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Ein Seelenfrühling. – Die Musen in Eilersrode.

So gab es denn doch zwei Herzen in Eilersrode, die von dem fast allgemein zur Regel gewordenen Haß und der Feindschaft der Gemüter eine schöne Ausnahme machten; zwei junge, liebeglühende Herzen, die sich ungeteilt dem allmächtigen Zauber eines Gefühls hingaben, dem Erd und Himmel das sind, was der Gott der Liebe aus ihnen gemacht hat – ein großes, ewiges Paradies voll Wonne und bunter Herrlichkeit. Alles vereinigte sich, um den ersten Seelenrausch beider Liebenden zu vollenden; Schönheit und Jugend reichten sich in ihnen die Hand, ein Meisterwerk von einem Menschenpaar bildend.

Aurora hatte siebenzehn Rosensommer geatmet, um selbst zu einer zarten, üppigen Rose aufzusprossen; ihre Wangen waren wie der Morgenhimmel, dessen Duft die rötliche Glut der kommenden Sonne durchfärbt; ihre Lippen glühten wie eitel Purpur. Wenn sie lächelte – und ihr Mund lächelte stets, wenn sie an Wilhelm dachte, wann aber hätte sie des Geliebten nicht gedacht! – wenn sie lächelte, war's wie wenn der Lenz über die Welt zieht. Unter ihrer langen, schwarzen Wimper vermählten sich der Schmelz des Demants und der Azur des Südhimmels; ihre Stimme traf die Seelen wie sanfte Akkorde von tönenden Saiten; ihr Gang war leicht und lieblich; als werde die Erde unter ihrer Ferse elastisch, hüpfte ihr Fuß über den Boden hinweg.

Und er, mit dem Trotz der einundzwanzig Jahre, mit dem sprudelnden Wort des ersten Mannsbewußtseins, mit der strotzenden Kraft und Kühnheit ungeschwächter Jugend, mit dem Frohsinn einer freien, lebensdurstigen Seele in den dunkelbraunen Augen – Wilhelm gehörte diesem lieblichen Kinde, weil die Natur ihn für Aurora geschaffen, weil sein Blick ihre Blicke trank, wie die glühende Sonne den Tau von frischer Wiese trinkt; sie gehörte ihm, weil der lachende Himmel sich über beide wölbte, weil die blühende Erde tausend Blumenketten um ihre Herzen flocht, weil sein und ihr Gott ein ewiger Gott, der Gott der Liebe war; sie gehörten sich, weil sie nicht ohne einander atmen und leben konnten. Ihre Seelen waren verschwistert, ihre Lippen hatten sich das flammende Liebesmal aufgedrückt, ihre Herzen hatten pochend aneinander geschlagen, ihre Arme sich sanft umschlungen, ihre Blicke sich Liebe gelobt, ihre Zunge den Schwur ewiger Treue getan. Sie gehörten sich, denn der Menschen Haß kettete sie aneinander, des Lebens Eis trieb sie auf das Eiland der Liebe; sie gehörten sich, denn in beider Seelen war ein Frühling aufgegangen, ein Mai voll Duft und Blüten, voll Quellenrieseln und Glutströmen, ein Lenz voll Wonne und Seligkeit.

Was kümmerte diesen Seelenfrühling das frostige Treiben der Menschen, das eintönige kalte Geräusch von den Blättern des Herbstes, den Bosheit, Tücke und Feindschaft des Lebens um sie bereitet hatten; was ging die Liebenden der Haß der Väter an, die Ränke der Menschen? In ihren Seelen frühlingte eine andere Welt mit Jubeltönen, eine Welt voll paradiesischer Träume, voll göttlicher Wärme.

Die Laube, in welcher Aurora und Wilhelm die süße Lust des Wiedersehens genossen, war bei ihrem ersten Zusammentreffen zu einem zweiten Stelldichein für den Abend ausersehen. Aus Furcht vor Entdeckung hatten sich die Liebenden schneller getrennt, als ihren Herzen nötig schien. Des Vaters Unmut und Härte stand Auroren zu schreckhaft vor der Seele, als daß sie lange an der Seite ihres Geliebten hätte weilen können.

