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9

Wie des Pfarrers Sohn vom Amtmann empfangen wurde, und was Aurora ihrem Geliebten schreiben mußte. – Wilhelms Abreise und Aurorens Leidenstage.

Die Kunde von des Küsters plötzlichem Tode wurde am andern Morgen sogleich im Pfarrhause bekannt. Wilhelm vernahm sie wie einen Donnerschlag und lief sogleich, sich von ihrer Wahrheit zu überzeugen, nach der Wohnung des Totgesagten. Zu seiner größten Betrübnis fand er die Nachricht bestätigt. Ein Schlag hatte, nach Aussage des Barbiers, dem Leben des alten Mannes ein Ende gemacht. Seine Bedienung, die aus einer alten Aufwärterin bestand, hatte ihn am Morgen kalt und starr im Lehnstuhl am Fenster sitzen gefunden; ein Versuch, ihn zur Ader zu lassen, hatte, zum Überfluß, den Beweis geliefert, daß in der entseelten Hülle kein Lebensrest mehr vorhanden sei.

Das Treiben der Lebenden, die sich in der Küsterwohnung nach und nach einfanden, um zu sehen und zu forschen, zu raten und zu klagen, verletzte den Jüngling; es lag etwas so Gemeines, Rücksichtsloses in diesen spionierenden Blicken, in dieser rauschenden Geschäftigkeit, diesem Durcheinanderplappern; die Menschen kamen ihm vor wie eine Meute gieriger Wölfe, die auf ein gestürztes edles Wild niederfuhren. Er verließ die verödete, bescheidene Wohnung seltener Tugend und reiner hoher Kunst und ging geradenwegs aufs Amt, teils um dem Amtmann eine Anzeige von dem erfolgten Tode des Küsters zu machen, teils um Aurora auf die Nachricht von dem herben Verlust ihres beiderseitigen Freundes vorzubereiten. Wilhelm wurde in des Dorfrichters Studierzimmer geführt, wo er den Vater Aurorens eben aufgestanden und beschäftigt fand, seine Morgenpfeife zum Kaffee zu rauchen. Der Amtmann bot dem Eingetretenen einen Stuhl, bedankte sich bei ihm wegen der gemachten Mitteilung über das Ableben des Kirchenbeamten und gab sogleich, da der Küster ohne natürliche Erben aus der Welt geschieden war, Befehl zur gerichtlichen Versiegelung seines hinterlassenen Vermögens.

»Ich will diese Gelegenheit benutzen« – sagte des Pfarrers Sohn, als er sich, nach dem Abtreten des Dieners, mit dem Dorfrichter wieder allein befand –, »Ihre Aufmerksamkeit auf einen andern wichtigen Punkt zu lenken.«

»Und der wäre?« – fragte der Amtmann neugierig und drückte den von der Hitze aufquillenden Tabak in seiner braungerauchten Meerschaumpfeife mit dem Daumen nieder.

»Ein Punkt, der das Glück eines Ihrer Kinder und mein eigenes betrifft« – versetzte Wilhelm.

»Zwei sehr verschiedene Objekte« – sagte der Amtmann gedehnt –, »die, ich hoffe, nie gemeinschaftliche Sache miteinander machen werden.«

»Was gleichwohl bereits geschehen ist, Herr Amtmann. Ich liebe Ihre Tochter Aurora und – –«

»Halt, halt, halt, halt« – schrie der Amtmann, den Sprecher unterbrechend –, »ich schenke Ihnen den Rest Ihrer schönen Rede, die ich anzuhören weder Zeit noch Lust habe. Statt ihrer, will ich Ihnen sagen, was Sie von mir zu wissen verlangen : meine Meinung. Sie sind der Sohn eines Predigers, der, wie die meisten seinesgleichen, ein Nest voll Kinder, einen Haufen Bücher, aber kein Geld hat; nicht einmal so viel, daß er seinen ältesten Herrn Sohn studieren lassen kann. Halt – halt« – schrie der Sprecher abermals, als Wilhelm Miene machte, ihn zu unterbrechen – , »bleiben Sie ruhig sitzen und hören Sie mich an, junger Mann, denn wir möchten sobald nicht wieder miteinander plaudern. Sie sind der Sohn eines Mannes, der mich bis auf den Tod haßt, mir auf alle mögliche Weise Leids zugefügt und mich aufs empfindlichste gekränkt hat. Ich liege mit Ihrem Herrn Vater im Prozeß und werde mich, was auch der Ausgang desselben sei, nie mit ihm aussöhnen, ebensowenig aber zugeben, daß zwischen seinen und meinen Kindern irgendwelche Gemeinschaft oder gar Liebschaft stattfinde. Von mir haben Sie also nicht allein keine Zustimmung, sondern auch meine ganze väterliche Autorität zur Hintertreibung eines Liebesverhältnisses mit meiner Tochter zu erwarten. Was Sie von sich selbst erwarten können, ist Ihre Sache; doch möchte ich Ihnen zu bedenken geben, daß Sie sich leicht arg verrechnen dürften, wenn Sie und Ihr Herr Vater mit Gewißheit darauf zählen, einst in die Fußstapfen des jetzigen Herrn Pfarrers treten zu können. Die Wahl eines Adjunkten oder gar neuen Predigers ist teils an und für sich noch im weiten Felde, teils von der Gnade und den Ansichten des Herrn von Eilersrode bedingt, bei dem Sie sich durch den Liebeshandel mit meiner Tochter keineswegs vorteilhaft sollen empfohlen haben. Worauf also begründen Sie die Hoffnung, überall eine Frau und Kinder ernähren, worauf die, meiner Tochter Hand erhalten zu können? Sie sehen, wohin Ihr Leichtsinn Sie geführt hat. Dixi! Ich habe gesprochen. Und damit Gott befohlen, junger Mann!«

