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Der Amtswächter. – Dorfplagen. – Thomas verliert sein Schurzfell und rennt in sein Unglück.

Seit dem nächtlichen Einbruch in den Gänsestall des Amtmanns war das Unternehmen eines zweiten Raubes mit größeren Schwierigkeiten verbunden als zuvor. Der Amtmann hatte einen eigenen Wächter angestellt, der die ganze Nacht viertelstündlich die Runde auf dem ganzen Hofe machen mußte. Dieser Wächter war vom Kopf bis zu den Zehen wohlbewaffnet; er trug eine geladene Flinte auf dem Rücken, zwei geladene Pistolen im Gürtel, einen krummen Säbel an der Seite und einen langen Speer in der Rechten. Der Amtmann selbst hatte ihm diese Montur auserlesen. Die Nachtwächter in den Städten – sagte der Dorfrichter – wären eine arge Satire auf die Sicherheit des Eigentums und die Ruhe der Müden. So ein Wächter, der die ganze Nacht umherschreie und tobe, sei wohl geeignet, die Diebe zu verjagen, aber nicht, sie zu fangen, was doch die Hauptsache; nichts sei leichter, als in den Städten, trotz der Wächter, nächtliche Einbrüche auszuführen, denn der Dieb brauche sich nur so lange ruhig und versteckt zu halten, als er den Wächter in seiner Nähe höre, und sein Werk zu beginnen, sobald jener an einer andern Stelle rufe und lärme. Die Aufgabe sei, den Dieben keinen Augenblick Ruhe und Sicherheit zu gewähren, ihnen gewissermaßen die Faust des Wächters beständig im Nacken zu halten; dies sei aber nur dann möglich, wenn man das ganze Institut der städtischen Nachtwache einer Reform unterwerfe und sie nach seinem Systeme reorganisiere. Der Amtmann nahm sich vor, diese wichtige Frage zugunsten des ganzen Landes öffentlich zu beleuchten und stellte einstweilen in der Person des neuen Amtswächters ein Musterbild auf, das seiner Idee entsprach. Besonderes Gewicht legte der Dorfrichter auf das tiefste Schweigen, das, seiner Ansicht nach, eine Haupteigenschaft jeder guten Wache sein müsse. »Denn« – sagte er – »es darf der Wächter kein Störer der Schlafenden sein und muß, wie ein stummes Gespenst, den Dieben ewig auf den Fersen sitzen.«

Jeden Abend, wenn es zu dunkeln anfing, mußte der Amtswächter vor seinem Herrn erscheinen und sich mustern lassen; der Amtmann schärfte ihm dann seine Befehle ein, entwickelte ihm die Theorie seines Sicherheitssystems, zählte ihm alle Untugenden der Stadtwächter auf und pries ihm alle Tugenden an, die ein Wächter nach seiner Idee haben müsse. Der Amtswächter wurde des Amtmanns Steckenpferd; er formte so lange an ihm herum, bis er aus ihm einen wahren Popanz gemacht hatte. Außer den Waffen, welche dieser frère terrible Schrecklicher Bruder. trug, erhielt er auch eine Uniform, die ihm sein Herr aus einem alten grauen Mantel hatte machen lassen; sie glich im Schnitt der Stalluniform eines Husaren. Zur Kopfbedeckung wurde ein alter, lederner Feuereimer ausersehen und eingerichtet, der die ohnehin bedeutende Länge des Mannes noch um ein gut Stück ausdehnte.