»Geh, Lieber, geh« – flüsterte sie flehend.

»Für wenige, aber lange Stunden« – erwiderte Wilhelm –, »ich kehre heute abend an diese Stelle wieder zurück und warte, bis mein Stern aufgeht.«

Was sich beide versprachen, war minder leicht ausgeführt als gesagt. Vater und Mutter hatten so viel zu fragen, wollten den Sohn nicht von sich lassen; die jüngeren Geschwister blieben so lange wach, wurden nicht müde, dem großen Bruder auf die Knie zu klettern.

»Sein ernstes, gesetztes Wesen« – sagte der Pastor zu seiner Frau – »gefällt mir besonders wohl; er wird einmal ein einnehmender Redner auf der Kanzel werden.«

»Du warst ein schöner Mann« – sprach die Pastorin lächelnd –, »als wir uns kennenlernten; aber unser Ältester ist doch viel schöner als du warst.« – »Das ist das wenigste, Frau« – erwiderte der Prediger –, »wenn nur ein tüchtiger Priester des heiligen Worts aus ihm wird!«

»Hat er uns doch bis jetzt nur Freude bereitet« – sagte Wilhelms Mutter, die auf ihren Sohn nicht eitler sein konnte als der Amtmann auf seine Tochter, und jeden, auch den leisesten Zweifel an der Vollkommenheit ihres Kindes übel aufnahm.

Als des Pfarrers Sohn sich endlich losgemacht und auf einem Umwege die Mauer des Amtgartens und das Pförtchen erreicht hatte, war es dunkel genug geworden, um ungesehn eintreten und der Laube zuwandern zu dürfen. Der Abend war mild und ruhig; kein Lüftchen regte sich; die Windmühle des Dorfs und der Wetterhahn des Kirchturms standen still; die Nachtigallen übten wetteifernd im Gebüsch ihre liederquellende Kehle, die Heimchen füllten die kurzen, schmachtenden Pausen ihrer Melodien mit gellendem Gezirpe; die Fledermäuse flatterten leise durch die Dämmerung auf Raub umher. Flieder und Linde füllten die Abendluft mit duftiger Würze. Die Fenster des Amthauses waren erhellt und standen offen; deutlich konnte Wilhelm einzelne Personen im Zimmer auf- und abgehen sehen. Aurora aber erschien nicht. Tausend quälende Gedanken bestürmten das Herz des Harrenden, der Boden brannte unter seinen Füßen, und sein Auge durchstierte weitgeöffnet die dunkeln Laubgänge, den Schimmer eines weißen Gewandes zu erblicken. Aber Aurora kam nicht.

Als der Mond über die dunkeln Dächer trat und sein flüssig Licht hell durch die Lindenblätter der Laube sickerte, löste sich des Einsamen Zweifel: An der Stelle, an welcher er Aurora am Morgen einen kurzen, seligen Augenblick gesehen, lag ein weißes, versiegeltes Blättchen. Der Jüngling nahm es rasch auf und entzifferte im Mondschein mit vieler Mühe die Worte: »Geliebter – von Spähern umgeben – nicht kommen«. Wilhelm faßte sogleich den Sinn des Briefchens, mit dem er, wie mit einem süßen Raube, sacht davonging, nach Hause zurückkehrte und in seinem Zimmer bei einsam trauter Lampe die Schriftzüge seiner Geliebten mit Küssen bedeckte. Sie bat ihn um Vergebung, beklagte die Unmöglichkeit, ihm ihr Versprechen zu halten und vertröstete sich und ihn auf den nächsten Wonnetag. Der verflossene war reich genug, um über ihn in selige Träume zu versinken. Nie schlössen sich die Augen zweier Liebenden von lieblicheren Traumbildern umspielt als die, von denen Auroras und Wilhelms Geister an diesem Abend umgaukelt waren. Halb wachend, halb träumend lebten sie in Gedanken sich dem jungen Tage entgegen, und die erste Morgenröte fand das Lächeln des ersten Kusses noch beider Lippen im Schlummer umschweben.

