« lachte das Gespenst, »aber Sie werden mich nur zu nötig brauchen. In einer Viertelstunde werde ich Sie meine Müdigkeit fühlen lassen. Wie werden Sie mich dann anflehen, Ihnen den Schlummer zu geben! Morgen werden Sie den Hunger meines Leibes spüren. Werde ich Ihnen nicht für Nahrung und Verdauung sorgen müssen ...?«

»Nicht für mich, sondern für Sie. Sie sind der Schläfer, der Fresser, mit einem Wort: Das Tier.«

»Mag sein, mag sein,« lächelte der Andere wieder ganz überlegen; aber nur durch Sie werden meine Lüste und Nöte bewußt, und darum ist es für Sie von höchster Wichtigkeit, ob ich Lust oder Not empfinde.«

Herr von Hiergeist fühlte sich in einer Sackgasse. »Nun sehen Sie«, sagte das Gespenst, »wie ich der Herrscher bin. Überlasse ich Sie jetzt sich selbst, dann bringen Sie sich am Ende heute Nacht vor Verzweiflung um. Damit ist aber weder Ihnen noch mir gedient: mir nicht, denn dann wäre das mir sehr erhaltenswerte Band zwischen uns allerdings durchschnitten, Ihnen nicht, denn sofort werden Sie mich mit jemand anders verknüpft sehen, da Sie ja allein unmöglich existieren können, und weiß Gott, was für einen Teufel Sie dann als Genossen bekommen! Da können Sie mit mir noch recht zufrieden sein. Weder bin ich ein Fresser noch ein Schläfer, wie Sie sagen, vielmehr nur ein Feinschmecker und ein Freund des Behagens. Ich habe gar keine ungewöhnlichen Leidenschaften; weder bin ich ein Wollüstling, noch ein Ehrgeiziger, vielmehr zeichnet mich Maß in allen Dingen aus. Wir sind ja auch bisher immer gut miteinander gefahren. Wenn nicht Ihr unseliges – wie soll ich sagen? – metaphysisches Bedürfnis wäre, könnte unser Verhältnis geradezu für vorbildlich gelten, und es gilt auch so bei allen, die uns zusammen sehen. Nun werde ich Ihnen gleich wieder einen Beweis meines Wohlwollens geben. Ich fühle eine große Müdigkeit in mir heraufziehen; sehen Sie, Sie gähnen auch schon. Wir werden in diesem behaglichen Mahagonibett herrlich schlafen. Morgen früh schreiben wir an Frau Erika und die Kinderchen, loben in einem Brief den Gutsverwalter und stellen einmal fest, was es mit dem Orden auf sich hat. Wir speisen im Klub. Nachmittags besuchen wir die hübsche Fürstin Z., die schon telephonisch nach uns gerufen hat. Welch ein Zufall, daß sie um diese Zeit in der Stadt ist; und woher sie nur weiß, daß wir hier sind? Abends gehen wir in die Oper – nein, wir warten lieber erst ab, wie der Nachmittag mit der Fürstin verläuft. Man soll den Abend nicht vor dem Tag festlegen.«

»Sie sind ein alter Spitzbube!« lächelte Herr von Hiergeist, während er sich entkleidete. Der Gast war wieder in den Spiegel zurückgetreten und lächelte gleichfalls. Herr von Hiergeist schlief ein.


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