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4. Kapitel.

In der Stadt New York verbreitete sich im Lauf des Nachmittags die Nachricht, der größte Dampfer der Welt habe bei seiner Jungfernreise Schiffbruch gelitten. »Eine der üblichen Übertreibungen«, dachte man, »die ungeheuren Maschinen sind jedem Orkan gewachsen, Zusammenstöße verhindert auch im dichtesten Nebel die drahtlose Telegraphie. Vielleicht ist der unversinkbare Dampfer irgendwo aufgelaufen und beschädigt. Aber so etwas ›Schiffbruch‹ zu nennen, lächerlich!« Gegen Abend konnte auch schon die Gesellschaft mitteilen, die Unglücksbotschaft habe sich glücklicherweise nicht in dem anfangs gefürchteten Umfang bestätigt. Sämtliche Reisende und Mannschaften seien gerettet dank der raschen Hilfe, die zahllose, durch Funkspruch herbeigerufene Schiffe dem durch einen Eisberg gefährdeten Riesendampfer geleistet hätten – wieder ein Triumph der drahtlosen Telegraphie und des glänzend bewährten neuen Schottensystems, wodurch die beschädigten Schiffsteile durch wasserdichte Türen sofort abgesperrt würden; so sei der »Halbgott« imstand trotz seinen Teilzerstörungen aus eigener Kraft dem sicheren Hafen zuzustreben. Berichterstatter veranstalteten telephonisch Rundfragen bei Sachverständigen, welche alle darin übereinstimmten, daß ein Schiff wie der »Halbgott« unversinkbar sei. Dies las man in den Abendblättern.

Gegen Mitternacht waren die Hauptstraßen wie gewöhnlich von den aus den Theatern und Musikhallen Zurückkehrenden überflutet. Unter dem betäubenden Geschrei wurde von Horden schmutziger Buben noch feuchtes Druckpapier verteilt mit dem Bericht, der »Halbgott« sei gegen Morgen gesunken, fast alle Reisende hätten den Tod gefunden. Der vorwiegend elegant gekleideten Masse bemächtigte sich ein Zittern, als sei ihr Glaube an alles das getäuscht worden, worauf ihr ganzes Dasein, ihre Arbeit, ihre Genüsse, ihre Frauen, Pelze und Brillanten beruhten. Es war wie der erste, unterirdische Stoß eines Erdbebens. Schnell aber fanden die anfänglich Fassungslosen eine Richtung für ihre chaotische Erregung. Plötzlich schien allen, der Schiffbruch sei gar nicht das Schlimmste, sondern die Lügenhaftigkeit, mit der man ihn den Tag über verheimlicht hatte. »Sind wir Kinder, denen man die Wahrheit verbergen muß?« riefen viele, und nun hatten alle diese Hilflosen plötzlich etwas zu tun, nämlich zu beweisen, daß sie keine Kinder seien. Zu diesem Zweck standen auf Plätzen und in hellen Sälen der großen Gasthöfe sofort Sprecher auf und versammelten Beifall Rufende um sich. »Hört, hört«, »Schande, Schmach« tönte es aus den Massen zwischen die Worte der Redner. Manche setzten schriftliche Proteste auf gegen die Schiffahrtsgesellschaft und sammelten Unterschriften. Jeder amerikanische Mann und jede amerikanische Frau fühlte in diesem Augenblick, wie es auf sie ankam. Die Herren reichten den von Ringen blitzenden Frauenhänden, die aus zarten Handschuhen schlüpften, ihre Füllfederhalter.