Die Ankunft Wilhelms in Eilersrode erregte zu viel Aufsehn, als daß nicht jeder seiner Schritte die Aufmerksamkeit der Gaffer rege gemacht hätte. Die allgemeine Kenntnis, welche über die Spannung zwischen dem Amtmann und dem Pastor verbreitet war, ließ eine noch größere Neugierde der Dorfbewohner auf das Benehmen des jungen Mannes voraussetzen. Leicht konnten seine Gänge in den Amtgarten auffallen, da ihn niemand geraden Wegs aufs Amt gehen sah. Das gang und gäbe Spioniersystem in der ganzen Gemeinde machte die größte Vorsicht nötig. Die spähenden Blicke, von denen auch Aurora umgeben war, mußten ebenfalls gemieden werden.

Der Himmel schickte den Liebenden einen Verbündeten, einen Freund in der Not, der auf das Schicksal beider einen großen Einfluß ausüben sollte, einen ehrwürdigen Priester der Kunst, dessen Bekanntschaft der Leser noch nicht machen konnte, weil das Treiben und Toben der Parteien des Greises Schwelle noch nicht berührt hatte. Der Küster von Eilersrode sollte ihnen zum Schutzgeist dienen.

Aurora hatte ihren Musikunterricht bei dem Küster der Eilersroder Kirche fortgesetzt; sie besuchte den Greis in seiner friedlichen Klause neben der Kirche oft und liebte und schätzte ihn hoch, wie alle die wenigen, welche ihn im Leben näher kennenlernten, ihn hochschätzten und liebten. Der Küster war Künstler und Tondichter; weit und breit galt er für den besten Orgelspieler, und seine Kompositionen zeugten von einer, um die Zeit unserer Geschichte, ungewöhnlich tiefen Wissenschaft der Musik. Er war in der Technik des Orgelbaues wohlbewandert und hielt das alte, gute Werk der Eilersroder Kirche seit beinahe fünfzig Jahren im schönsten Stand. Sein Leben war das Leben eines weisen Mannes: fromm, rein, reich. Seine Seele schwamm und lebte nicht in der Welt, welche sich die Menschen aus dem gemeinen Stoff der Leidenschaften und der sinnlichen Genüsse um ihn herum aufgebaut hatten; sie hatte auf ihrem Grunde nichts von dem Sauerteige des trägen, alltäglichen Daseins, sondern einen klar rieselnden Born wunderbarer Klänge; was in ihr gärte und wogte, das gab keine harten Niederschläge, keine kalte Kruste, das belebte, das erhob, das lud zur sabbatfeierlichen Freude einer göttlichen Schöpfung ein. Die Welt der Töne, diese zauberreiche, unendlich bewegte, liebliche Welt war die seine; in ihr allein war er heimisch, nur durch sie lebte er auch in der Menschenwelt. Längst hatte er mit dieser abgeschlossen, seit mehr denn fünfzig Jahren lebte er in jener ein beneidenswertes, schönes Leben voll seltener Reinheit und bescheidener Größe.