Auf so viel Grausamkeit und Härte war des Pfarrers Sohn nicht vorbereitet, vor solcher Rohheit schloß sich seine Lippe. Verwirrt taumelte er die Treppe hinab, über die lange Flur des Amthauses und stürzte der erschrockenen Tochter des Hauses entgegen, die gerade auf dem Wege ins Zimmer ihres Vaters war. Im Fluge teilte Wilhelm ihr den Grund seines Kommens und den unbedachten Schritt, den er bei dem Amtmann getan, mit, und bat Aurora, am Abend in die Laube des Gartens zu kommen, wo er sie erwarten werde. Dann entfernte er sich in Verwirrung und Hast und eilte nach Hause. Diesmal verließ ihn seine heitere, alles besiegende Laune. Der Tod des Küsters hatte ihn tief erschüttert, aber auch zugleich seinen Blick ins Leben geschärft; er ahnte, daß der Kampf gegen die Verhältnisse um ihn erst beginnen werde; daß die Wolken, welche am Horizont seiner und Aurorens Liebe emporstiegen, das Sternbild ihres Himmels erst noch umdüstern, sich erst noch entladen sollten; er wollte den ganzen Umfang dieses Kampfplatzes kennenlernen, der sich vor seinen Augen ausbreitete, und insofern hatte er recht, dem Vater Aurorens offen entgegenzutreten. Als Wilhelm vor seinen Eltern erschien, erschraken diese über ihres Sohnes aufgeregten Zustand; er machte ihnen kein Hehl aus dem Grunde desselben, und schlug ihren Tadel, ihr Bedenken mit der Versicherung nieder, daß er nie von dem Gegenstande seiner Liebe lassen und lieber alles dahingehen würde als die Hoffnung auf Aurorens Besitz. Die Pastorin zeigte sich ein wenig verletzt über den Mangel an Zutraun, den Wilhelm ihr bewiesen, indem er sie nicht mit in das Geheimnis seiner Liebe gezogen hatte; der Pastor fand das Unrecht seines Sohnes in dem Leichtsinn, mit welchem er einem Gefühle Raum gestattet, gegen das sich der Ernst seiner Studien und die Pflichten gegen seine eignen Eltern auflehnten. Beide waren der Meinung, eine Verbindung zwischen Aurora und Wilhelm sei unter den herrschenden Verhältnissen ein Ding der Unmöglichkeit und sei auch keineswegs wünschenswert. Sie rieten ihrem Sohne, sich durch ernste, angestrengte Berufsarbeiten von den Gedanken an des Amtmanns Tochter abzuziehn und vertrauten auf seine kräftige Jugend, die, ihrer Ansicht nach, über die Torheit seines Herzens siegen mußte.

»Es gibt wahrhaftig noch Mädchen genug in der Welt« – sagte die Pastorin –, »wenn du erst eine Pfarrstelle hast, kannst du wohl noch eine viel bessere finden.«

»Ich erwarte von dir, mein Sohn« – sprach der Pastor –, »daß du dich mit allem Fleiß an deine Studien begibst; die werden dich auf bessere Gedanken bringen. Du bist noch viel zu jung zu solchen frühreifen Plänen, die besonders dem Geistlichen auf die Länge der Zeit hinderlich und lästig werden. Du zählst kaum zweiundzwanzig Jahre; bedenke, daß dein Vater erst mit dem zweiunddreißigsten Jahre in Amt und Würden getreten ist, und daß du von großem Glück zu sagen haben würdest, wenn dir's gelänge, ebenso früh befördert zu werden.«

»So finde ich denn auch bei euch kein Wort des Trostes« – rief Wilhelm schmerzlich aus und bereute im stillen, das Geheimnis seiner Brust so offen preisgegeben zu haben.