Am dichtesten drängte sich die Menge vor dem 24stöckigen Bau der Gesellschaft selbst. Hier herrschte das niedere Volk vor: oft aber drängten sich Herren und Damen zwischendurch, um den Eingang des Hauses zu erreichen. Journalisten im Zylinder gingen mit verantwortungsvoller Miene aus und ein. Manche sprachen, wurden aber derart überschrien, daß nur die Nächststehenden etwas verstanden. Der Vizepräsident der Gesellschaft hatte den Journalisten versprochen, die volle Wahrheit zu sagen, er hoffe bald Gutes berichten zu können, da man mit vielen Schiffen in Verbindung stehe, die Botschaften vom »Halbgott« erhalten hatten, aber die Zahl drahtloser Äußerungen sei so groß, daß die auf den Dampfern arbeitenden Beamten offenbar verwirrt seien und die vielfach sich kreuzenden Fragen teils als Antworten weitergegeben hätten. Dies möge man doch einsehen und entschuldigen. Schwer beklagte sich der Vizepräsident über den Mißstand, daß zahllose Privatleute aus Liebhaberei auf den Dächern ihrer Häuser drahtlose Telegraphenstationen hätten, die Nachrichtenbruchstücke auffingen, willkürlich zusammensetzten und dadurch die allgemeine Verwirrung steigerten.

So war es möglich, daß kurz nach Mitternacht bereits alle größeren Zeitungen ausführliche Berichte gaben. Die republikanischen Blätter malten wie auf Verabredung in den schwärzesten Farben, die demokratischen in den rosigsten. Diese versprachen die Rettung der überwiegenden Mehrheit, als werde das in den geheimnisvollen Räumen der Zeitungspaläste entschieden. Einige zweifelten sogar noch an dem Untergang des Schiffes. Manche parteilose Blätter hatten die Parole, die Schiffahrtsgesellschaft anzugreifen. Sie wisse mehr, als sie sagen wolle. Corruption! 24 Stunden lang sei das Unglück verheimlicht worden, um vorher die Rückversicherung der eigenen Interessen und der befreundeten Verfrachter durchführen zu können. Diese Blätter wußten bereits, daß zwölf Millionen Briefe und für über 100 Millionen Dollars Edelsteine untergegangen seien. Eine einzige Reisende hatte beim Betreten des Schiffes dem »purser« Schmuck im Wert von drei Millionen abgegeben. Das Schiff sei so groß gewesen, daß man darauf Hasenjagden veranstaltet hätte. Die Geretteten seien alle Reisende erster Klasse, darunter, wie man höre, der Papst, der beabsichtige, dem Präsident der Vereinigten Staaten einen Besuch zu machen.

*

Vor dem Palast der Gesellschaft wächst die Menge gegen Morgen mit jedem ankommenden Untergrund und Hochbahnzug. Mehrere Dutzend Wachmänner müssen die Eingänge freihalten für die Verwandten und Freunde der Reisenden. Alle fragen nach der sogenannten »Schreckenskammer«, wo die neuesten Berichte zuerst ausgehängt werden. Die Namen der angeblich Geretteten sind meist unverständlich, die Vornamen sind verwechselt. Miß Hanny Balyoung gilt für gerettet, aber ein Mr. Hannibal Young wird gesucht. Ein Herr Mirfanti soll am Leben sein, aber eine Mutter zittert um Miß Fanti. Die beiden Schwägerinnen des Richters Nasersill stehen deutlich auf der Liste, nicht aber seine Frau, die mit ihnen dieselbe Kajüte hatte. Viele werden ohnmächtig, als beim Verlesen neuer Listen die gesuchten Namen nicht vorkommen, andere warten totenbleich in verhaltener Erregung, einige knien weinend am Boden, laute Dankgebete ausstoßend. Am schlimmsten sind die Smiths und Browns daran. Natürlich sind viele mit diesem Namen gerettet, aber wer weiß, ob es die Ersehnten sind. Die Gattin eines großen Bankherrn stellt unbegrenzte Mittel zur Verfügung für einen Sonderdampfer, der ihren Sohn lebend oder tot bringen soll.

Dauernd wird der Name des Vizepräsidenten gerufen. Als er sich einen Augenblick zeigt, wird er ein Lügner genannt. Um 11 Uhr schließt er sich in seine Kanzlei ein und weigert sich, wieder hervorzukommen. Dies verursacht Zornausbrüche in der Schreckenskammer. Die erbitterte Menge wirft Steine in die Fenster, so daß die Schreibtische in die Tiefe der Zimmer gerückt werden müssen. Alle zwei Stunden erscheint ein feierlicher Herr, ein Beauftragter des Präsidenten der Vereinigten Staaten, der durch so eifrige Einholung der Neuigkeiten seine warme Anteilnahme beweisen will.

