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17

Was des Amtmanns Tochter für eine Trauerbotschaft erhält; wie sie den Überbringer derselben aufnimmt. – Ein Gastmahl in Eilersrode. – Aurora zieht in die Residenz.

Unter den Gästen, welche dem großen Treibjagen mit beiwohnen sollten, war auch ein junger Verwandter des Herrn von Eilersrode, der sich seit dem Aufenthalt des letztern im Schlosse häufig einfand und Tage und Wochen daselbst zubrachte. Ihn schien nicht bloß der gnädige Herr und das bunte, lustige Treiben auf dem Edelhofe anzuziehn, sondern auch die schöne, liebenswürdige Amtmannstochter, von der man in der ganzen Umgegend als von einer großen, seltenen Schönheit zu sprechen anfing. Die adligen Frauen wurden weit und breit auf die Bekanntschaft mit dieser Schönheit, von der ihre Männer so großes Aufheben machten, sehr begierig, und Aurora erregte unter ihnen, ohne es zu wollen und zu wissen, ebensoviel Neid als Eifersucht. Was man von ihrem einsamen, ländlich sittlichen Leben erzählte, grenzte in den Augen der Frauen und Mädchen von Welt ans Wunderliche. Niemand konnte begreifen, daß ein schönes junges Mädchen sich aus der Einsamkeit eines Dorfs wie Eilersrode nicht heraussehne; noch weniger aber, daß es sich von den Festlichkeiten, durch welche der Gutsherr diese Einsamkeit und Langeweile unterbrach, zurückzuziehen suche. Die Männer, welche Aurora gesehen, ärgerten ihre Frauen mit den Schilderungen ihrer Liebenswürdigkeit und Grazie; die Unverheirateten setzten sich den Sticheleien und dem Naserümpfen der adligen jungen Fräulein aus, die in Aurora eine gefährliche Nebenbuhlerin erblickten. Nichts konnte ihnen daher willkommner sein als die Einladung des Herrn von Eilersrode, der zum ersten Mal auch Damen mit zur Tafel lud, welche mit dem erlegten Wild der Jäger besetzt werden sollte.

Die Jagd sollte einen vollen Tag dauern und am zweiten Tage durch ein großes Mahl im Holze beschlossen werden, dessen Glanz die meisten Schönen aus der Umgegend zu verherrlichen versprochen hatten. Schon abends vor dem anberaumten Jagdtage fanden sich eine Menge Jäger ein, die teils auf dem Amte untergebracht wurden, teils im Kruge mit Stroh und harten Betten fürliebnahmen. Am nächsten Morgen, vor Tagesanbruch, ertönte die ganze Gegend vom Hundegebell und Hörnerklang. Aurora ward dadurch aus ihrem Schlummer geweckt; sie sah von ihrem Fenster aus den langen Zug der Männer zu Roß, zu Wagen und zu Fuß den Hof verlassen und mit Sang und Klang davonziehen. Die Ruhe, welche diesem Toben, Schreien, Singen und Klingen folgte, hatte etwas so Einladendes, daß des Amtmanns Tochter sich hinausgezogen fühlte.

