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Aurora pflegt des Küsters Grab.

Der Pastor war nicht der einzige in Eilersrode, der aufrichtig Leid um Wilhelm trug und zärtlich seiner gedachte. Aurora hatte kein anderes Bild in ihrem Herzen als das von des Pfarrers Sohn; kein Morgen öffnete ihre Wimper, ohne daß sie des Geliebten gedachte, kein Abend schloß ihr Auge, ohne daß sie bei ihm weilte. Mit dem wiederkehrenden Frühling waren alle Gedanken des Mädchens neu durchatmet von der Erinnerung an ihn. Die Laube grünte, und der Flieder blühte wieder, die Nachtigallen schlugen wieder im Dickicht des Gartens, der Mond blickte ewig so traut und lieb wie damals. Um nichts in der Welt hätte Aurora die Erinnerung an den vergangenen Frühling hingegeben; wieviel Gram und Leid er ihr auch vermacht hatte, sie nahm es willig als Bürde für den Hochgenuß jener seligen Tage mit ins Leben. Auch sie fragte sich: »Wo er jetzt wohl weilen mag?« fragte es ganz anders als der Vater ihres Geliebten. Ihr Auge schaute dabei hell und zärtlich gen Himmel, ihre Lippen lächelten süß zu den Tränen, die unter diesem keuschen, seligen Blick über die sanft gerötete Wange glitten; auch sie versank dabei in tiefe Gedanken, in einen Gedanken voll glühender Hoffnung und Liebe; auch für sie hatte das Schicksal des Fernen Poesie. Ihre schwärmerische Seele umgab den Geliebten mit allem Glanz der Erde, malte ihn zum Helden eines großen, schönen Schauspiels, zum mächtigen Sieger einer ganzen Welt; auch sie betete für ihn, aber mit Inbrunst, mit aller Glut einer jungen, keuschen Mädchenseele. Ihre Gebete waren wie Lieder voller begeisterter Worte, voll kühnen Gedankenschwungs, voller süßer Klage. Sie fühlte wohl in ihrer jungen Brust das Heimweh nach dem Zauberlande ihrer Liebe, und die Welt, in der sie weilte, war ohne ihren Freund eine große Fremde für sie, aber das Bild von dem Vaterlande ihrer Wonne stand hell vor dem klaren Auge ihres Geistes, ihr Herz nährte sich mit dem festen Glauben, die Sonne werde einst durch das Gewölk ihres Himmels warm und hell wieder herabscheinen. In diesem Glauben, in dieser Hoffnung störte sie nichts, nicht das bange, lange Schweigen ihres Geliebten, nicht der Menschen Haß und eitel Tun, an dem sie kein Teil hatte; nicht die Einsamkeit des öden Dorfs. Wo sie wandelte, wo sie atmete, nahm die Welt vor ihren Augen einen Widerschein vom Schmelz ihres innern Himmels an; was auch ihr Ohr vernahm im Gewirr des Lebens, immer durchtönte ein Klang aus der reinen Harmonie ihres geschwundenen Glücks das Geräusch der Welt, in der sie, wie ein schöner, einsamer Stern am Himmel, glänzend dahinging und von dem Wolkendunst nicht berührt ward, der, tief unter ihrer Bahn, ihren Glanz wohl bedecken, aber nicht erlöschen konnte.