Im ganzen Dorfe wurde von dem neuen Posten gesprochen, der auf dem Amte besetzt worden war; der erste Eindruck, den die Nachricht von dem furchtbaren Wächter in der Gemeinde hervorbrachte, entsprach ganz den Wünschen des Amtmanns. Der Schulmeister erzählte ihm, die Leute hätten gewaltigen Respekt vor seiner Leibnachtwache und meinten, es würde nun gewiß kein Dieb wieder wagen, je einen Fuß auf den Hof zu setzen. Diese Ansicht bestätigte sich indes keineswegs, denn in einer stürmischen Dezembernacht wurden aus des Amtmanns Backofen drei große Brote gestohlen, ohne daß der Wächter eine Spur des Täters hätte entdecken können. Er ward dafür bedroht, seines Amts entsetzt zu werden, wenn er sich ein zweites Mal saumselig erweisen werde; sein Ansehn war dahin. Bei der Kunde von dem neuen Raube auf dem Amte lachten die Bauern schadenfroh und stichelten auf den Amtmann mit seiner Theorie eines neuen Nachtwachsystems und seinem grimmigen Wächter. Wer am meisten ins Fäustchen lachte, war der Schuhflicker; er hatte früher eine Zeitlang genachtwächtert und wußte am besten, welche Stunden für den Nachtwächter die Stunden der Schwäche sind. Thomas erinnerte sich aus eigener Erfahrung, wie oft der Schlaf ihn gegen Morgen übermannt hatte, wie oft ihm im Winter die Nächte zu Ewigkeiten geworden und die Augen übergegangen waren. Den neuen Amtswächter kannte er persönlich, er wußte, daß er gern ein Gläschen über den Durst trank, und hatte weislich zur Ausführung seines Brotraubes eine Nacht gewählt, an deren vorhergehendem Abend sein natürlicher Feind den Krug besucht und dort mit einigen Bekannten beim Glase Bier und Branntwein gesessen hatte.

Der Schuhflicker wurde in seinen Diebesplänen immer unternehmender und kühner. Mehrere Umstände sollten ihm dabei zustatten kommen. Unter dem Vieh in Eilersrode brach nämlich eine Art Seuche aus; zuerst litten des Amtmanns Kühe an der Krankheit, die dann fast keinen Bauernhof verschonte, sondern beinahe in jedem Stalle ein oder mehrere Opfer hinraffte. Zu gleicher Zeit gingen sonderbare Gerüchte im Dorf. Man wollte eine Zigeunerhorde, die im Herbst durch Eilersrode gezogen war, im nahen Holze gesehen, ein altes, zahnloses Weib mit krummem Rücken am heiligen Weihnachtstage bemerkt haben, das, wie eine Katze, ganz Eilersrode umschlichen und mit ihrem Stock einen großen Kreis und wunderliche Zeichen hinter sich in den Schnee gezogen haben sollte. Es wurde sogar erzählt, daß man nachts im Dorfe und auf dem Kirchhofe eine weiße Gestalt gesehen hätte, die um die Stunde der Mitternacht ängstlich umgegangen sein sollte. Jedermann erzählte diese Gerüchte, die von Mund zu Munde ausgeschmückt und vermehrt wurden. Das ganze Dorf war von einem panischen Schrecken ergriffen; niemand konnte freilich sagen, wer jene Schreckenszeichen gesehen, aber jeder vermaß sich hoch und teuer, daß sie kein leeres Gespinst der Phantasie, sondern wahr und wahrhaftig gesehen seien. Die Viehseuche ward natürlich mit dem Spuk in Verbindung gebracht; man erinnerte sich, daß der Amtmann gegen das Zigeunergesindel, das von Zeit zu Zeit durch die Gegend kam und in den Dörfern Kessel flickte, Pfannen verzinnte, Töpfe bespann, Scheren und Messer schliff und den Leuten wahrsagte, oft sehr hart verfahren war und ihm das letzte Mal nur einen sehr kurzen Aufenthalt auf dem Eilersroder Gebiet gestattet hatte; offenbar rächten sich die Zigeuner jetzt durch die Dorfplagen, an denen keiner schuld war als der Amtmann, bei dessen Vieh das Unglück auch ausgebrochen. Der Prediger mochte sagen, was er wollte, trotz einer langen Rede, die er an einem Sonntage ausdrücklich gegen den Aberglauben richtete, ließ sich kein Mensch ausreden, was alle Welt glaubte. Die Eilersroder machten keine Ausnahme von der allgemeinen Regel; der große Haufe umgibt das Ungewohnte um sich lieber mit einem Schleier von unerklärbaren Wundern, statt sich zu bemühen, es durch dieselben Ursachen zu enträtseln, die er bei Erklärung der täglichen Erscheinungen zu suchen pflegt. Der Mensch lebt sich gar gern in eine unredliche Selbsttäuschung hinein; von seinen Träumen, Ahnungen und Visionen, die in der Wirklichkeit mit keiner lebendigen Erscheinung zusammenfallen, hütet er sich zu reden; trifft aber unter tausend Malen nur ein einziger Umstand mit ihnen in einem leeren Nichts, der Zeit, zusammen, dann tut er, als sei ihm ein Teil von jener Offenbarung überkommen, ohne welche die wenigsten Menschen an den großen Weltgeist und sein wunderbares Walten glauben zu können meinen. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Offenbarungen beantworten sich wenige, und sie ist es doch, die in der ganzen Erscheinungswelt überall ihre vollkommenste Lösung erhält, sie, die uns vorzüglich auf ein höchstes Wesen voll Güte und Schönheit hinweiset. Tausendmal läuft dem Gevatter Hinz eine schwarze Katze über den Weg, ohne daß er in derselben Stunde sein träges, schläfriges Ich aus dem gewohnten Geleise gerückt fühlt; aber wenn der Zufall nur ein einzig Mal um jene Stunde ein Feuer im Dorfe ausbrechen oder Hinzens Nachbar vom Schlage rühren läßt, läuft er zu allen Basen und Vettern und erzählt allen, die es hören mögen, die Geschichte von der großen, schwarzen, glutäugigen Katze. An der großen Welt der Wunder geht er gleichgültig und in dem Gedanken vorüber, daß alles, was er sieht und hört, natürlich sei, so, wie er es sieht und hört, und baut sich eine erbärmliche wunderliche Welt, in der sein verächtlicher Hang zum Verkehrten und Verschrobenen den Verstand verhöhnt, der in dem Walten des Weltgeists überall nur dieselbe ewige Regel der Zweckmäßigkeit in unendlicher Gestalt erblickt. Es ist ihm so bequem und strengt sein kleines Gehirn nicht an; sein Schattengott ist ihm so am liebsten, denn er hat Furcht vor einem Gotte der Klarheit und des Lichts.