Wie verschieden waren doch die Gründe, welche jene Männer an diesem Morgen durch Wald und Feld ziehen ließen, von denen, die Aurora um dieselbe Stunde hinausriefen! Was war die ganze, geräuschvolle, helljubelnde Freude jener, gegen die sanfte Begeisterung, mit welcher diese den Tag begrüßte! Ihrem sinnigen Auge entfaltete sich das große Wunder eines herrlichen Sommersonnenaufgangs; ihr Fuß schien den Halm schonen zu wollen, der sich unter seiner zarten Berührung zur Erde bog; ihre Brust schien das tausendfältige Leben in Luft und Licht mit Entzücken einzutrinken, ihr Ohr auf die Atemzüge der Natur zu lauschen. Ihr Herz fand so viel Verwandtes, so viel Befreundetes in dieser frischen Morgenwelt, daß es jedem Tautropfen, jeder jungen, schwellenden Knospe einen Herzschlag als Gruß zu bieten schien. Riesig hob sich das glühende Haupt des Tages über die leise nickenden Saatfelder und sprühte eine unendliche Fülle rosigen Lichts auf die tautriefenden, vollen Ähren; aus weiter Ferne rieselten die Töne der Jagdhörner herüber. Der Klang kam Auroren wie ein Frevel vor, begangen an der Feier und Schönheit eines solchen Morgens. Sie konnte sich über die Lerche hoch über ihrem Haupte in der freien Luft freuen, daß sie, vor dem Geschoß der Männer sicher, ihrer Kehle süßen Tonschwall laut in die prachtvolle Natur hineintrillern durfte; sie konnte inniges, warmes Mitleid fühlen mit dem armen gehetzten Tier, das, von der Meute der Hunde aufgetrieben, ängstlich und hilflos umherjagt und bluttriefend unter dem Jubel der Sieger zusammenstürzt.

»Eine Lust nennen sie's« – sprach sie zu sich selbst –, »eine königliche Lust, und lassen ihre Dichter sie in schönen Versen besingen. Wie kann es doch eine Lust sein, zu quälen und zu töten? Wie kann sich ein menschlich Auge weiden an den Blutströmen der tödlich getroffenen Kreatur; an dem Jammer und Schmerz eines lebendigen Wesens? Wenn's eine Lust, eine königliche gar ist – wie wenig seid ihr ihretwegen beneidenswert, ihr, denen auch des Menschen Qual und Schmerz Freude sein mag. Ziehn sie nicht dahin durch diesen heiligen Gottesmorgen wie die Schrecken der Natur, wie die Störer und Vergifter ihrer Wonnen? Tun sie nicht, als gösse der Himmel sein Licht auf Berg und Tal, auf daß sie sich an dem Zucken brechender Augen erfreuen können? Und er sollte zu ihnen gehören?«

Langsam und sinnend wandelte Aurora ihrem Lieblingsplatze, dem Friedhof, zu; lächelnd nahte sie sich dem Grabe des Küsters, ihre Blumen, ihre Linde, ihre Rosen zu grüßen, die Blätter aufzulesen, die von den verblichenen Kelchen gefallen, die Rosen und Keime zu zählen, die in der jüngsten Taunacht und im sonnigen Morgen dem Tage entgegengequollen; das Fenster hinter der Mauer zu grüßen und ihres Geliebten zu gedenken. Leicht und behende schlüpfte sie durch das kleine hölzerne Pförtchen in den innern Raum des Friedhofs zu dem Hügel des geschiedenen Freundes. Wie erschrak sie, als ihr die bekannte Gestalt jenes Verwandten des Herrn von Eilersrode entgegentrat und sie höflich und freundlich begrüßte. Der Schrecken, eines Fremden Schritte an der Stätte zu vernehmen, an der sie ein Recht zu haben glaubte, allein zu sein, lähmte ihren eigenen Fuß. Sie wünschte sich weit weg von dem Orte, auf welchem sie stand, und konnte doch nur langsam und schüchtern sich zu entfernen suchen. Die Erscheinung eines Mannes vor ihr zu so ungewöhnlicher Stunde, in so ungewöhnlichem Aufzuge und an diesem Platz zerstörte ihr die Freude des schönen Morgens und verletzte ihr Gemüt.