»Trost von unserer Seite würde eine Bekräftigung deiner Torheit sein« – sagte der Vater –, »die Gründe, welche der Amtmann dir aufgezählt hat, die dir jeden Schein von Hoffnung auf Erfüllung deines Wunsches nehmen, sind teilweise auch die Gründe deiner Eltern, auf die du, als guter Sohn und ihre einzige Stütze, die gebührende Rücksicht nehmen wirst.«

Zum ersten Mal fühlte Wilhelm die Wucht der äußern Verhältnisse schwer auf sich lasten. Der Tag schien ihm kein Ende nehmen zu wollen, unstet eilte er in der Umgegend umher; der Gedanke an Aurorens Leiden, die er durch sein gewagtes Spiel heraufbeschworen, erfüllte ihn mit bitterer Reue; der Verlust seines Freundes, zu dem er gerade jetzt sich mächtig hingezogen fühlte, umhüllte seine Seele mit Schmerzen; der kalte, berechnende Verstand des Vaters, die gefühllosen Ratschläge der Mutter versetzten ihn in den Zustand einer halben Verzweiflung. »Will es denn nicht bald Abend werden?« rief er mit Tränen in den Augen, und doch war es kaum Mittag geworden. Tausend Pläne durchstürmten seine Brust, tausend Zweifel nagten an ihr; ein ganzer Sturm tobte durch sein Inneres. Ein einziger Gedanke warf, wie die Sonne durch einen wolkenschwangeren Sturmhimmel, von Zeit zu Zeit einen warmen hellen Strahl auf das Dunkel seiner Seele: Aurora! Er wollte ihr zu Füßen sinken, sie um Vergebung anflehn, ihr den Schwur der Liebe und Treue tausendmal wiederholen, sein brennend Auge an ihre sanfte Schulter legen, mit ihr ein unverbrüchlich Bündnis schließen gegen die kalte Herzensmauer der Welt; er wollte ihr seine Pläne für die Zukunft mitteilen, mit ihr über den geschiedenen Freund weinen, mit ihr die Erde vergessen und im süßen Kuß von ihrer lieben Lippe über den Schmerz lächeln, der ihn jetzt folterte. Träge schlich der Tag dahin; Wilhelm ging vom Tisch, wie er sich zu Tisch gesetzt hatte: ohne zu essen. Die Eltern waren stumm, die Kinder sahen den finstern Bruder betrübt an und erzählten sich von dem toten Küster und dem Schuhflicker, der ihn zu Grabe läuten würde.

Endlich, endlich dämmerte es im Pfarrhause. Da kam ein Bote vom Amt und brachte ein Schreiben und ein kleines Paket Briefe an den Herrn Studiosus theologiae. Wilhelm erkannte Aurorens Handschrift; hastig erbrach er das Siegel und las:

»Mein Herr! Nachdem ich mit meinem Vater gehörig überlegt, daß die Verhältnisse und Ansichten, in denen Sie und ich aufgewachsen sind, sich jedem Gedanken an die Möglichkeit einer Gemeinschaft zwischen uns schroff widersetzen ; nachdem ich zu der Überzeugung gelangt bin, daß es eine unverantwortliche Torheit von Ihrer und Pflichtvergessenheit von meiner Seite sein würde, der eitlen Hoffnung auf eine gegenseitige Verbindung irgendwelchen Vorschub zu leisten; nachdem endlich der Wille meines Vaters, der jedem wohlerzogenen Kinde höherstehen muß als der Wunsch eines unerfahrnen Herzens, sich entschieden gegen Ihre Bewerbungen um meine Hand ausgesprochen, erkläre ich Ihnen hiermit, daß Sie einer Hoffnung auf meine Hand nie und zu keiner Zeit mit meiner Bewilligung Raum geben dürfen, und sende Ihnen Ihre mir seit einem Jahre geschriebenen Briefe beifolgend mit der Bitte zurück, mich in den Besitz meiner Ihnen geschriebenen Antworten zu setzen und mit neuen Beweisen Ihrer Achtung hinfort verschonen zu wollen.