Der Amtmann und der Pastor ärgerten sich beide über die ausgesprengten Gerüchte von Zauberei und Spuk und suchten sie, soviel in ihren Kräften stand, aber vergebens, zu ersticken. Die Weiber hätten sich lieber die Zungen abschneiden lassen, als das Geständnis abzulegen, nie in ihrem Leben ein Gespenst gesehen, geschweige denn es näher auf seinen Scheingehalt geprüft zu haben. Die Männer schüttelten bedenklich die Köpfe und stützten sich zur Beweisführung für die Wahrheit der Wunder auf das alltägliche Argument, mit welchem selbst die aufgeklärtesten Abergläubischen den Verstand aus dem Wege zu räumen suchen: »Es gibt doch Dinge, die der Mensch nicht begreift!« sagten sie, die sich nie Rechenschaft von ihren Begriffen zu geben versucht hatten.

Sobald es dunkel wurde, hockten die Kinder ihren Müttern auf dem Schoß und horchten bang auf die Erzählungen der Alten; kein Knecht, keine Magd wagte sich ohne Begleitung im Dunkeln auf die Diele oder gar auf die Straße. Jeder fürchtete sich, der alten Zigeunerin oder dem weißen Gespenst zu begegnen. Nur Thomas glaubte von all den Spukgeschichten keine Silbe, sondern freute sich im stillen über den Wahn der Gemeinde und hütete sich wohl, gegen denselben aufzutreten. Als früherer Nachtwächter war er an die Schauer des Dunkels und der Einsamkeit gewöhnt; im Umgang mit dem Pastor hatte er jede Furcht vor übernatürlichen Erscheinungen verloren. Oft sprach er mit dem Pastor von der Torheit der Dorfleute, ließ sich von ihm die Entstehung und den Grund jedes Aberglaubens in der menschlichen Seele erklären und bannte selbst jede Furcht vor sogenannten Erscheinungen. Thomas gehörte zu der andern Klasse von Menschen, die alles, was sie nicht mit den Händen betasten können, alles, was ihre groben Sinne nicht berührt, in Abrede stellen, weil das Leben ihrem bösen Gewissen, ihrer unlautern Seele keinen Augenblick Ruhe lassen würde, wenn sie glauben müßten, daß hinter der sinnlichen Mauer ihres kleinen, klügelnden Verstandes noch manches vorgehe, von dem sie keine Ahnung haben. Sie sind nicht besser als jene und haben der Welt manchen süßen Wahn hinweggeklügelt.