Immer malerischer werden inzwischen die Berichte der Zeitungen. Man spricht von über 20 Eisbergen, deren Größe genau in Ziffern angegeben wird. Mit allen Einzelheiten schildert man den Todeskampf in der eisigen Flut zwischen Wracks und Trümmern, Heldentaten und Gemeinheiten. Photographische Einzelheiten von der Unglücksstätte begleiten den Text. Niemand fragt, wie das möglich ist, da ja die Technik alles vermag.

Gegen Mittag kamen endlich die ersten sachlichen Nachrichten des Van Broedermann. Der authentische Bericht des Komitees der Überlebenden erschien, und dann eine vollständige Liste der 800 Geretteten von 5000. Namensmißverständnisse ließen sich durch Gegenfragen nun schnell aufklären. Den ganzen Nachmittag noch ertönten in dem Palast der Gesellschaft Freudenausbrüche und Jammerrufe, aber die Gewißheit, wenn sie auch schrecklich war, beruhigte sofort die ganze Stadt. Abends erfüllte dünner Nebel und eisiger Regen die Straßen von Newyork. Die Nachricht kam, daß der van Broedermann trotz dem Nebel mit Volldampf weiterfahre, weil der Zustand mancher an Bord befindlichen Geretteten jede Verzögerung gefährlich erscheinen lasse. Zwei Straßenviertel in der Nähe der Landungsstelle wurden polizeilich abgesperrt. Nur die Angehörigen der Reisenden und selbstverständlich die Berichterstatter und Photographen erhielten Einlaßkarten. Längs der Straßen, die zu den Docks führten, fuhren lange Reihen von Ambulanzen. Die Ärzte erwarteten etwa 250 dringend hilfsbedürftige Personen. In einem Schuppen waren etwa 150 Särge aufgestellt. Fuhrwerke mit Pferden und Automobilen harrten in langen Reihen. In den naheliegenden Spitälern wurden Säle bereit gehalten. Frauenausschüsse der Einwanderungsbehörden erwarteten die Zwischendecker, die nicht von Verwandten aufgenommen werden konnten. Alle Flaggen auf den im Hafen befindlichen Schiffen und Gebäuden wurden auf Halbmast gesetzt.

*

Bebend wartet die zur Landungsstelle zugelassene Schar im feinen Abendregen auf ihre Angehörigen. In den Schuppen wird unter Leitung von Ärzten fieberhaft gearbeitet, um den schnellen Transport der Verwundeten auf Bahren zu ermöglichen. Gespenstisch ragt eine drehbare Luftbrücke empor, über welche die Ankömmlinge den Dampfer verlassen sollen. Für die Reisenden der l. Klasse sind Pfähle mit großen Buchstaben errichtet, wo sich die Angehörigen nach dem Alphabet aufstellen sollen; aber es entsteht Verwirrung. Ein Thaumthorpe wartet auf eine Chas-Minanhan. Hat er sich unter T. oder C. aufzustellen? Natürlich unter C.; aber unter denen, welche es bisher von selbst richtig gemacht haben, entsteht das Gerücht, sie stünden falsch, die Namen der Wartenden seien maßgebend. Alles läuft wieder durcheinander. Gegen 11 Uhr wird die Spitze des dunkeln Van Broedermann sichtbar. Das Docken vollzieht sich schnell. Nach fünf Minuten wird die Laufbrücke hochgezogen. Photographen haben Laternenstangen und Pfähle erklettert. Unaufhaltsam flammen Blitzlichter auf und blenden die Blicke der sich Suchenden. Vom Verdeck wie vom Land aus streben Hunderte von Augen vergeblich die dunstige immer wieder grell zerrissene Regenluft zu durchdringen.