Aurora.«

Als Wilhelm die Augen aufschlug, war es draußen völlig dunkel geworden. Er hörte den Vater und die Mutter über die Anstalten zur bevorstehenden Abreise ihres Sohnes sprechen, die Kinder vor dem Zubettegehn leise plaudern und sah die alte Familienlampe ihren gelben, trüben Schein auf die kahle, schmutzig weiße Wand werfen. Seine kalte Hand hielt das Papier, dessen Schriftzüge ein langes, martervolles Todesurteil über ihn enthielten. Die Bedeutung dieser Schrift hatte ihn zernichtet; der Seelenschmerz und Schrecken, den ihm Aurorens Schreiben und die Zurücksendung seiner eignen Briefe verursachten, betäubten und lähmten ihn. Er fühlte sich kraftlos und krank; fühlte, wie man plötzlich um Jahre älter werden, wie der Zeiger auf dem Zifferblatt des Lebens plötzlich einen Sprung vorwärts tun kann. Zum vollen Bewußtsein seiner Schmerzen kam er erst nach und nach, als er aus dem Gerede seiner Mutter abnahm, daß sie den Brief in seiner Hand teilweise gelesen haben mußte, während er im bewußtlosen Zustande am Fenster gesessen.

»Das hätte ich dir vorhersagen können, lieber Wilhelm«, sagte die Pastorin, »mit den Leuten ist nicht auszukommen; womit der eine gewaschen, damit ist der andere getrocknet. Natürlich hat sie dem Vater nachgeben müssen, ich will's zu ihrer Ehre glauben –«

Wilhelm erhob sich; Todesblässe hatte sein jugendliches Gesicht überzogen. Kalt und gleichgültig blickte er seine Mutter an und ging langsam zur Tür hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.

»Er macht mir doch Sorgen« – sagte der Pastor –, »sieh, wohin er gehen mag.«

Wilhelm ging nach des Küsters Wohnung. Die alte Wärterin hatte das Gemach, in welchem der Tote auf der Bahre lag, erleuchtet und saß mit der Totenfrau, die die Leiche angekleidet hatte, draußen auf der Diele vor dem Feuerherd, auf welchem das Wasser zum Kaffee brodelte. Als die Weiber den Jüngling eintreten sahen, erhoben sie ein gemeinschaftliches Geklage und Gewimmer. Wilhelm grüßte sie schweigend und schritt über die Schwelle der Stube, deren Tür er hinter sich zuzog.

»Der junge Herr war sein bester Freund« – flüsterte die Wärterin zur Totenfrau –, »alle Tage kam er, und sie spielten und sangen zusammen, daß es eine Freude war; des Amtmanns Tochter kam gewöhnlich auch dazu, und wenn die drei so beisammen waren, dachte ich immer, der Alte müsse der Vater zu den jungen Leuten sein, so herzte und küßte er sie.«

»Und sie küßten und herzten sich auch«, sagte schmunzelnd die alte, zahnlose Totenfrau.

»Nun, es gibt ein schmuckes Pärchen.«

»Die werden nun und nimmer ein Paar; eh kriege ich noch einen Mann auf meine alten Tage, als des Amtmanns Tochter des Pfarrers Sohn kriegt. Die Alten kratzten sich lieber die Augen aus, als daß sie's zugäben.«

»Ach, da war mein Alter ein andrer Mann«, sagte die Wärterin, »der kümmerte sich nicht so viel um die ganze Geschichte und hätte sie alle zu Bälgentretern gemacht, wenn's angegangen wäre. Aber laß den Kaffee nicht kalt werden.«

»Und alles haben sie dir heut versiegelt?« fragte die Totenfrau. »Das ist doch hart! Was meinte denn der Amtmann, daß er dir, so mir nichts dir nichts, die Schlüssel weggenommen hat?«

»Es ist eine Schande«, antwortete die Alte und warf ein groß Stück Zucker in ihren braunen Trank –, »ich habe hier fünfundzwanzig Jahre treu und redlich gedient und werde nun so schlecht behandelt! Wenn das mein Alter wüßte, er würde sich noch im Grabe umdrehen.«

»Aber du wirst doch in der lieben langen Zeit auch für deine alten Tage gesorgt haben?«

»Eine Närrin bin ich gewesen, das weiß der Himmel. Der Alte hat nicht Hund, nicht Huhn, die ihn beerben könnten; ich hätte mir von Rechts wegen viel mehr auf die Seite bringen dürfen, ohne einem Menschen deshalb zu nahe zu tun.«

»Du weißt, er hat kürzlich sein Testament gemacht, da wird er dich doch auch bedacht haben?«

Während die Weiber auf der Diele im grellen Schein des Herdes schwatzten und Kaffee tranken, war Wilhelm an die Bahre getreten. Der Anblick des bleichen Leichnams weckte ihn aus seinem dumpfen Brüten; ein heller Tränenstrom perlte aus seinen Augen herab auf die welken, kalten Hände des geliebten Toten. Wehmütig bog sich der Jüngling über das weiße Haupt und hauchte den auch im Tode freundlich lächelnden Zügen den glühenden Atem seiner seufzenden Brust entgegen.

