Maximilian Schmidt
Glasmacherleut'
Maximilian Schmidt

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XVI.

Die vier Monate, welche bis dahin verstreichen mußten, schienen allerdings für das Brautpaar eine Ewigkeit zu dauern; aber sie gingen dennoch hinüber und der Vorabend von Bartlmä war herangekommen. Franz hatte wegen des Hüttenbaues noch an diesem Tage in Hochberg zu thun und trat erst spät den Rückweg an.

Wie alljährlich strömten auch heuer von allen Seiten die Wäldler zum morgigen »Almakirta« auf den Arber herbei und suchten in den zunächstliegenden Ortschaften zu übernachten, um mit Tagesanbruch hinaufsteigen zu können auf den schönen, fast fünftausend Fuß hohen Arber, den König des bayerischen Waldes.

Trotz der eingebrochenen Dämmerung war es in dem sonst so stillen Gebirge heute noch außerordentlich lebendig und von den Bergwänden und aus den Thälern hallten die Rufe und Lieder glücklicher, fröhlicher Menschen. Dort und da suchten verspätete Wanderer noch ein Nachtquartier auf, welches die bekannte Gastfreundschaft der Wäldler überall gern gewährte. Ein Bund Stroh reichte ja dazu aus, den bescheidenen Ansprüchen zu genügen: das erhält jeder, ohne daß er darum zu bitten braucht. – Warum verschmähte dies der 202 nächtliche Wanderer, welcher sich mühselig auf einem Holzpfade dahinschleppte und bei den Ruinen der einstigen Oberlohberghütte wie erschöpft zusammensank? Wer war der Unglückliche, der an der Stätte des Unglücks Ruhe suchte? – der die Menschen zu meiden schien und dem jeder Freudenschrei, welcher von den Bergen widerhallte, ein schmerzliches Zucken verursachte?

Es war Rosalie.

Arm und krank, war sie im Begriffe, in die Heimat zurückzukehren. Arm! Wer nennt sich nicht alles arm? Leute, welche die Tasche voll Gold und doch das Herz voll Unzufriedenheit haben, unglückliche Spekulanten, Bettler von Profession: alle diese und tausend mehr, sie nennen sich arm. Rosalie aber war ärmer als alle. Die vielen kleinen Sorgen des Lebens, die aber ohne Zweifel die ernstesten sind, hatte sie niemals kennen gelernt, sie hatte niemals an Hunger gelitten, sie hatte nicht gelernt zu arbeiten, und die Bildung ihres Geistes und ihres Herzens war unter der Obhut einer pflichtvergessenen Mutter eine gänzlich verfehlte. Das sonst so stolze Fräulein des Hüttenherrn, welches die Bettler mit Stolz und Schimpf aus ihrem Hause trieb, war nun selbst eine Bettlerin. Wollte sie nicht verhungern, so mußte sie um Almosen bitten, um Almosen – selbst auf die Gefahr hin, mit Hohn und Spott fortgewiesen zu werden, denn Rosalie hatte sich nie die Zuneigung der Leute zu gewinnen gewußt. Sie konnte sich den Leuten gegenüber nicht so benehmen, wie diese es gewünscht oder für angemessen erachtet hätten. Sie war noch stolz in ihrer bejammernswerten Lage. Sie hatte Willenskraft genug, in die Fremde, über die Grenze zu 203 wandern, um dort unerkannt Arbeit zu suchen und wie so viele Tausende um Lohn zu dienen; aber ihre körperlichen Kräfte hielten nicht stand mit ihrem festen Willen; sie wurde krank. Niemand erbarmte sich ihrer im fremden Lande. So kam sie über das Gebirge, blaß und zitternd, mit zerlumpten Kleidern, so ruhte sie aus auf den Trümmern ihres Hauses, auf der Stätte einstigen Reichtums – als Bettlerin.

Mühsam erhob sie sich und schlug wankenden Schrittes den vor ihr liegenden Pfad ein. Da hörte sie das dumpfe Rauschen eines Wildbaches. Entsetzt blickte Rosalie umher; es war kein Zweifel mehr, sie hatte sich verirrt. Sie hatte eine falsche Richtung eingeschlagen und war so in jenem Grund zwischen Lohberg und Sommerau angelangt, in welchem sie vor fünf Jahren zum erstenmal wieder mit Franz zusammengetroffen war. Suchend eilte sie nun längs des Baches auf und ab, um den verhängnisvollen Steg und somit den Weg nach Lohberg zu finden. Da glitt sie auf den feuchten Steinen aus und fiel zu Boden. Sie schrie vor Schmerz laut auf und eine vollkommene Mutlosigkeit bemächtigte sich ihrer.