Der Küster war in Eilersrode geboren, hatte sich bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre in der Welt umgesehen und war dann, als seines Vaters Tod ihn in die Heimat zurückrief, in dessen Amt getreten. Eine einzige Erinnerung, unter allen, die er aus der Fremde mit heimgebracht, schien ihn für den Verlust seiner Freiheit zu entschädigen: die Erinnerung an Sebastian Bach, an den großen, schönen Stern des deutschen Tonhimmels. Er hatte ihn gesehen, gehört, von ihm gelernt, dem vielverkannten Apostel deutschen Ruhms, der der Welt bewies, welcher Reichtum an Tongewalt vor allem in Deutschland schlummerte, welches innige Verständnis zwischen dem deutschen Gemüt und der unendlichen Welt der Klänge, welche Wahlverwandtschaft zwischen dem deutschen Ohr und den wunderbaren Tiefen des Reichs der Töne herrschte. Seit mehr denn fünfzig Jahren hielt ihn diese Erinnerung wach und warm; er nährte sie durch den Umgang mit den Schöpfungen des deutschen Meisters, dessen Fugen er als das Höchste, was die Kunst hervorzubringen imstande sei, fast täglich übte und spielte. Einsam, wie er nach dem Tode seiner Eltern in der Welt gestanden, stand er auch noch als siebzigjähriger Greis allein. Er schien noch immer keiner andern Stütze zu bedürfen als der, an welche er von Jugend auf sich gelehnt. Ehrwürdig hing das lange, weiche Silberhaar von dem Scheitel des alten Mannes in den ungebeugten Nacken herab. In seinem Gesichte suchte man vergeblich nach der Spur gewöhnlicher Leiden; unter den Falten seiner hohen Stirn, unter den bleichen, glänzenden Wimpern grüßte ein Paar milder, freundlicher Augen hervor, in deren Licht man gern schaute und sich von ihm erwärmt fühlte. Seine Umgebung wußte nicht, welchen Schatz sie in ihrer Mitte berge. Die Eilersroder Bauern freuten sich zwar wohl über das schöne Orgelspiel und rühmten den Küster als einen ehrlichen, guten Mann, nannten ihn aber einen Sonderling und Einsiedler, der die Welt verachte und meine, andere ehrliche Leute wären zu schlecht für ihn. Und doch ging kein Kind an ihm vorüber, ohne daß er ihm freundlich zunickte, doch reichte er dem Unglücklichen stets gern die Hand und half dem Armen, wo er konnte; aber wenn sie ihm ihre eingebildeten Leiden lang und breit erzählen, wenn sie ihm das Vertrauen ihrer schmutzigen Seelen schenken, die jämmerlichen Geheimnisse von Hinz und Kunz aufbürden wollten, dann sah er sie groß an und drehte den Sprechern den Rücken, ohne auf ihr Geschwätz hören zu wollen. Er war daher der Allbekannte in der Gemeinde und doch ein Fremdling in ihr; weil er nicht mit an ihrem Tagelöhnerkarren zog, weil er sich nicht um ihren Backtrog und um die Dunghaufen vor ihren Türen bekümmerte, nannten sie ihn einen Menschenfeind, und da sie auf sein frommes, reines Leben auch nicht den leisesten Schatten fallen sahen, blieb er in ihren Augen ein Sonderling, »ein wunderlicher Kauz«, wie der Amtmann, »ein einseitiges Talent«, wie der Pastor sagte. Das ist das Schicksal jeder Tugend, aller Größe, daß das Urteil der Welt ihnen leicht einen Spottnamen anhängt, wenn sie nicht um ihre Gunst buhlen, noch sich in äußern Flitter und auf Stelzen zur Schau stellen.

Der Küster war Hagestolz geblieben; ob aus einer angebornen Scheu vor dem schönen Geschlecht, ob wegen unerfüllt gebliebener Hoffnungen aus einer jüngeren Zeit – darüber wußte niemand Rechenschaft zu geben, denn niemand konnte sich rühmen, mit ihm auf vertrautem Fuß zu stehen. Er war pflichtstreng in seinem Amte, nie bedurfte es eines Tadels, einer Ermahnung in seinen Dienstsachen; er war freundlich, bescheiden mit seinen Vorgesetzten, nie hatten sie sich über ihn zu beklagen, aber darüber hinaus pflog er keine Gemeinschaft, weder mit den einen noch mit den anderen; wo das Gebiet der Menschen aufhörte, da fing seine Welt an. Ländlich, sittlich lebte er in Ruhe und Frieden seine Tage dahin; er zählte die Sommer und Winter nicht mehr, die das freundliche Fenster seiner Klause bald mit dem Grün eines kräftigen Rebstocks, bald mit der kristallenen Blume des Frosts bedeckten. Tag für Tag ging er ins Freie, bei Sturm und Sonnenschein sah man ihn seine täglichen Wanderungen in Berg und Tal, Wald und Feld gehen. Am Busen der Natur, im Umgange mit ihrem allesdurchatmenden Geist der Liebe lauschte er auf ihre zahllosen Wunder; aus ihr schöpfte er Kraft und Hochgenuß, in ihren Tönen und Farben lernte er die mächtigen Grundgedanken seiner eignen Kunst entdecken, in sie hinaus seine ewig schweigende Seele tragen, und an verwandte Laute das innere Ohr seines jungen Geistes legen.