Zuerst ergoß sich ganz unerwartet von einer unbeachteten Stelle des Dampfers aus ein Strom von Zwischendeckern, die, im Augenblick, als sie festen Boden unter den Füßen fühlten, schnellstens irgendwohin liefen. Dadurch versperrten sie den Platz zwischen Ankömmlingen und Angehörigen, die sich nicht erkennen konnten. Schließlich gelang es den Schutzleuten, die Wartenden in ein doppeltes Spalier am Ende der Laufbrücke zu ordnen.

Auf ihr erschienen zuvörderst 2 vergnügte junge Burschen, darauf brennend, ausgefragt zu werden, dann Damen in arg hergenommenen Abendkleidern, mit hellen Umhängen, andere in Schlafröcken mit zurechtgeschnittenen Wolldecken über Nachtkleidern und mit schlecht aufgestecktem Haar. Die Männer trugen meist bis an das Kinn zugeknöpfte Mäntel oder waren in Plaids gehüllt ohne Kragen, das Hemd oben offen. Einige Augenblicke herrschte betretene Stille, die aber bald durch lautes Aufschluchzen und hysterische Schreie der sich Umarmenden unterbrochen wurde. Männer trugen wimmernde Frauen unter Küssen davon. Gruppen brachen in Jubelgeschrei aus. Einzelne Verwundete wurden an Schultern und Beinen, andere auf Tragbahren herausgetragen. Zwei mit erfrorenen Füßen stützten sich auf die Arme ihrer Begleiter. Dann kamen wieder fröhliche junge Menschen, Damen mit sorgfältiger Frisur, die bewußte Zuversicht zur Schau trugen. Kaum von ihren Angehörigen begrüßt, suchten sie bald mit überstürzten Worten, bald mit Mitteilungen, die schon für die Berichterstattung zurechtgemacht schienen, einen größeren Kreis. »Also schildern Sie mir bitte Ihre Gefühle, als Sie die ersten Toten sahen!« fragte ein Berichterstatter eine junge Dame, und beschrieb einen Block. »Ihr Name?« »Miß Grace Freakes.« »Ich danke.«

Etwas wie Verachtung schien die ursprünglichen Reisenden des Van Broedermann zu treffen, die fast verlegen den Dampfer verließen. Sie schämten sich gewissermaßen, nicht Schiffbruch erlitten zu haben. Andere wieder drängten sich zwischen die vom »Halbgott«, damit man sie auch für wichtige Personen halten sollte.

*

Unsere glücklichen Freunde zogen es auch hier vor, sich im Hintergrund zu halten, bis das allgemein Menschliche seinen Ablauf genommen hatte. Dann traten sie in ihren Pelzen wie die Überlebenden einer ausgestorbenen mächtigen Fauna wuchtig auf die Laufbrücke. Gegen die Photographen hatten sie sich durch die hochaufgeklappten Kragen geschützt. Die Berichterstatter beugten sich vor ihnen, wie vor Göttern. Sie begaben sich gleich in den ersten Gasthof der Stadt.

Am folgenden Tag gingen sie ihren Geschäften nach. Mr. Smalldevil fuhr sofort nach Washington und verlangte, vor dem Senat vernommen zu werden. Seine Unschuld erwies sich sonnenklar. Das ganze Komitee der Überlebenden hatte sie ihm durch Unterschrift bezeugt.

Mr. Winighea Mischief war schon während des Landens spurlos abhanden gekommen. In Rabengestalt hielt er sich in der Nähe Smalldevils, von dessen Nachtkästchen er, als das Fenster offen stand, eines Tages den Stein Tott wieder stahl. Er tauchte dann in der Stadt ABC auf, wo unsere alte Freundin, die Witwe Violett Schläulich geb. Mouthpiece dem Advokaten Jimmy Delightfull unter der Bedingung ihres ersten Mannes Geschäftsgeheimnis zu verraten versprochen hatte, daß er sie heiratete; dies war geschehen und Mr. Delightfull stellte bereits Brillanten her. Mr. Mischief ließ bei ihm den Tott wiederum vervielfältigen und fand bald Käufer unter den reichsten Leuten des Landes, deren Geschäfte ins Märchenhafte wuchsen.