Als flehe er den Gestorbenen an, ihm noch ein mildes Wort des Trostes zu sagen, ruhte das weinende Auge des Einsamen auf der geschlossenen Wimper des Greises. Da war's, als schwebte Aurora ins Zimmer, als rausche sie an dem Betrübten vorüber an die Seite der Bahre und blicke gramgeknickt auf den Toten.

»Aurora!« – rief Wilhelm und streckte die Hand aus, um die Hände seiner Geliebten zu fassen, – aber die Erscheinung verschwand vor seinen stieren Blicken; er griff in ein leeres Nichts. Die Lichter flackerten über dem langen, verkohlten Docht unruhig auf; an die Fensterscheiben schlug, wie eine pickende Totenuhr, eine vom Winde bewegte Rebe des Weinstocks; draußen flüsterten die Weiber und klapperten mit den Tassen. Niemand atmete im Zimmer als des Pfarrers Sohn. Er fuhr sich mit der fieberheißen Hand über Stirn und Augen und starrte entsetzt in den erhellten Raum und auf den umlinnten Leichnam seines Freundes, ohne das Gebilde seiner aufgeregten kranken Phantasie wieder erhaschen zu können. Schmerzlich lächelnd schritt er im Zimmer auf und ab, an den stummen Saiten des Klaviers vorüber, das die rohe Hand des Amtsschreibers im übertriebenen Diensteifer mit zwei großen roten Amtssiegeln versehen hatte.

»So glauben sie« – sprach des Pfarrers Sohn bitter spottend beim Anblick dieser Siegel – »die innere Welt der Klänge eingepfercht und die Saiten der Seele vor dem Zerreißen und Aufklingen bewahrt zu haben, wenn sie den Stempel ihrer Gesetze auf die Hülle drücken, und wissen nicht, daß was darin geschaffen wurde, was da lebte und webte, längst nicht mehr an dem kalten Metall und dem ungefügigen Holze haftet, daß es hinausgeklungen, daß es Wurzel gefaßt hat in einem andern Reich, in das ihre brandmarkenden Hände nicht greifen können. So besudeln und verschließen sie das Leben, so wollen sie des Daseins Poren verkleben; aber was hindurchwogt, ist mehr, als sie sich träumen lassen.« Als des Jünglings Blicke auf die langen, weißen Haare des Toten zurückfielen, ergriff er eine Schere, nahm eine Locke des Silberhaars zwischen die Finger und schnitt sie ab.

»Verzeihe mir diesen Raub« – flüsterte er und verbarg die Locke auf seiner Brust –, »ich will sie auf meinem Herzen tragen; sie sei der Talismann meiner Zukunft; bei ihrem Anblick will ich deiner gedenken, deiner Töne, deiner Worte! Sie soll mich an die Stunden der Begeisterung mahnen, die ich deiner Größe, deiner großen Tugend verdanke. Glücklicher! Du hast nun ausgemüht, bist diesem hohlen Boden entrückt und fußest jetzt auf einer weicheren Decke!«

Als Wilhelm ins Freie trat, schlug es Mitternacht; der Wächter blies ins tönende Horn, und ein kühler Wind rieselte über die Hügel des Friedhofs. »Zwei Gräber tun sich an einem Tage für mich auf« – flüsterte der Wanderer und blickte in den schwarzumwölkten Sternenhimmel, durch dessen wehenden Schleier die hellen, fernen Lichter flimmernd kamen und schwanden; durch Nacht und Nebel irrte er zwischen den Grabstätten umher und lenkte unwillkürlich seine Schritte nach dem Amtgarten. Das Pförtchen war verschlossen; im Garten regte sich nichts, die Nebel streiften an der hohen, kalten Mauer hin und die Wipfel der Bäume nickten rauschend hin und her.