Seit einiger Zeit wollten die Leute in Eilersrode bemerkt haben, daß der Küster seine gewöhnlichen Spaziergänge eingestellt hätte, auch nicht mehr so oft als früher außer den Sonntagen in der Kirche Orgel spielte. Nur aufs Amt sah man ihn wöchentlich regelmäßig zweimal gehen, um Aurora Unterricht in der Praxis und Theorie der Musik zu geben und ihr Klavier zu stimmen. An seinem Orgelspiel selbst wollte man bemerken, daß es stumpfer werde, denn die tiefen Töne des Pedals erschütterten weniger als sonst die hohe Wölbung der Kirche.

Was aber die Zungen besonders über den Küster in Bewegung setzte, war das Erscheinen eines Notars in seinem Hause, wo vor einigen Zeugen sein letzter Wille um diese Zeit niedergeschrieben worden war.

Des Pfarrers Sohn machte dem Küster am Tage nach seiner Ankunft in Eilersrode sogleich einen Besuch. Der Greis erkannte den Jüngling und schloß ihn gerührt in seine Arme.

»Du bist ein stattlicher Mann geworden«, sagte er und blickte Wilhelm mit aller Milde und Freundlichkeit seines Auges vom Kopf bis zu Fuß an. »Ganz, wie ich mir dich gedacht. Kommst du, uns in Eilersrode den Text zu lesen?«

»Das hat wohl noch eine gute Weile Zeit, Vater Walter«, sagte Wilhelm.

»Freilich, gut Ding will Weile haben, und du bist noch blutjung. Aber wie steht es mit der heiligen Musika? Du hast doch gehalten, was du mir in die Hand versprochen, deine schöne, glockenhelle Silberstimme tüchtig geübt? Ich merke es an deiner Sprache, du hast's.«

»Ja, wir singen tüchtig und frei, so von der Leber weg, wie's Brauch ist auf der Universität unter den lustigen Burschen. Sie haben mich nicht umsonst die Noten gelehrt; meine Freunde und Feinde nennen mich einen Hauptsänger; wenn ihre Kehlen heiser sind, ist die meine noch klar und hell.«

Der Greis setzte sich ans Klavier, gab einige reine Akkorde an und spielte dann die schöne Melodie eines alten deutschen Lieds. Wilhelm stimmte erst leise und dann immer kräftiger ein und sang die zweite Strophe so hell und voll, daß der Alte selig vor sich hinlächelte und immer fortspielte, auch noch, als das Lied längst zu Ende war. Unter seinen weißen, hagern Händen hauchten die Saiten eine Fülle von sanften und schwermütigen Liedern, daß die Seele des Jünglings mit Begeisterung erfüllt ward. Es war, als läse der greise Freund in seinem innersten Gemüte, als spräche er die geheimsten Gedanken der Brust des Liebenden aus, als tröste er ihn und feierte den Triumph seiner Liebe über die Feindschaft der Menschen, als spielte er die Liebeshymne, die in seinem jungen Busen aufjauchzte.

Während er spielte, trat Aurora ins Zimmer. Die Männer bemerkten sie nicht. Den Alten schien der Anblick des schönen Jünglings, die Stimme und Kraft desselben wie mit neuem Jugendfeuer zu durchrieseln. Kräftig schlug er die Saiten; bald wirbelten rauschend die Töne aus dem geöffneten Instrument, bald schmolz es klagend und wehmütig in sanften Klängen vom schwingenden Metall, bald wieder war's, als lächelte das dröhnende Holz unter seinen Händen, wie der Seelenfrühling der Liebenden.