Der gemütliche dicke König fuhr bald wieder nach Hause zurück, wo ihn in nächster Zeit ein Herzschlag traf. Vielleicht hätte er länger gelebt, wäre er im Besitz des Steines Tott gewesen, den er so entschieden verschmäht hatte. Seine Reisegenossen vom »Halbgott« dagegen, die ihre gelben Steine wie ihre Augäpfel hüteten, blühten und gediehen in wachsender Macht.

Der Geheimrat Teuflin und Herr von Drachenstedt wurden gewissermaßen zu ungekrönten Königen ihres Landes. Alles in ihrer Heimat vollzog sich nun wie von selbst nach ihren Bedürfnissen und Wünschen. Der Ausfuhrhandel wurde zum Hauptgeschäft aller Weltklugen, auch das Volk erkannte bald, daß nur er Reichtum, d. h. Glück brächte; und selbst die, welche sich früher gegen die Reichen erhoben hatten, taten dies nur noch zum Schein und beruhigten sich immer schnell, wenn ihnen wieder ein größerer Anteil an dem Reichtum d. h. dem Glück zugesichert war. Die Rückständigen, welche ein einfaches Leben vorgezogen hätten, konnten sich nicht mehr widersetzen. Sie wurden zum Glück, d. h. zum Gelderwerb gezwungen; denn wer sich nicht daran beteiligte, konnte sich nicht mehr in die Würde der Armut zurückziehen, sondern verfiel mit den Seinen dem Gestank, dem Schmutz, der Krankheit, dem Hunger und schließlich dem Gesetz.

Der große Zauberer aber, der all' diesen Segen über das Land brachte, die Armut gewissermaßen unmöglich gemacht hatte, wenn einer nur tüchtig Hand anlegte, war der bescheidene, sich gern im Hintergrund haltende, schlichte Geheimrat Teufelin mit dem gelben Stein Tott am Finger. Wenn ihm sein Kaiser einmal die Hand drückte und seine Verdienste lobte, wurde er stets verlegen, als fürchte er, seine Nase, Augen und Ohren nicht beherrschen zu können, und sein großer gelber Kopf überzog sich rosa.

Freilich hielt auch Lord Hellsground seinen Stein hoch in Ehren. Nach dem Tod seines Königs war ein schwacher Mensch auf den Thron gekommen, den Lord Hellsground völlig beherrschte. Er ärgerte sich über Teuflins Erfolge; größtenteils gingen sie ja auf Kosten des reichen Landes Lord Hellsgrounds, das bisher allein das große Geheimnis gekannt hatte, wie man aus Menschen geldverdienende Maschinen macht. Lord Hellsground benutzte nun seine Macht, und auch ihn führte der gelbe Stein von Erfolg zu Erfolg. Nicht einen Augenblick dachte er daran, Teuflin in dessen Weise zu übertreffen. Dann hätte er wie jener im Tag zwölf Stunden arbeiten müssen. Lord Hellsgrounds Sinn – das muß man anerkennen – stand überhaupt weniger nach Gold, da er davon bereits viel mehr hatte, als er brauchte. Er wollte sich nur in dessen Genuß nicht durch Teuflins unermüdliche Arbeit stören lassen. So benutzte er die vielen Zeitungen, die er in der ganzen Welt besaß und verbreitete die Meinung, Teuflins Waren seien zwar billig aber schlecht. Als dies Teuflin erfuhr, lachte er und dachte: nun, dann müssen wir künftig noch zwei Stunden länger arbeiten und bessere Waren machen. Auch damit hatte er Glück. Jetzt verbreitete Hellsground überall die Meinung, der Handel sei für Teuflin nur ein Vorwand. In Wahrheit wolle er alle Länder erobern. Da erschraken die Völker sehr und entdeckten, daß allerdings überall in der Welt, wohin man auch blickte, in allen Ländern wie aus Fugen und Ritzen hervorgekrochen, Abgesandte Teuflins wimmelten, Waren brachten und Geld forttrugen.