Der Vetter des Herrn von Eilersrode war ein Mann von Dreißig und einigen Jahren, ein Freiherr, dem ein großes Gut wenig Meilen von dem Wohnort Aurorens gehörte. Seit kurzem war er erst von Reisen zurückgekehrt, die ihn durch verschiedene Länder und weit umhergeführt hatten. Man nannte den Freiherrn einen feingebildeten Hof- und Weltmann und war in der ganzen Gegend nicht wenig auf seine Wahl einer Lebensgefährtin gespannt. Er hatte verschiedene Versuche gemacht, sich bei seiner Anwesenheit auf dem Eilersroder Schlosse der Tochter des Amtmanns zu nähern; aber Aurora war ihm stets ausgewichen. Sie schien sich vor ihm zu fürchten; ihr Blick wagte es nicht, seinem lüsternen Auge zu begegnen, und die Antworten, welche sie ihm auf seine Fragen gegeben, zeugten von der Beklommenheit, die ihr seine Gegenwart stets verursachte.

»Ich mußte Sie endlich an dieser stillen Stätte erwarten« – hub der Freiherr an –, »um mich Ihnen ungestört nähern zu können.«

Aurora hob das Auge einen kurzen Moment und richtete es auf den Mann im Jagdkleide. Der milde Ton, in welchem diese Worte gesprochen waren, verringerte ihre Angst. Dennoch trat sie einige Schritte vor dem Redner zurück.

»Was habe ich Ihnen getan, Aurora« – fuhr der Freiherr fort –, »daß Sie mir überall entschlüpfen, wo ich mich Ihnen nähere; daß Sie scheu vor mir zurückweichen, wenn ich Sie aufsuche?«

Aurora konnte keine Antwort geben; aber in ihren erschrockenen Mienen, in dem bangen Blick und der zaghaften, wie zur Flucht gefaßten Haltung lag Antwort genug.

»Ich dachte nicht, jemand hier zu treffen« – stotterte sie endlich in reizender Verlegenheit hervor.

»Am wenigsten mich« – ergänzte der Jäger mit einer Art affektierten Schmerzes im Ton –, »mich, der ich mich überall an Ihre Ferse zu hängen scheine, der ich dem Zufall danke, daß er mir endlich eine Gunst zuteil werden läßt, ohne die ich mich eines wichtigen Auftrags nicht würde entledigen können. Ich sage Zufall, das ist ein schlechtes Wort; nein Aurora, was mich an diese Stätte führte, in so einsamer Stunde, ist mehr als Zufall; es ist beinahe etwas so Schönes als das, was Sie diese Blumenwelt schaffen ließ; es ist etwas ebenso Beklagenswertes, Beklagenswerteres, als was Ihr Auge an diesem Hügel betrauert.« – »Ich verstehe Sie nicht« – sagte Aurora, und Angst sprach aus jedem ihrer Worte.

»Sie hätten mich längst verstehen sollen – längst ahnen sollen, daß ich Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen habe, etwas, das Sie näher angeht, als ich wünsche.«

»Mich?« fragte Aurora immer ängstlicher werdend und sah den Sprecher mit ihrem großen, klaren Auge so vorwurfsvoll und flehend an, daß er stotternd fortfuhr: »Sie, Sie allein, Aurora. Einen Gruß, einen letzten soll ich Ihnen bringen von des Pfarrers Sohn!«

Dies Wort goß, wie es ausgesprochen wurde, neues Leben, aber auch neue Qual in die Brust der Horchenden. Reden konnte sie nicht, der Efeu schien mit der Marter, welche ihr die Pause verursachte, die der Freiherr nach diesen Worten eintreten ließ, Mitleid zu haben, denn die Blätter raschelten laut vom kühlen Morgenwind bewegt.

»Was wissen Sie von ihm?« fragte des Amtmanns Tochter endlich und heftete einen durchdringenden Blick auf den verdächtigen Boten.