»O, mein Gott,« rief sie unter Schluchzen, »so hast du mich ganz verlassen!« Ein Strom von Thränen folgte diesen Worten, sie warf sich zur Erde und vor lautem Schluchzen hörte man nichts, als: »Mein Gott! Mein Gott!«

Plötzlich stand eine Mannsgestalt vor ihr.

»Ist ein Unglück g'scheh'n?« fragte eine Stimme. »Wer weint da? Wer ist's, der da am Boden liegt?«

204 Rosalie war vom Schmerze so übermannt, daß sie die Anwesenheit dieses Mannes gar nicht erschreckte. Sie hörte zu weinen auf und nahm eine mehr sitzende Stellung an.

»Wer ist's?« fragte der Mann wieder. »Wie kann ich helfen?«

Rosalie horchte. Was war das für eine Stimme? War es Franz, der vor ihr stand? Sie strengte ihre Augen an, sie glaubte Franzens Gestalt zu erkennen, und als sie ihn erkannte, den Ferngeglaubten, überkam es sie wie ein süßer Friede. Sie hielt ja Franz für den einzigen Menschen, der ihr Schicksal zu würdigen verstand, für den einzigen, dem sie ihr Herz enthüllen, vor dem sie ihren Jammer ausschütten konnte und wollte.

»Seid Ihr nicht der Schrenken-Franz?« fragte nun ihrerseits das Mädchen.

»Der bin ich,« antwortete der Mann; »nun laßt mich doch auch wissen, wer Ihr seid und was geschehen ist?«

»Was geschehen ist?« antwortete Rosalie mit bewegtem Tone. »Ein schwerer Traum, ein fürchterlicher Traum hat mich erschreckt. Betteln bin ich 'gangen, ach, ich wollte gehen! Doch jetzt ist's nimmer nötig; Ihr laßt's soweit nicht kommen, Franz! Nicht wahr, ich soll nicht betteln!«

»Um Gotteswillen!« rief jetzt Franz mit schmerzlichem Tone, »Fräulein Rosalie – Sie sind's? So weit ist's? So arm, so elend find ich Sie wieder! Arme Rosalie! Stehen Sie doch auf!« und sie aufhebend, konnte er sich einer Thräne des Mitgefühls nicht enthalten; sie fiel warm auf die kalte Wange des Mädchens.

»Ihr weint, Franz?« sagte sie. »Um mich? Ich 205 danke Euch, edler, guter Mensch. Diese Thränen sind mir Nahrung und süße, süße Wohlthat. Ach, könnte ich jetzt sterben, ich fühle mich so gut, so leicht stürb ich in dieser Stunde, so stürb ich glücklich! Ach Franz – ich bin nicht arm, ich bin nicht elend! Es lebt ein Mensch, der um mich weint; so bin ich nicht ganz verlassen. Das ist ein schöner Trost, ein Sonnenstrahl in meiner fürchterlichen Nacht!«

Franz drängte nun in das Mädchen, diesen Ort zu verlassen, und bot sich an, sie zum Lehrer nach Lohberg zu führen, damit sie dort vorerst Nahrung und Pflege fände.

Auf dem Wege dahin gab ihr Franz Ratschläge, wie und wo sie künftig leben sollte, und versicherte sie, daß er für sie sorgen wolle, soweit es nur immer möglich sei.

Mit innigem Danke hörte die Arme alles an und versprach ihrem Begleiter, alles zu thun, was er ihr angeraten.

Am Schulhause angelangt, wurde Rosalie, wie nicht anders zu erwarten war, aufs freundlichste aufgenommen. Als Franz dem Mädchen die Hand zum Abschiede reichte, fühlte er ein krampfhaftes Zittern, das diese Hand bewegte. Rosaliens Augen waren auf ihn geheftet. Liebe, Dankbarkeit, Ergebenheit – ach, alles drückten sie aus. Sprechen konnte sie nichts, nur leise lispelte sie: »Ach, Franz, dürft' ich für Euch sterben!«

Franz war tief bewegt. »Gute Nacht!« sagte er. »Es soll Ihnen künftig an nichts mehr gebrechen, ich werde für Sie sorgen. Haben Sie Mut – Vertrauen! Gute Nacht!« Und schnell war er ihren Blicken entschwunden.