Der Schuhflicker fing an, sich unter solchen Umständen in den langen Winternächten hier und da selbst in die Bauernhäuser einzuschleichen, stahl Würste aus den Rauchfängen und was er sonst erwischen konnte und trug seit längerer Zeit Gelüste nach einem guten Schweineschinken, den er sich vom Amte zu holen beschloß. Mit seinem Weibe überlegte er alle Gaunerstreiche, die er während des Winters noch auszuführen gedachte; sein Weib war die Hehlerin einer Reihe von Verbrechen, welche Thomas beging, um – Bälgentreter zu werden. Erst seitdem sein Ehrgeiz durch die Aussicht auf einen solchen Amtsdienst lebendig angeregt worden war, hatte der Schuhflicker sich zu Handlungen hinreißen lassen, die er früher vor seinem eigenen Richter nicht verteidigt haben würde. Der Wunsch, dem Superintendenten eine Freude zu machen und sich dadurch die Gunst desselben zu sichern, hatte ihn den ersten Diebstahl ausführen lassen. Das Gelingen seines Wagstücks machte ihn verwegen, die bösen Einflüsterungen und selbst die Zärtlichkeiten seines Weibes stachelten ihn zu neuen Verbrechen an. Mit dem Vorsatze, nur so lange, als er seines Bälgentreterdienstes noch nicht ganz gewiß, durch die Aneignung fremden Guts seinen Plänen zu dienen, von jedem Diebesgedanken aber abstehen zu wollen, sobald er in Amt und Würden stehe, entwarf Thomas den Plan zu einem Hauptfang. Auf dem Amthofe waren vor kurzem ein halb Dutzend fetter Schweine geschlachtet; ein Teil des Fleisches lag, in großen, hölzernen Bottichen eingepökelt, in einem Nebengebäude des Amthauses, in welchem große Wäsche gehalten und geschlachtet wie Bier gebraut zu werden pflegte. Thomas kannte das Haus von innen wie von außen; durch den Eingang vom Hofe aus konnte er nicht daran denken, seinen Zweck zu erreichen, denn er mußte fürchten, daß die Hunde diesmal wacher sein würden, als sie es bei seinem Gänseraub gewesen, auch war die Tür wahrscheinlich verschlossen und hätte Gewaltmittel nötig gemacht, deren Lärm den Wächter, selbst wenn er fest schlafen mochte, worauf Thomas allerdings rechnete, hätte erwecken müssen. Es führte aber ein kleines Fenster des erwähnten Gebäudes nach dem Amtgarten hinaus, das der Schuster als den Weg ausersehen, auf welchem er zum Endpunkt seiner lüsternen Diebesgedanken gelangen wollte. Da eine Leiter nötig war, um jenes Fenster zu erreichen, und der Schuster eine solche nicht besaß, so machte er sich an dem Tage vor der Ausführung seines neuen Diebstahls auf dem Boden der Pfarrwohnung etwas zu tun und stellte eine Gartenleiter, die im Sommer und Herbst zum Obstabnehmen benutzt zu werden pflegte, an einen versteckten Ort hinter dem Hause, von wo er sie abends spät abholte.