»Wenig, aber viel zuviel, wenn Sie ihn noch lieben« – sprach dieser, einen lauernden Blick auf Aurora werfend. »Vor allen Dingen sind Sie berechtigt, nach einem Zeugnis der Wahrheit dessen zu fragen, was ich Ihnen zu berichten verpflichtet bin.«

»Wer könnte die Wahrheit aus seinem Munde in Lügen verwandeln?« sagte Aurora, sich um einen Schritt dem Hügel des Küsters nähernd. »Hat er Sie zu seinem Vertrauten gemacht, so sind Sie von der Lüge so weit entfernt wie dieser vom Wiedererscheinen unter uns. Reden Sie, ich bin gefaßt.«

»Wie würde ich meinen Freund beneidet und beweint haben zu gleicher Zeit, hätte ich gewußt, welch einem Engel er mich als Boten schickte.«

»Sie sind ein schrecklicher Bote, einen schrecklicheren konnte er nicht schicken; ich sehe es Ihnen an, Sie haben ein furchtbares Wort, wie Gift, auf Ihrer Lippe.« Der Freiherr zog eine Brieftasche aus seinem knappanliegenden Jägerrock und nahm daraus hervor eine schmale, goldene Kapsel, die er vor den Augen des zitternden Mädchens öffnete.

»Diese Locke bekleidete einst den Scheitel des Mannes, dessen Grab Sie heute in einen Blumenaltar umgewandelt haben«, sagte er. »Wilhelm schnitt sie ihm vom Haupte, ehe sie ihn hierher betteten; er trug sie auf seiner Brust zum Andenken an den Mann, den Sie und er so hoch verehrten; er trug sie noch in der schönen Stadt jenseits der Alpen, wo ich ihn sah und seinen Schwanengesang hörte.«

»Es ist sein Haar« – rief Aurora –, »ich erkenne es am reinen Schneeglanz; – wie kommen Sie zu dieser Locke; warum wird sie nicht mehr auf jenem Herzen getragen?«

»Weil der Träger sie Ihnen sendet und mit ihr seines Herzens letzten Gruß.«

»Er ist tot!« schrie Aurora, vom jähen Schmerz überwältigt, und sank besinnungslos in die Knie, mit dem Haupte auf das blütenbedeckte Grab des Küsters, wie eine vom plötzlichen Sturme zerknickte Blume.

»Tot – das sage ich nicht« – rief der Freiherr und bückte sich, die schöne Gestalt mit kräftigem Arm von dem taufeuchten Blumenbett emporzuheben. Aber Aurora hörte ihn nicht; eine Weile noch blieben ihre Wimpern geschlossen und ihr Geist gelähmt. Als sie das Auge aufschlug und sich in den Armen des Freiherrn fand, machte sie sich mit einer krampfhaften Kraftanstrengung von ihm los, nahm ihm die dargereichte Kapsel mit der Locke aus der Hand und wankte eilig nach dem Pförtchen, ohne weiter ein Wort zu sprechen. Der Jäger folgte ihr auf dem Fuß, er bot ihr den Arm, aber sie schlug ihn aus; sie sah und hörte in ihm einen Raben, der sie umschwärmte und ihr das Fürchterlichste zugekrächzet hatte, das je ihr Ohr vernommen. Bleich und verstört ging sie hinein in ihr Gemach, das nun aufs neue Zeuge ihrer tiefsten Seelenschmerzen sein sollte. Sie barg das Gesicht in die Kissen ihres Lagers und wehrte dem tödlichen Weh den Einzug in ihr Herz nicht; keine Träne linderte ihr Leid. Sie hielt die weiße, glänzende Locke vom Scheitel ihres Freundes in der zarten, zitternden Hand und starrte schweigend auf das tote Haar. »Bald – bald – folge ich dir und ihm« – schien ihr Mund zu sprechen.