»Ich könnt es denken« – sagte Wilhelm leise, die Hand von dem Riegel des verschlossenen Pförtchens zurückziehend –, »was hab ich hier auch noch zu suchen? Die Welt der Herzen tat sich vor mir zu. Es ist plötzlich Nacht um mich geworden. O, was habe ich getan, welche Sünde liegt hinter mir, daß ich, so jung, so glücklich, nun plötzlich den frostigen Kelch der Leiden an meine Lippe bringen muß! Was tat ich euch, daß ihr den Frost eurer Eisseelen ins süße Gehege meines Frühlings haucht! So lieb war mir die Heimat, so wonnetrunken betrachtete ich sie; alle Schätze der Welt, alle Sehnsucht nach außen hätte ich nicht um sie hingegeben. Jeder Baum, jeder Stein kam mir vor wie ein teilnehmender Zeuge meines Glücks, nirgend rauschte der Bach so lieblich wie hier. So schön, so stillselig hatte ich mir das Dasein vorgezeichnet, so hoch schlug mir das Herz in dem Gedanken, einst ein guter Mensch hier dem Schwachen voranzugehn mit der Wahrheit und dem Recht in Wort und Tat; ihm ähnlich zu werden, ihm, dem großen Gestorbenen, und glücklicher noch als er, glückseliger hienieden. O, er war weise, er hatte recht, sein Herz nur einmal zu öffnen, wie der Schwan nur einmal im Leben seiner Seele Töne gibt; er hatte recht, seine Liebe heilig zu verschließen vor den Blicken aller. Nun wohnt er mit ihr in seiner herrlichen Welt allein, und keine Reue, kein Schmerz der Erinnerung raubt ihm, wie mir, die Wonne der Gedanken.«

Erst gegen Morgen warf sich Wilhelm ermattet aufs Lager; er schlief lange und fest, bis tief in den Tag hinein und brachte den Rest desselben mit den Anstalten zur Abreise zu. Aurora sah er nicht wieder. Die Möglichkeit, wenn auch gezwungen, einen Brief zu schreiben wie der, den er erhalten, war in seinen Augen Beweis genug, daß Aurora ihn nicht liebte wie er sie. Sein verletztes Ehrgefühl ließ ihn zu gar keinem Versuch kommen, sich in die Lage des armen Mädchens hineinzudenken. Er würde sich lieber haben die Finger abhauen lassen, als ein schriftliches Zeugnis gegen sich selbst und seine Liebe zu Papier zu geben; aller Welt hätte er's entgegengeschrien, daß er liebe und nicht hasse, und wenn sich alle Welt gegen ihn gekehrt und mit Vernichtung gedroht hätte. Mit den schwärzesten Farben malte sich seine Seele die Treulosigkeit seiner Geliebten aus; er schenkte seiner falschen Mutter willig Gehör, als ihn diese an Aurorens Aufenthalt in der Stadt und an die vielen Vergnügungen, denen sie dort beigewohnt hatte, erinnerte. Er dachte sich, es sei ihr vielleicht willkommen gewesen, durch des Vaters Vermittelung seiner für immer enthoben zu werden; mit glühender Eifersucht stellte er sich den Glücklichen vor, dem die treulose Geliebte hinfort die Zärtlichkeiten beweisen werde, die ihn so unaussprechlich selig und nun so namenlos unglücklich gemacht hatten. Er sehnte sich aus ihrer Nähe fort und schwur im stillen, sich ihr nie wieder zu nahen.

Am andern Morgen stand die alte Landkutsche, die des Pfarrers Sohn bis zur Stadt fahren sollte, frühzeitig vor der Tür. Wilhelm nahm einen kurzen Abschied von den Eltern und Geschwistern und stieg ein, ohne auf die vielen Ermahnungen, Ratschläge und Grüße zu hören, die ihm mit auf den Weg gegeben wurden. Als der Wagen bei dem Kirchhof um die Ecke bog, fing die Betglocke zu läuten an. Thomas verdiente heut ein Brot. Der Dorfschulmeister kam mit seinen Schülern über einen Zaun, um den Küster zu Grabe zu singen. Der Anblick des Zugs der Dorfkinder und das Trauergeläute rissen alle Wunden in der Brust des Betrübten wieder auf; er warf sich in die Ecke des Wagens und weinte wie ein Kind. Die Morgenluft wehte frisch durch das offene Wagenfenster; als das Gespann vor dem Amthofe vorüberfuhr, blickte Wilhelm nach dem Fenster des alten Gebäudes hinauf. Er sah eine Gestalt dort oben sich bewegen; ihm kam es vor, als winke sie ihm grüßend mit einem weißen Tuche zu, als werfe sie ihm Küsse mit den Händen zu, als strecke sie ihm ihre Arme nach. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Bauernpferde fingen wiehernd an zu traben ; das Dorf, das Amthaus verschwanden vor den Blicken des Fliehenden, und nur die Trauerklänge der Betglocke folgten ihm noch lange nach.