Längst bevor Teuflin hinter das Geheimnis gekommen, waren die Menschen anderer Länder von Lord Hellsground in halbe Maschinen verzaubert worden, aber doch nur in halbe. Der schlaue Lord hatte ihnen reichlich Freiheit zum Spielen und Genießen gelassen. Nun aber sandte Teuflin seine vervollkommneten Menschenmaschinen über See. Dagegen konnte niemand aufkommen, denn keiner wollte wie jene 12 oder 14 Stunden im Tag arbeiten. Was nützte einem denn unter solchen Bedingungen das viele Gold? Alle Völker haßten nun die Abgesandten Teuflins, und Lord Hellsground schürte den Haß, so sehr er konnte. »Man kann sich nicht anders helfen«, dachten alle, »man muß diese Arbeitsteufel totschlagen.« »Nichts anderes als Neid und Trägheit«, dachten Teuflin und seine Scharen selbstgefällig, aber das war es nicht allein. Jene Halbmaschinen verteidigten ihre andere Hälfte, die menschlich geblieben war, die lieben, hassen, genießen, vielleicht auch betrügen und stehlen, jedenfalls nicht tüchtig werden, sondern menschlich bleiben wollte. Das Land Lord Hellsgrounds hatte indessen nicht genug Soldaten um die Arbeitsteufel totzuschießen. Da wandt er sich an seinen Freund Maître Diavelin, der, seit er den gelben Stein besaß, ebenfalls die Geschicke seines Volkes im geheimen lenkte. Zwischen seinem Land und dem Teuflins bestand ein uralter Grenzstreit, der aber nun seit fast einem halben Jahrhundert geruht hatte und zu Gunsten der Nachbarn entschieden schien. Angesichts des allgemeinen Hasses gegen Teuflins Abgesandte war es leicht, diese Streitigkeiten wieder aufzurühren. Im Falle es gelang die Arbeitsteufel zu besiegen, konnte man auch jene verlorenen Länder wieder gewinnen. Auch an Wassili Wassiljewitsch Tschortoff und den Dichter Satanelli schrieb Lord Hellsground. Hatten sie auch mit Teuflins Land keine persönlichen Streitigkeiten, so doch mit dessen besten Freunden, und außerdem haßten sie ihn alle persönlich, weil er auch in ihre Länder mit seinen zahlreichen Abgesandten eingedrungen war. Alle diese Länder besaßen im Gegensatz zu Lord Hellsgrounds Land große Heere. Diese wurden nun noch vergrößert und neu bewaffnet, um das Land der Arbeitsteufel zu vernichten. Wassili Wassiljewitsch und der Dichter Satanelli kosteten bald die Lust, als Retter ihres Vaterlandes daheim gepriesen zu werden.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wo der Stein Tott auch Herrn von Drachenstedt Glück bringen sollte. Angesichts der seinem Land drohenden Gefahr ließ sein Kaiser von ihm Tag und Nacht Waffen herstellen, so daß seine Reichtümer ins Grenzenlose wuchsen. Indessen wurde Hellsground mit seinen Zeitungen immer mächtiger in der Welt. Die Schulden des Dichters Satanelli wurden von seinem Lande bezahlt, das er, auf allen Straßen laut bejubelt, in feurigen Hymnen pries. Maître Diavelin wurde als Präsident der offen anerkannte Herr seines Landes.

In der Heimat Wassili Wassiljewitschs war man am weitesten zurück. Noch nicht einmal zu Halbmaschinen im Hellsgroundschen Sinne waren die Menschen geworden. Darum hatten dort die Arbeitsteufel fast ganz freie Bahn gehabt. Wassili Wassiljewitsch stellte sich daher an die Spitze aller derer, die darauf brannten, nach dem bequemeren Hellsgroundschen Verfahren reich zu werden, so daß selbst sein Kaiser vor ihm zitterte und ihn gewähren lassen mußte.