Den ganzen Tag verließ Aurora das Zimmer nicht. Der Freiherr schickte die Kinder zu ihr und ließ fragen, ob er sie nicht sprechen könne; aber sie gab eine verneinende Antwort. »Was soll ich noch wissen?« sprach sie. – »Er hatte recht, es ist viel zuviel. Was soll ich noch wissen? Wo und wie er starb? Er kann nur gestorben sein wie ein Held, wie schöne, edle Menschen sterben, ruhig, sanft. Er dachte an mich – seines Herzens letzter Gruß–! Ich weiß genug, mehr als genug.« Als dem heftigen Schmerz die Linderung der ersten Träne ward, jubelte es draußen von neuem. Die Jäger kehrten mit reicher Beute aus dem Walde heim. Der Freiherr wurde mit Fragen und Neckereien über die gemutmaßten Gründe bestürmt, die ihn bewogen hatten, zu Hause zu bleiben. Er gab kaltlächelnd Antwort. Im Dorf erzählten die Leute, der Freiherr und des Amtmanns Tochter hätten auf dem Kirchhofe ein Stelldichein gehabt; Herr von Eilersrode drohte seinem Verwandten mit aufgehobenem Finger; der Amtmann scherzte mit seiner Frau, als sie ihm erzählte, was die Dorfleute gesehen haben wollten und was sie selbst glauben mußte.

»Sie macht mir große Sorge mit ihren Tränen und ihrer stummen Klage«, sagte die Amtmännin zu ihrem Gatten.

»Das muß sich bald entscheiden« – erwiderte dieser –, »wenn der Freiherr sich ihr erklärt haben wird. Sie wäre eine Törin, wollte sie ihn ausschlagen, und wir müßten sie zur Einsicht in ihr Glück zu bringen suchen. Freiinnen werden nicht alle Tage geschaffen.« Der Amtmann war in der besten Laune von der Welt. »Laß sie sich nur erst ein wenig ausweinen«, fuhr er, zu seiner Frau gewendet, fort, »das tatest du auch, als ich dir Herz und Hand antrug, das ist so Mädchenart.« Aurorens Vater ging zur Gesellschaft zurück, deren Mitglieder, von den Strapazen der Jagd ermüdet, sich beim vollen Glase kühlen Weins erquickten und früh das Lager suchten, um Stärkung für den kommenden glänzenden Tag zu erhalten. Nur den Freiherrn floh der Schlaf, wie er Aurora floh; aber aus sehr verschiedenen Gründen. Des Amtmanns Tochter hatte keine Ursache, an der Botschaft zu zweifeln, welche ihr von dem Freiherrn überbracht worden war. Längst ahnte sie, daß solche Kunde ihr bevorstehe; auch war es nur der erste Schreck, der sie übermannte und ihr Lager mit den Dornen herber Seelenpein umgab; schon am nächsten Tage hatte sie sich in ihr Schicksal gefunden. Tausendmal hatte sie im stillen schon Verzicht darauf geleistet, ein Glück auf Erden begründet zu sehen, dessen erster Strahl von dem dunkeln Wolkenschleier menschlicher Vorurteile und Gewalt an seine fernsten Grenzen jenseits der Körper zurückgedrängt worden war. Sie hatte sich in die Entfernung von ihrem Geliebten gefügt und ihre Liebe dahin zu tragen gelernt, wo kein Menschengesetz sie störte und verdammte; auch Wilhelms Tod gehörte ganz zu den Phasen der Entwicklung, welche die Blüte ihrer Liebe nehmen mußte. Sie dachte sich den, der schon auf Erden ihrem Auge wie ein Gebilde aus bessern, schönern Welten dastand, nun vollendet; sie dachte sich ihn mit aller Schwärmerei einer christlich jungfräulichen Mädchenseele.

»So mußte es kommen« – sprach sie zu sich selbst –, »der gute väterliche Freund, den wir beide hochachteten, höher als einen andern Sterblichen, mußte vorangehen, ein treuer sorglieber Wegweiser in die große Welt über den Sternen, wo die Seelen, von dieser Kruste Erdenschmerz gelöst, aneinander schwingen wie verwandte Töne, wo sie im Zauberlicht der reinsten Liebe sich über den Gram der düstern Körperwelt selig trösten. Sein Auge winkte uns längst aus jener bessern Welt. Nun stehe ich allein noch in dieser, die letzte von drei verwandten Seelen. Auch du winkst mir nun, süßer Freund meines Herzens, ich fühl's – nicht lange vergeblich.«