Nicht eher ging Thomas ans Werk, als bis es zwei Uhr morgens war. Diese Stunde hielt er für die tauglichste, weil er um sie die Wachsamkeit der Tiere und des Amtswächters für erschöpft ansah und mehr als eine volle Stunde Frist hatte, sein Vorhaben vor dem Aufstehn der Knechte auszuführen. Mit einem leeren Sack und der Leiter machte er sich auf den Weg. Die Nacht war kalt und rauh, der Schnee knisterte unter den Füßen des Gauners und machte die größte Vorsicht nötig. Die Gartenmauer war rasch überstiegen, und nicht lange, so stand die Leiter auch schon an der Wand des Nebengebäudes. Sie reichte gerade bis an das Fenster; der Schuster klomm langsam und vorsichtig hinauf und spitzte das Ohr, um sich von der Höhe herab von der tiefsten Ruhe ringsumher zu überzeugen. Dann nahm er seinen Sack, breitete ihn über die Fensterscheiben und drückte eine derselben behutsam mit der gegengestämmten Hand ein. Das gedämpfte Klirren der fallenden Scherben war zu leise, als daß es die Ruhe der Schläfer hätte stören können; zwar ließ sich auf dem Hofe das Knurren eines Hundes vernehmen, und Thomas war schon im Begriff, den Rückzug anzutreten, aber das Tier verstummte wieder. Des Schusters Hand öffnete, durch die zerbrochene Scheibe fassend, den Riegel des kleinen Fensters, das gefügig aufsprang und – im nächsten Augenblick war der Dieb von der Leiter verschwunden und stand, klopfenden Herzens und mit angstgekürztem Atem im Innern des Gebäudes; er steckte den Kopf noch einmal durch das offene Fenster, spähte und horchte umher und ging dann tastend zur Treppe, die er leise hinunterstieg. Als er mit dem Fuß an den großen Bottich stieß, in welchem die Leckerbissen, auf die er es gemünzt hatte, verborgen waren, und sich anschickte, den schweren Bretterdeckel abzuheben, war es ihm, als höre er Fußtritte im Garten. Schnell flog er die Treppe wieder hinan; ehe er aber den Kopf zum Fenster hinausgesteckt hatte, um zu lauschen, blitzte es hell durch das Dunkel der Nacht und an der Stelle, an welcher die verhängnisvolle Leiter im Garten stand, fiel ein starker Schuß. Als wären die Kanonen eines ganzen feindlichen Heeres mit einem Mal gelöst, so fuhr der Schuster bei dem Knall der Wächterflinte zusammen. Mit schlotternden Knien zog er sich vom Fenster zurück, durch das er nicht wieder steigen durfte, ohne seinem Verfolger in die Arme zu laufen. Zeit zum Überlegen hatte er nicht; der nächste Augenblick entschied über sein ganzes Wohl oder Weh; wie eine Ratte, hinter der die verhängnisvolle Falle niedergeschnellt ist, sich an den Wänden ihres Gefängnisses ängstlich den Kopf stößt, so lief der elende Schuhflicker in dem Gebäude auf und ab, einen andern Ausweg suchend als den, der ihm offenstand. Ein furchtbares Getöse auf dem Hofe und im Garten lehrte ihn, daß des Wächters Schuß eine Macht auf die Beine bringe, gegen die er vergebliche Anstrengungen zur Flucht und Befreiung machen würde. Nur ein Mittel blieb ihm noch übrig, das ihm als einen schwachen Hoffnungsstrahl sein erfinderischer, durch die höchste Not geschärfter Geist einflößte; um es auszuführen, mußte er mit der Geschwindigkeit eines Taschendiebes zu Werke gehn. Im Nu war er wieder am Fenster, faßte die draußen stehende Leiter, zog sie mit kräftigen Händen nach sich und eilte mit ihr in den untern Teil des Gebäudes. Hier suchte er nach dem Herd und hatte kaum die Leiter in dem Schornstein aufgerichtet und ihre ersten Sprossen erstiegen, als eine ganze Schar von Knechten und Hunden durch die aufrasselnde Tür drang und im Schein ihrer Laternen unter Toben und Fluchen Haussuchung hielten. Ihnen auf dem Fuß folgte der Amtmann selbst. »Habt ihr ihn?« schrie er mit fürchterlicher Stimme.

»Hierher, hier im Schornstein«, rief einer der Späher, die Leiter entdeckend. Alle stürzten dem Herde zu; der Amtmann riß dem Wächter eine Pistole aus dem Gurt, spannte den Hahn, zielte in den Schornstein und drückte, mit einem derben Fluch, das Geschoß ab. Die Ladung fuhr donnernd in die Höhe, eine bange Erwartung lähmte für einen Augenblick aller Zungen, aller Augen waren auf den schwarzen Rauchfang gerichtet, durch den man im nächsten Augenblick den blutenden Räuber niederfahren zu sehen hoffte. Aber statt des Geschreis eines Verwundeten ließ sich nichts im Schornstein vernehmen als der polternde Fall eines rutschenden Körpers, statt eines Halbtoten fiel ein schwarzer, schwerer Lederlappen von den Leitersprossen herab. »Ein Schurzfell«, murmelten die Knechte, und der Amtmann konnte sich eines lauten Gelächters nicht enthalten, als einer von seinen Leuten den wunderlichen Fang im Schein der Laterne genauer prüfte.