So waren alle glücklich, die einst mit dem König auf dem »Halbgott« gefahren waren. Oft dachten sie an die königlichen Worte zurück: »Wir haben ja alle dasselbe Ziel: angenehm leben und Geld verdienen.« Wie hätten sie da ernstlich an Krieg denken sollen? Wozu denn solche Gewaltmittel? Wie recht hatte jener weise König gehabt! Verdiente nicht Hellsground genug durch seinen Pressefeldzug und hielt er nicht dadurch Teuflin hinreichend in Schach? Und fanden nicht Teuflins Scharen noch genug Länder, wo man sie einließ, wenn Hellsground sie irgendwo hatte hinauswerfen lassen. Vor allem aber: war jene von Hellsground genährte Feindseligkeit nicht wieder höchst willkommen für Drachenstedts Waffengeschäft, und alle diese zahllosen Menschenmaschinen, die davon Nutzen zogen? O, der alte Winnighea Mischief hatte nicht gelogen. Der Tott war ein Glücksstein. Er brachte Macht und Erfolg allen denen, die ihn trugen oder seinen Trägern folgten, und, wenn sie auch untereinander erbitterte Feinde waren, der Wunderstein brachte doch beiden Teilen Macht und Erfolg: nur scheinbar bekämpften sich die Besitzer des Tott, denn sie wollten ja alle dasselbe, aber gerade dieser Scheinkampf brachte es ihnen. Das wußten sie ganz gut, und darum glaubten sie auch alle, es würde niemals zum wirklichen Krieg kommen. Vor allem war Teuflins und Drachenstedts Kaiser durch nichts in der Welt zu einer Kriegserklärung zu drängen. Da kamen eines Tages die beiden auf den Gedanken, ihm einen Tottstein zu schenken, mit dem Bemerken, seine Herstellung bedeute den höchsten Sieg des einheimischen Geistes über den Verstand. Der Herrscher nahm den Stein huldvoll an. Als es dann aber gelegentlich einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit den Nachbarreichen zu einer Spannung kam, weil schließlich keiner dem andern mehr traute und jeder fürchtete, der Gegner möchte ihn doch einmal überraschend angreifen, da fand jener Herrscher plötzlich, von Drachenstedt und Teuflin gedrängt, den Mut zur Kriegserklärung. Ihm hatte ja jener Zustand der Welt nie so recht gefallen, und nun glaubte er, würde ein kurzes luftreinigendes Gewitter eintreten, aber es änderte sich nicht das Geringste. Die Besitzer des Steins Tott und ihre Gefolgschaft stiegen in beiden Lagern an Reichtum und Macht immer höher, während alle Völker die Stimme Gottes zu vernehmen glaubten und im Feind den Widersacher Gottes zu bekämpfen wähnten. Diavelins Ruhmrausch, Hellsgrounds Geldversprechen, das Testament Peters des Großen, der Traum des Imperium Romanum und vor allem der kategorische Imperativ täuschten die Erwartungen der ihre Völker leitenden Zauberer nicht. Drachenstedts Waffen hatten unter dem Segen des Steines Tott Erfolge, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, aber Hellsgrounds Zeitungen ebenfalls und so lebten alle herrlich. Teuflin verdreifachte seinen Reichtum durch Lieferungen an das Heer, an Maître Diavelins Hals hingen die Fürstinnen und Prinzessinnen, die Drachenstedts siegreiche Waffen aus den kleinen Nachbarländern vertrieben hatten. Tschortoff untergrub mit Hellsgrounds Beistand den Kaiserthron, um wie in den anderen Ländern die Macht ganz in die Hände der Geldmänner zu bringen, und der Dichter Satanelli erhielt einen funkelnden Stern, wodurch er Vetter seines Königs wurde und das Recht auf dessen Kuß erhielt. Die Sippen Winigheas aber schwelgten Tag und Nacht bei fettem Mahl auf den Schlachtfeldern. Ja, der Stein Tott war der Stein des Glücks.