»Du wirst dich getäuscht haben«, dachte Wilhelm, als die winkende Gestalt Aurorens ihm immer noch vor Augen schwebte, »wie du dich gestern abend täuschtest, daß sie dir gegenüber an der Leiche des Küsters stand. Laß ab von ihr und wappne dich gegen das Schmerzensecho, das aus den Tagen deines Glücks an die nahe, harte Wand der Wirklichkeit prallt. Die Welt steht dir offen; einem Dorfe kehrst du den Rücken, eine Welt öffnet dir ihre Tore. Sei wieder froh und hoffe auf den kommenden Tag.«

Auf Augenblicke gelang es dem Bekümmerten, sich aus seinem Trübsinn emporzureißen; dann aber forderte der Schmerz wieder seinen Zoll. Wilhelm fühlte, wie unendlich viel er in denen verloren hatte, deren Herzen eben aufgehört, für ihn zu schlagen. Die Heimat war über Nacht zur Fremde für ihn geworden; nie, glaubte er, werde sein Fuß sie wieder betreten. Alles, was er als Pfand schöner Stunden mit sich hinwegnahm, war die Locke vom Haupte des lieben Verstorbenen. Er führte sie an seine Lippen, er küßte sie in Ehrfurcht und Liebe und benetzte sie mit Tränen der aufrichtigsten, reinsten Trauer.

Mehr als Wilhelm war Aurora zu beklagen. Ihr entflohener Geliebter hatte sich nicht getäuscht, als er glaubte, sie am frühen Morgen am Fenster zu erblicken. Sie war es wirklich; ein ahnungsvolles Bangen trieb sie in der Stunde der Trennung von ihrem Freund vom Lager auf und ließ sie durch den dämmernden Tag nach dem Geliebten ihrer Seele spähen. Er fuhr vorüber und schien sie nicht zu bemerken oder bemerken zu wollen. »Er weiß nicht, was du leidest!« sagte sie, die Hand auf das schlagende Herz legend, und warf sich schluchzend wieder auf das Lager, das sie seit zwei Tagen gefangenhielt. Aurora glaubte die Schreckenszeit nicht überleben zu können. Der Vater hatte sie mit aller Furchtbarkeit seines Zornes gezwungen, niederzuschreiben, was sie, ohne es klar zu empfinden und zu begreifen, an Wilhelm geschrieben. Kurz nachdem ihr der Geliebte die Trauerbotschaft von dem Tode des Küsters überbracht, hatte der Amtmann die Tochter zu sich auf sein Studierzimmer beschieden. Verwirrt und erschüttert von der erhaltenen trüben Kunde, hörte sie dem Ausbruch der väterlichen Zorneswallung nur mit halbem Ohre zu. Das Geheimnis ihrer Liebe so unerbittlich in den Staub getreten zu sehen, beschämte die Jungfrau; willen- und wissenlos, wie in einem bösen Traum getrieben, ließ sie sich die Feder in die Hand pressen und die Worte vorsprechen, die wohl ihr Ohr vernahm, wohl die Hand mechanisch hinmalte, aber an denen ihre reine Seele keinen Teil hatte. Eingeschüchtert, wie unter der Faust eines Gewaltigen, gab sie dem Vater die Schlüssel zu dem kleinen Schrein ihrer goldenen Welt und sah starr auf das, was mit den Pfändern einer Liebe, die sie hoch und heilig hielt, von schonungsloser Hand vor ihren Augen vorgenommen wurde. Die ganze Szene zwischen Vater und Tochter dauerte nicht länger als eine Viertelstunde. Mit einem Schrei des Schmerzes, der Steine hätte erbarmen mögen, warf sich die Unglückliche in die Arme ihrer Mutter, die sie tröstend, im Innern aber selbst trostlos, auf das Lager führte, von welchem die Arme lange Zeit nicht wieder aufstehen sollte. Die schmerzlichen Ereignisse und leidenschaftlichen Auftritte hatten zu heftig auf ihr sanftes Gemüt und auf ihren zarten Körper eingewirkt. Ein Nervenfieber bemächtigte sich ihrer wenige Tage nach dem Tode des Küsters und der Abreise ihres Freundes und führte sie an den Rand des Grabes. Schreckliche Bilder marterten sie während dieser Krankheit; ein ewig wiederkehrendes war das der Laube, in welche sie verhindert gewesen war, den Geliebten aufzusuchen, den sie ohnehin ja nicht gefunden haben würde, wenn sie seiner auch geharrt hätte; in ihren Phantasien wollte sie aufspringen und davoneilen und sah sich dann von furchtbaren wilden Tieren, von giftigen Schlangen und Ungeheuern mit großen Glutaugen festgehalten. Ihre Mutter wich nicht von dem Schmerzensbett der armen Kranken; wochenlang saß sie Tag und Nacht an ihrem Lager, horchte auf den Atem ihres Kindes, auf das leiseste Wort, achtete auf die pünktlichste Befolgung der ärztlichen Vorschriften und schien von keiner Ermattung in der Sorge um ihre liebe Tochter befallen zu werden. Hätte Wilhelm, dessen Name tausendmal über die verräterischen Lippen der Kranken kam, nur einmal an diese Schmerzensstätte treten, nur einen Blick auf das leidende Mädchen werfen können, seine Zweifel würden im Nu gelöset, es würde ihm wie Schuppen von den Augen gefallen sein, und er wäre reumütig vor dem Lager der Siechen niedergesunken, um sich als einen Verräter an ihrer seltenen Liebe selbst anzuklagen.