Als der Westwind den Schnee von den Gräbern wegtaute, ging Aurora zum Kirchhof zu des Küsters Grab, einen kleinen Garten daraus zu machen. Sie nahm eine junge Linde aus der Laube des Amtgartens und pflanzte sie an die Stelle, unter welcher tief in der stummen Erde das Haupt des geliebten väterlichen Freundes ruhte; zu den Seiten des Grabes senkte sie Rosenstöcke in den Boden, und den Rasen des Hügels durchblümte sie mit den schönsten Blumen ihres Gartens. Täglich kam sie, das Grab zu pflegen, stundenlang beschäftigte sie sich mit der kindlichen Sorge um die kleine, farbige Blumenwelt neben der Efeuwand, deren grüne, große Blätter auf den Rand des Hügels herabhingen. Über die niedrige Mauer des Friedhofs lugte das freundliche, weinumrebte Fenster des Küsterhauses herüber, als schaue es wehmütig lieb und harrend nach der Stätte des Friedens und der Ruhe, von der niemand wiederkehrt in der Menschen Wohnungen, niemand, dem sie einmal zum weichen Kissen dient. Stundenlang saß des Amtmanns Tochter hier im Geflüster der grünen Blätter und dachte der reinen Freuden, deren Nachhall im Anblick jenes Fensters hell in ihr aufklang; wenn sie von dem Blumenhügel des Küsters aufschaute und nach dem verlassenen Fenster hinüberblickte, war ihr immer, als müsse ihr Wilhelm kommen und die wachsenden Kinder des Frühlings, die ihre Hand auf den Hügel gestreut, betrachten, ihr die eigne Hand reichen und mit ihr auf die Knospenwelt zu ihren Füßen hinablächeln. Wenn die Morgensonne goldig über den glänzenden Rasen der Gräber schien und sie durch das kleine hölzerne Pförtchen des Kirchhofs an den Hügel des Küsters heranschwebte und sich sanft und leise zu den Blüten bückte, glich sie ganz einem Engel des Todes, nur daß sie statt der erlöschenden Fackel [ein] farbenquellendes Füllhorn voll Blumen und Knospen trug. Wenn im warmen Hauch des Mai eine schöne Blüte ihren offnen Kelch dem Lichte zukehrte, dachte Aurora an ihren Geliebten und verglich ihn im stillen mit der reinen, herrlichen Blüte; als die Rosen ihre purpurglühenden, duftenden Knospen auftaten, als die erste Rose ihr an einem frühen, stillen Morgen glänzend entgegenprangte, sprach sie zu ihr: »Ich möchte dich brechen, dich an seine Brust legen und sagen dürfen: nur für dich, für dich allein, Geliebter meiner Seele, Rose meines Lebens! Ich möchte seine Hand nehmen, sie auf mein treues Herz legen und, mit ihr verschlungen, auf diesen Hügel niederknien dürfen, in diesen lichtwogenden Tag voll Knospenduft, voll Sang und Wärme hineinleben dürfen. Wann, o, wann sendest du mir ein Zeichen der Liebe und des Lebens, süßer Freund? Wann bringst du mir eine Rose? Da quälen und hassen sie sich im Leben, und wenn sie einmal Waffenstillstand für einen Augenblick machen, nennen sie es Liebe. Aber sie lieben sich nur so lange, als der Waffenstillstand dauert, und das ist kurze Zeit. Wenn sie sich nicht haben, wenn sie sich nicht sehen, einander belauschen und sich die paar Schritte bis hierher mit Bergen von Sorgen und Kummer erschweren können, dann meinen sie, ihrer Schwüre los und ledig zu sein und kennen einander nicht mehr, die sich oft so heiß zu lieben schwuren. Ist es denn möglich, daß sich das Auge, das einmal der Sonne Licht erblickte, von ihr abwenden, nach andern Sonnen spähen kann? Nein, nie könnte sich mein Auge mit dem Abglanz anderer Sonnen zufriedengeben, wenn ihm seine erste, seine einzige Sonne unterginge. Von ihr allein kommt Glut, kommt Wärme; kalt ist der Strahl der Scheinwelt, für die sie mich geboren wähnten. Ach, ich mag sie nicht, ihre öde, frostige Welt; nie werde ich mich heimisch in ihr fühlen können ohne meine Seligkeit, ohne den Gedanken an ihn! Mit ihm wird die Wüste mir zum Paradiese und die Einöde zur tönenden Freude; mit ihm weile ich gern bei Gräbern, wie bei lieben Freunden; in ihm vergesse ich das Leid, das meine Brust birgt, vergesse den Frevel, den anderer Hände an meiner Liebe zu begehen trachten. Sie meinen, ich würde von ihm lassen, würde es machen wie sie, ihn vergessen, und wissen nicht, daß meine Seele sich immer fester an ihn schmiegt, daß jeder Atemzug meines Lebens ihm gehört, jeder Pulsschlag meines Herzens ihm, dem Geliebten, dessen Lippe schöner als die Rose, dessen Wort süßer als der Sang der Vögel, ihm, den sie kalt und lieblos hinaustrieben, durch mich hinaustrieben in die Weite. Ich hab ein Recht, ihn so zu lieben, eine heilige, süße Pflicht, denn ich tat ihm weh, ich zerriß mit Zweifel sein treues, gutes Herz, seiner großen schönen Seele bereitete ich Qualen; ich gelobte ihm Lieb und Treue mit dieser Lippe, mit dieser Hand, an der Seite unseres früh, ach zu früh gestorbenen Freundes, dessen Segen auf ihm und auf mir ruht.«