*

Die Weisen von Tibet, welche die Weltereignisse in das Buch Dzjan eintragen, schrieben: »Die Zeit der Menschen hat sich erfüllet. Halb Tiere und halb Götter wirbelten sie Jahrtausende hindurch zwischen Gut und Böse, zwischen Lust und Leid, und so blieben sie menschlich. Dem Teufel aber war gegeben worden, sieben Steine in der Welt zu verstecken. Wer sie fand, der verlor seine Seele, aber gewann für seine kurze Lebensspanne Erfüllung seiner Wünsche und die Macht über die Menschen. Sechs dieser Steine sind, nachdem ihr Zauber Jahrhunderte lang abwechselnd die Geschicke der Menschen verwirrt, ins Weltmeer gesunken, wo sie ihre Kraft eingebüßt haben. Auch der letzte, der goldgelbe Stein Tott, der funkelndste von allen sieben, lag auf dem Grund der See, und nun hätte die Welt, befreit von der Macht des Teufels, sich erlösen können. Aber den Menschen ist gelungen, auf den Grund des Weltmeers zu steigen und selber Edelsteine zu schaffen. Der Tott wurde gehoben und vervielfacht. Wieder kamen 7 Unglückssteine in die Welt, dieses Mal nicht versteckt, sondern alle gleichzeitig in Menschenhänden, und sie können immer weiter vervielfacht werden.

Gab es früher einzelne Teufel und blieben die Massen menschlich, so ist es heute umgekehrt. Die Völker selber haben sich mitsamt ihren heimlichen Leitern dem Teufel verschrieben; die offenen, scheinbaren Herren aber, die Fürsten und die Heerführer merken dies nicht. Die Welt ist für immer verdammt und ihre Geschichte, die eine Geschichte ihrer langsamen Errettung hätte sein sollen, ist zu Ende. Auch aus den Völkern kann keine Rettung mehr kommen, denn es gibt keine Völker mehr, sondern nur noch halb willige, halb unwillige, aber stets ahnungslose Gefolgschaften der Tottbesitzer, die sie glauben machen, sie handelten für Ideale und aus Pflicht. So wissen sie nicht einmal, daß sie dem Teufel dienen, und der kann ihnen sogar das schuldig bleiben, was in früheren Jahrhunderten die ihm Verschriebenen von ihm verlangten: Schrankenlosen Sinnengenuß ohne Plage. Darum läßt sie der Teufel ruhig gewähren und zeigt gar keine Eile sie zu verschlingen. Was sie sich einander tun, ob sie sich tödlich zerfleischen oder friedlich berauben, ob einzelne sich zu gemeinsamen Beutezügen verbünden, oder dann wieder wegen der Beute über einander herfallen, solche Dinge sind nicht wert im Buch Dzjan verzeichnet zu werden. Aber gerade weil Gott nicht mehr in der Welt ist, sondern nur noch der Teufel, gerade darum spricht heute die Welt umso deutlicher als je zu den Einzelnen, die hören wollen. Nie sprach Gott so vernehmlich als durch sein Schweigen, und auch das Geschrei Satans ist Gottes Wort, das sagt: dies bin ich nicht. Einzelne haben schon heute verstanden, viele ringen allerorts danach, bald zu verstehen. Schon sehen wir sie auf stillen schmalen Pfaden zu uns kommen. Sie winden sich heraus aus der Hölle der seelenzerstampfenden Maschinenmenschheit, glauben deren Zauberformeln nicht mehr und brauchen sie darum auch nicht mehr zu fürchten.

Nur die Geschichten jener befreiten Einzelnen, der werdenden Gottmenschen und der wirkenden Menschengötter wird den weiteren Inhalt bilden des Buches Dzjan.«

*

In der bleichen Einsamkeit des hochgelegenen Landes Tibet aber spricht die Stimme Gottes, unbeirrt durch alle jene Begebenheiten, so vernehmlich wie je aus jeder Form und aus jedem Laut.


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