206 Das Mädchen sah ihm lange sprachlos nach, dann folgte sie der Lehrerin in das gastliche Haus, woselbst ihr ein Abendimbiß gereicht ward.

Rosalie aß wenig. Sie legte sich bald zu Bette und ein erquickender Schlaf erbarmte sich des Mädchens. In ihren Träumen mochte sie sich mit Franz am Traualtare, sich wieder reich und glücklich sehen, denn aus ihrem Munde drangen Laute der Freude und beseligenden Glückes. Bald war es aber ganz ruhig – nicht einmal das Schlagen ihres Herzens unterbrach diese Stille, und als die Lehrerin am Morgen ins Zimmer trat, sich nach der lange Schlafenden umzusehen, fand sie Rosalie entseelt im Bette. Der Tod hatte sich der Aermsten erbarmt, hatte ihr auf die Stürme und Nachtseiten des Lebens die Morgenröte einer besseren Welt eröffnet. Das war das Ende der unglücklichen Rosalie, der Tochter des einst so reichen Besitzers der Oberlohbergerhütte. –

Franz stand am Morgen nach dieser Nacht in der That am Traualtare in der Kirche zu Bayerisch-Eisenstein; aber neben ihm stand nicht Rosalie, sondern Liese war die glückliche Braut des wackeren Glasmachers und Geschäftsführers von Elisenthal. Auf Prannes Wunsch sollte die Hochzeit mit dem »Almakirta« auf dem Arber verbunden werden, und zu dem Gipfel dieses schönen Berges wanderten heute, als am Bartholomäustage, Kirchweih- und Hochzeitsgäste in Menge.

Die Freiheit wohnt auf den Bergen! und es ist die Liebe zur Freiheit, wenn der Wäldler, um seine Feste zu feiern, hinaufsteigt auf die höchsten Kuppen, um mit gehobener Brust hinauszujubeln über das dunkle Waldmeer 207 rings umher, und über das entfernte, vom blauen Hochgebirge begrenzte Flachland.

In früheren Zeiten artete bei diesen Gelegenheiten am Arber der Nationalhaß zwischen den Bayern- und Böhmerführern in blutige Auftritte aus, denn Aventin erzählt, daß hier jährlich die Grenzbewohner gegenseitig gekämpft und die Ueberwundenen in den See geworfen hätten. Das war früher. Jetzt versammelt man sich dort oben nur mehr in fröhlicher Eintracht, und zumal heute, wo ein herrlicher Augusttag ein doppeltes Fest begünstigte, lagen Hunderte auf dem grünen Plan neben der dort befindlichen Kapelle und um die in eine Schenke verwandelte Sennhütte.

Da spielte neben lustigen, böhmischen Musikanten der alte Cymbal-Toni auf seinem Hackbrett so frisch und fröhlich wie damals am Falkenstein beim Sunnwendfeste; da sang der Prannes mit Herzenslust all seine Lieblingslieder, und er und Schrenk konnten gar nicht oft und nicht viel genug auf das Wohl des Brautpaares und ihre neue Verwandtschaft trinken. Steigerwalds und Poschingers waren gekommen, Franzens Ehrentag mitzufeiern. Die Lohberger Freunde, der Lehrer, Herr Kellermeier und selbst der alte Geisterseher, der Kramerjakl, hatten sich eingefunden zu diesem Feste, und mit ihnen kamen eine Menge wackerer Glasmacher von Regenhütte, Frauenau und Elisenthal, um Zeugen des Glückes zu sein von Franz und Liese. –

Am Regenbache, an dem von Franz und Liese schon längst bestimmten Platze, erstand die neue Lohbergerhütte des Herrn Kellermeier, welche Franz in Pacht nahm und als Hüttenherr bezog. Durch die ergiebige Beihilfe seines Vaters und des tüchtigen Schmelzmeisters Prannes, dann 208 insbesondere durch seine eigene Geschäftstüchtigkeit kam diese Hütte schnell in Schwung und Franz Schrenks Fabrikate zählten bald unter die besten des Bayernwaldes. Später erbaute er abwärts am Regen ein großartiges Schleif- und Polierwerk nebst einem reizend gelegenen Herrenhause »Schrenkenthal« genannt. So war das hohe Ziel erreicht, auf welches sein Weib schon als Kind ahnungsvoll hingewiesen. Der Segen war bei seinem Hause und zur Zeit zählt Franz Schrenk unter die Glasfürsten des Bayerischen Waldes.

 

Lohberg, im Frühjahr 1868.

 

 


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