Ihr Auge blickte durch die Nacht, ihre Lippe flüsterte noch manch frommes Wort im Selbstgespräch, ihr Herz zuckte zuweilen in der lautern, zarten Brust krampfhaft zusammen, wenn sie des Augenblicks gedachte, in welchem ihr die Nachricht von des Freundes Tod und durch wen sie ihr überbracht worden. Wenn der Schmerz dann ihre Hand zum Herzen zog, lispelte sie lächelnd: »Deine Marter nimmt ein Ende!« Gegen Morgen entrückte sie ein leiser Schlummer der Pein schmerzlichen Denkens. Der Freiherr hatte die Hornisten bestellt, daß sie unter Aurorens Fenster im Garten den Tag mit sanften Klängen begrüßen sollten. Weich und lieblich hüben die Hörner an, ihre Melodien in die frische, dämmernde Morgenluft hinauszuhauchen. Wie Wehmut und Bangen fing ihr schmelzend Lied an, und wie Freud und Wonne jubelte es empor. Aurora träumte, es wachse eine schöne Blume unter ihrem Fenster, deren weiche, farbige Blätter bis zu ihr heraufreichten; sie war im Anschaun dieses wunderbaren Gebildes vertieft und neigte sich auf die köstlichen großen Blüten, die zwischen den Riesenblättern hervorquollen. Da umschlossen die Blumenkronen mit zarten Blättern ihren Leib und wuchsen mit ihr empor, höher und immer höher, durch einen goldglühenden Duftmorgen in die Purpurwolken, über die Wolken, und schaukelten sie sanft im Äther über der Erde. Süße Schauer durchrieselten ihre Brust im Anschaun dieser Wunderwelt; selig bang schmiegte sie sich an die tragenden Blätter, die sie immer höher in eine Gegend führten, in der aus farbigen Nebeln vor ihren Augen eine große, neue, unendliche Welt, ein glühender Stern sich ihr entgegenbewegte. In weiter heller Ferne erblickte sie eine große, hehre Gestalt mit weißglänzenden langen Locken, und neben ihr eine jugendlich schönere, vom Schmelz der himmlischen Farben umflossene Göttergestalt. Sie erkannte sie beide, sie streckte ihnen die Arme sehnsüchtig entgegen – da welkte das Blumenbett unter ihr im Schein der glühenden Sternenwelt und sank mit seiner weinenden Bürde zur Erde zurück.

Vor dem Amthause ward es lebhaft; die Hornisten bliesen die Reveille; geschäftig tummelte sich die Schar der Diener umher. Wiehernde Rosse wurden gesattelt, Wagen beladen, Gerät, Tische, Stühle, Speisen und Trank in verschwenderischer Fülle zum Walde zu bringen, wo, auf einem freien Platz, das große Gastmahl gehalten werden sollte, zu welchem gegen Mittag von nah und fern viel blumengeschmückte Frauen und Jungfrauen kamen und vom Klange schmetternder Hörner und den jubelnden Stimmen der Männer begrüßt wurden. Aurora blickte von ihrem Fenster aus auf das bunte Gewoge der heitern Gäste, an deren Freude teilzunehmen sie sich nicht entschließen konnte. Die Bitten des Vaters vermochten sie nicht zu bewegen, sich den neugierigen Blicken der Fremden zu zeigen; sie bat ihre Eltern, wie um etwas Großes, um die Gunst, in ihrer Einsamkeit bleiben zu dürfen.