Oft nahm des Amtsmanns Tochter ein Buch mit auf den Friedhof und las oder sah sinnend über die Blätter hinweg in den Sonnenhimmel; oft auch führte sie ihre kleinern Geschwister an das Grab des Küsters und überließ sich einem Gefühl der heiligsten Andacht. Hier an dieser Stätte läuterten sich ihr Herz und ihre Liebe von den Stürmen und der Glut, von denen menschliche Seelen bei der Trennung voneinander heimgesucht und gequält werden; hier nahm ihr ganzes Wesen etwas Geweihtes an, etwas von dem, was im hellen Tau der jungen Rosen glänzte; etwas von dem stillen, seligen Frieden der Erlösten.

Aurora ward der Genius des Eilersroder Kirchhofes; die Bauernmädchen ahmten auf den Hügeln der Ihrigen dem Muster nach, das sie in des Küsters Grab erblickten. Das ganze Dorf hatte seine Freude an dem Schmuck der Gräber, und er, den im Leben niemand zu beneiden schien, ward im Tode fast beneidet wegen der lebendigen Farbendecke, die des Amtmanns zarte Tochter liebend auf sein Grab deckte. Die Gänge nach dem Friedhof gehörten zu Aurorens liebsten Wegen; auf ihnen warf sie den Schleier der Schmerzen von sich, den das Leben um sie wob; auf ihnen pflückte sie das Grün der Hoffnung und flocht daraus zarte, liebliche Kränze für den heitern Morgen ihrer Gedankenzukunft. Des Küsters Grab ward der Altar, dem Aurora täglich opferte, dem sie sich mit frommer Seele näherte, von dem sie gestärkt in die Welt voll Trübsal und Schatten zurückkehrte. Diese Welt ließ ihr das einzige, was sie von ihr verlangte, wofür sie ihr innig dankte: Ruhe. Seit ihrer Krankheit hatte sie ihr stilles, zurückgezogenes Leben auf dem Amte fortgesetzt; ihre Gemütswelt konnte sich ruhig festigen und von innen heraus entfalten. Die Vergangenheit durfte in ihr alle Rechte geltend machen, die sie sich in einem helleren Wonnemoment errungen hatte. Aurorens Mutter war die einzige, der ein Blick in diese Welt vergönnt zu sein schien; sie sah nicht tief genug in sie hinein, um sich ihrer freuen zu können. Der Tochter stilles, sinnendes Wesen war für sie, die Leidensreiche, ein neuer Anlaß zum Kummer. Die Amtmännin gehörte zu jenen guten Frauen, die mit den Banden der Gewohnheit an der Erdensorge für ewig festgehalten, mit einem Auge stets in den Essigtopf ihres Haushalts blicken, wenn sie das andere über den qualmenden Herd ihres Hauses zu lichteren Sphären erheben. Der Amtmann war durch die Gegenwart des Herrn von Eilersrode mehr denn je von dem Umgang mit seiner Tochter abgezogen und störte ihre stillen Freuden nicht, aus denen sie jedoch plötzlich aufgeschreckt werden sollte.

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