Der Amtmann hatte mehr denn einen Grund bei der Hand, um sein hartes Verfahren gegen Aurora zu entschuldigen; der bedenkliche Zustand, dem sein Kind zur Beute geworden war, machte ihn freilich sehr besorgt und gab zu manchen Beweisen väterlicher Liebe und Zärtlichkeit von seiner Seite Anlaß, konnte ihn aber von der einmal gewonnenen Überzeugung, Aurora und Wilhelm könnten und dürften einander nie gehören, nicht abbringen. Er sprach sich auch darüber offen gegen seine Frau aus, die sich vergeblich bemühte, seine Gründe gegen den Sohn des Pfarrers niederzuschlagen und das Glück ihres Kindes als das höchste anerkannt wissen wollte, was bei der Wahl eines Lebensgefährten für dasselbe in Betracht zu ziehen sei.

»Anständig, wie ihre Bildung und ihr Stand es erheischen« – sagte der Amtmann –, »soll sie einmal verheiratet werden; ich habe ganz andere Bewerber für sie im Sinne als diesen Habenichts. Sie kann noch ein ganz anderes Glück machen und wird es mir Dank wissen, daß ich sie vor dem Schicksal einer Landpastorin behütet habe. Von meinen Kindern soll keins mit der Geistlichkeit in nähere Berührung treten, denn dabei ist kein Segen. Wie – meine Tochter sollte noch zehn, fünfzehn Jahre warten, ehe sie heiraten dürfte! Ich gebe dir mein Wort, es dauert kein Jahr, und sie hat ihn vergessen und eingesehen, daß sie für was besseres geschaffen ist.«

»Und wenn sie's nicht einsieht?«

»Sie wird, sie wird es einsehen, verlaß dich darauf.«

»O, ihr Männer seid grausame Geschöpfe«, sagte die Amtmännin betrübt, »ihr versteht uns nicht und könntet so leicht in unserer Seele lesen. Ihr beglückt nach dem Maßstabe, den ihr an das Leben legt und laßt keinen andern als den euren gelten. Was uns nötig ist zum Glück, das achtet ihr gering; was euch so leicht wird zu gewähren, damit seid ihr karg. Eure Schmerzen tobt ihr aus, gegen die unsern seid ihr gefühllos und mitleidsarm; die euren scheinen euch immer riesig und unerträglich, die unsern klein und leicht erduldet.«

»Recht so« – unterbrach der Amtmann seine Frau –, »predige deiner Tochter nur solche Ansichten vor, du wirst an ihr eine willige Zuhörerin finden; teile ihr nur recht viel von deiner sentimentalen Natur mit, sie wird es willig annehmen; aber du wirst ihr damit keinen Dienst erweisen, du wirst eine Grille in ihrem Herzen nähren und sie unglücklich machen.«

»Wenn mein Kind es je werden sollte« – sagte Aurorens Mutter mit selbstbewußter Würde –, »bin ich gewiß nicht schuld daran. Ich fürchte, sie ist es schon; Gott ist mein Zeuge, nicht durch mich! Mußte Aurora auf einen andern Weg gebracht werden, so durfte dies nicht durch Maßregeln bewirkt werden, gegen die sich selbst das Gefühl deiner Bauern empört zeigen würde. Der Himmel möge uns nicht strafen, uns unser liebes, sanftes Kind nicht entreißen; aber geschähe es, du würdest dich von dem innern Vorwurf nicht befreien können, Aurora deiner Zänkerei mit dem Pastor zum Opfer gebracht zu haben, und das wäre für mich ein Kummer, herber als der, den mir der Verlust der eigenen Tochter selbst bereiten könnte.«

Der Amtmann ärgerte sich zwar über die Worte seiner Frau, war aber von der Wahrheit derselben halb getroffen und schwieg. Er ließ satteln, um sich durch einen Ritt ins Freie Zerstreuung zu verschaffen.

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