»Glaub es mir« – sagte die Amtmännin zu ihrem Gatten –, »unsere Tochter ist sehr, sehr krank.«

»So sende zum Arzt«, befahl der Amtmann verdrießlich über den vermeintlichen Eigensinn seines Kindes. Hundert Boten kamen an diesem Tage und erkundigten sich nach Aurorens Befinden. Der Herr von Eilersrode selbst kam und stattete der Einsamen einen Besuch ab. »Die ganze Gesellschaft« – sagte der gnädige Herr – »vermißt Ihre Gegenwart schmerzlich, liebe Aurora; besonders aber mein Vetter, der Freiherr.«

Bei Erwähnung des letztern füllten sich die Augen des Mädchens mit großen hellen Tränen. »Wunderbares Wesen«, sagte der alte Herr sichtbar ergriffen und drückte scheidend Aurorens weiche, kleine Hand an seine Lippen.

Die Schar der Gäste, von denen die ganze Gegend schwärmte, fesselte die Einsame an ihr Zimmer; selbst ans Fenster wagte sie kaum zu treten, weil sie der Späher Blicke scheute. Bis in den Abend hinein tönte das Gejubel aus dem nahen Walde, aus dem Garten, aus Feld und Au zu ihr herüber und empor. Nachdem die Sonne gesunken war, verlor sich allmählich das Gesurre und Getöse der Stimmen, die Gäste fuhren nacheinander davon. Als der Mond still und bleich heraufstieg, herrschte tiefe Ruhe im Dorf und auf dem Amtshof. Der lauten, tobenden Freude des Tags folgte die Ermattung der Körper.

Aurora ging hinaus in die wunderträchtige Nacht. Der Duft gemähter Wiesen und der kühle Tau machten die Luft erquicklich und belebend; diese feierliche Stille, dies durch Millionen glänzender Sterne, durch den matten Schein des großen Mondes gemilderte Dunkel taten dem kranken Gemüt der Wachenden wohl.

»Wer so hinwandeln könnte« – flüsterte sie – »bis ans Ziel, bis zu dir!« Als sie den Kirchhof betrat und sich dem Grabe des Küsters näherte, fand sie den Hügel ihres Freundes von rohen Händen entschmückt; ihre Rosen waren abgepflückt, ihre Blumen geraubt.

»Auch diese Freude mußten sie zerstören?« sprach sie wehmütig. Als die Efeuwand, vom kühlen Nachtwind durchrieselt, leicht zu rauschen anfing, stand, in Gedanken, der schreckliche Bote wieder vor ihren Augen, der ihr an dieser Stätte so schlimme Kunde überbracht hatte. Sie schrak zusammen und wendete dem grünen Plätzchen, an dem sie nie ein Gedanke von Furcht beschlichen, zagend den Rücken.

Der Arzt, welcher am andern Tage in Eilersrode ankam und Aurorens Körperzustand prüfte, erklärte, er könne nicht helfen. »Krank ist sie«– sagte er zu den bekümmerten Eltern –, »aber nicht am Körper, sondern am Gemüt. Suchen Sie ihr viel Veränderung und Zerstreuung zu verschaffen.«

»Das beste ist« – sagte der Herr von Eilersrode, der während des Gesprächs zwischen dem Arzt und Aurorens Eltern zugegen war –, »Sie vertraun mir Ihre Tochter an; ich will sie mit in die Residenz nehmen, dort, in meiner Familie, wird sich ihr Geist erholen.«

Dankbar nahmen der Amtmann und dessen Gattin das Anerbieten des gnädigen Herrn an. Aurora sträubte sich zwar anfangs, gab aber den dringenden Bitten und den liebreichen Ermunterungen des Edelmanns bald nach. »Dort oder hier« – dachte sie –, »es ist ja nicht für eine Ewigkeit.« Zärtlich nahm sie Abschied von ihrer Mutter und zog mit ihrem neuen Beschützer in die große, glänzende Welt, in die sie ein müdes Herz trug, das nur in den Bildern einer schönen Vergangenheit und in der Aussicht auf eine schöne Zukunft über dem Schmerz der Erde lebte und schlug. Auch Aurora glaubte, wie einst ihr Geliebter, die Heimat für ewig zu verlassen.

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