»Das ist des Thomas Kunze Schurzfell«, schrien mehrere Stimmen zugleich; »Thomas, der Schuhflicker, ist der Mauser!«

Die ganze Gesellschaft stob auseinander, um auf den Schuhflicker zu fahnden. Dieser war indes bereits geborgen; er hatte, wie eine Katze auf allen vieren kriechend, das Ende des Dachs erreicht und sich durch einen kühnen Sprung in den Schnee gerettet. Da niemand im Garten war, als er den Boden erreichte, durchflog er ihn in wenig Augenblicken, sprang wie ein gehetztes Wild über die Mauer und war in der nächsten Minute in seiner Wohnung und bei seinem Weibe angelangt. Totenbleich, mit emporgesträubten Haaren, ohne Sack, ohne Leiter, ohne Schurzfell trat er der erschrockenen Frau entgegen, die ein schreckliches Geheul anstimmte, als sie den Ausgang des mißlungenen Unternehmens erfuhr. Der Schuhflicker beschwor sie, sich ruhig zu verhalten, schloß die Tür, warf sich händeringend in Verzweiflung auf seinen dreifüßigen Schemel und horchte auf das Gelärm der Knechte und das Gebell der Hunde auf dem Amthofe, das durch das ganze Dorf ertönte.

»Sie suchen nach mir«, rief der Schuster, vor Angst und Schrecken keuchend, »sie werden kommen und mich holen.«

Die Schusterfrau fühlte in diesem Augenblick Erbarmen mit dem gefahrvollen Zustande ihres Mannes. Sie riet ihm, sich zu Bett zu legen und zu tun, als ob er schliefe, und flößte ihm ein großes Glas Branntwein zur Stärkung ein. Thomas kam dadurch wieder zu sich selbst und überlegte, was zu tun sei.

»Gewiß werden sie mein Schurzfell finden und es für das meinige anerkennen«, sagte er gefaßter zu seiner Frau.

»Dein Schurzfell mögen sie finden« – erwiderte diese –, »damit ist noch nicht bewiesen, daß du es warst, der den Einbruch begangen. Für's erste bist du geborgen, laß sie nur kommen, wir machen ihnen nicht auf und legen uns aufs Leugnen. Das übrige findet sich, wenn's Tag ist.«

Der Gedanke an den nahenden Morgen, an das Licht des Tages, jagte dem Sünder Entsetzen ein. Der Verdacht, welcher auf ihm lastete, war zu groß, als daß er sich hätte einbilden mögen, sich aus der Schlinge ziehen zu können. Was konnte ihm alles Leugnen helfen da, wo so schlagende Beweise wider ihn vorlagen? Er beschloß daher, den Anbruch des Tags in Eilersrode lieber nicht erwarten zu wollen, sondern einen Bekannten in einem entfernten Dorfe aufzusuchen und sich erst nach Einbruch der folgenden Nacht bei seiner Frau wieder einzufinden, um sich nach dem zu erkundigen, was während seiner Abwesenheit vorgefallen sein würde. Leise schlich er sich zu der mit größter Vorsicht geöffneten Tür hinaus und eilte durchs Dorf.

Als es zu tagen begann, war der Flüchtling bereits über alle Berge. Der Befehl des Amtmanns hatte die Knechte abgehalten, noch während der Nacht in des Schusters Wohnung einzudringen; sie mußten, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß es dem Dieb gelungen sei, Reißaus zu nehmen, von allen weiteren Verfolgungen abstehen und durften den Amthof nicht verlassen. Das Schurzfell ließ der Amtmann in die Gerichtsstube bringen und gab Befehl, mit Tagesanbruch sogleich den Dorfschulzen aufs Amt zu bescheiden. Der Schulze begab sich, im Auftrage des Dorfrichters, mit ein paar Dienern in die Wohnung des Schusters, wo sie die Frau desselben beschäftigt fanden, sich und ihren Kindern den Morgentrank zu kochen. Auf die Frage nach ihrem Manne antwortete sie mit dreister Stirn, derselbe sei in aller Frühe aufgebrochen, um einen Bekannten in der Nähe zu besuchen, und rümpfte spöttisch die Nase, als die Männer alle Winkel und Ecken im Hause durchsuchten, um Thomas zu finden.

»Was hat denn mein Mann getan?« fragte die Schusterfrau, als der Schulze ihr ankündigte, daß Thomas mit Steckbriefen und durch Landdragoner verfolgt werden sollte, wenn er sich dem Amtmann in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht stellen würde.

»Es sollte mich wundern, wenn Ihr es nicht wüßtet« – erwiderte der Schulze. »Weil ich aber glaube, daß Ihr es wißt, so bitt ich Euch, Euern Kaffee etwas geschwinder, als Ihr zu tun gewohnt seid, zu Euch zu nehmen. Macht, daß Ihr mit mir aufs Amt kommt.«

Das Schusterweib sträubte sich zwar anfangs, diesen Worten Folge zu leisten, mußte sich aber endlich bequemen, die Männer zu begleiten. Als ihr der Amtmann das Schurzfell zeigte und sie fragte, ob sie dasselbe für ihres Mannes Eigentum erkenne, gab sie zur Antwort: sie kenne wohl ihren Mann mit dem Schurzfell, aber nicht sein Schurzfell ohne ihren Mann. Dieser werde gewiß im Lauf des Tags zurückkommen und dann dem Herrn Amtmann selber zu sagen wissen, ob das gefangene Schurzfell ihm gehöre und wie es zugegangen sei, daß er es verloren. Der Richter entließ des Schuhflickers Weib mit der Drohung, die der Schulze vor ihr bereits ausgesprochen, und dem Zusatz, daß er sie selbst einsperren lassen würde, wenn ihr Mann sich nicht im Lauf des Tags einstellen sollte.

Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von dem mißlungenen nächtlichen Einbruch auf dem Amte und von der Flucht des Schuhflickers durch das ganze Dorf von Haus zu Haus. Die Bauern kamen in großer Zahl im Kruge zusammen und ließen sich von dem Amtswächter den ganzen Hergang der Sache erzählen. Niemand zweifelte daran, daß Thomas schuldig sei; aber einige, die ihm wohlwollten, überlegten, ob sie nichts zu seiner Rettung beitragen könnten und begaben sich zum Pfarrer, der mit Entsetzen die Kunde von dem Verbrechen seines Schützlings aufnahm. Da er erfuhr, daß der Dieb sich seiner Gartenleiter, die man auf dem Amte für des Pastors Eigentum erkannt, zur Ausübung seines Frevels bedient hatte, schickte er sogleich einen Boten ab, um sein Eigentum zurückzufordern, erhielt aber zur Antwort, die Leiter müsse bis nach beendeter Untersuchung und dem Eingeständnisse des Diebes auf dem Amte bleiben.

»Schändlich, niederträchtig!« – rief der Pfarrer einmal über das andere und schlug die Hände zusammen. – »Nein, der Ausübung solcher Schandtaten hielt ich diesen Menschen nicht fähig; mich also zu hintergehen!« – »Ich kann zu seiner Rettung nichts tun« – fuhr der erzürnte Priester, zu den Bauern gewendet, fort –, »er ist dem Gesetz anheimgefallen und wird seine Schuld büßen müssen.«

»Das hast du nun von deinem guten Herzen« – sagte die Pastorin, nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken ein wenig erholt hatte. »Das ist wieder einer von den vielen, die dir mit dem schmählichsten Undank lohnen, was du für sie tust. Ich hätte selber darauf schwören mögen, daß dieser Thomas eine ehrliche, gute Haut sei. Du siehst, wie man sich irren kann. Nun wird der Amtmann triumphieren, denn du hast dich stark kompromittiert, mein Kind, indem du einen Lump und schlechten Menschen als Bälgentreter anzunehmen dich weigertest, um einen andern Lump für ihn in Vorschlag zu bringen.«

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