Wilhelm hatte sich neben dem Küster auf einen Sessel niedergelassen; er stützte mit der Rechten das Haupt und blickte den Greis mit glutbegeistertem Auge an. Aurora stand, in dem Anblick der Gruppe und im Horchen auf den schönen Vortrag versunken, am offenen Fenster, durch das ein kühler, durchwürzter Lufthauch ins tönende Zimmer drang. Als der Alte fortspielte, näherte sie sich ihm; sie trat an seine Seite, ließ sich auf die Knie nieder und schmiegte den Lockenkopf lächelnd an die Stuhllehne.

»Dachte ich's doch« – sagte der Küster und ließ die ermüdeten Hände von den Tasten gleiten –, »dachte ich's doch, daß der Lenz ganz in meiner Klause sei.«

»Lieber Vater Walter!« flüsterte Aurora aufstehend und eine ihrer schönen Hände ihm, die andere dem überraschten Jüngling reichend, der sie feurig mit Küssen bedeckte, während eine Träne aus dem Auge des Küsters auf die warmen, weichen Finger fiel, die er mit seinen dürren Händen umschlossen hielt.

Sprachlos traten sie ans offene Fenster; da rauschte der West durch die Blätter der Efeuwand an der nahen Kirche, durch das glänzende Flittergold in den Mooskränzen und an den schwarzen hölzernen Kreuzen der Bauerngräber, und jenseits der Mauer des Friedhofs sank die Sonne zwischen den schlanken Silberpappeln langsam hinab.

»Die Kunst bleibt ewig jung« – sprach der Alte –, »wohl denen, die mit ihr leben und sterben können.«

Das Wort sterben schien unwillkürlich in dem Munde des Sprechers einen dumpfen Laut angenommen zu haben. »O! es ist schön« – fuhr er fort –, »wunderschön, meine Kinder, so wie sie dort, hinter den Pappeln, am Abendhimmel hinuntersinkt, der andern Hemisphäre zueilen zu dürfen. Und wer der Kunst lebt, der hat einen Himmel, an welchem Seelenauf- und Seelenuntergang ist, ähnlich den Gestirnen.«

»Sie reden vom Tode, Vater Walter« – sagte Aurora wehmütig –, »und wir möchten Sie noch lange, lange behalten.« –

»Ihr kommt zur guten Stunde« – antwortete der Küster, die Klage des Mädchens mit einem heitern Blick beschwichtigend, »ihr wißt wohl recht viel zu erzählen! Erzählt, daß ich euch zuhöre; mir ist, als würde ich wieder jung und rüstig an eurer Seite, als könnte ich mit euch hinaus ins Leben, wie vordem.«

Wilhelm erzählte von dem großen Gluck, den die deutsche Kunst zu Ehren bringe, dessen herrliche Werke in Italien, Frankreich, England und dem deutschen Vaterlande viel Aufsehn und Begeisterung erregten; er sang, so gut er konnte, dem aufhorchenden Ohr des Meisters Arien aus den großen Opern des mächtigen Tondichters vor, von dem Vater Walter in seiner Eilersroder Einsamkeit erst wenig gehört und gelesen hatte.

»Herrlich, herrlich!« rief der Greis voll kunstjugendlichen Feuers. »Ihr werdet es noch erleben, meine Kinder, ihr noch, daß die deutsche Musik ihre Weltbeherrschersendung erfüllen wird. Ich ahne ihren Sieg, ich sterbe in der Überzeugung ihres Siegs.«

Als es zu dämmern begann, trennten sich die Liebenden vom Vater Walter, der sie tagtäglich wiederkommen hieß. Vor der Tür des umhegten Amtgartens nahmen sie auch voneinander Abschied, aber sie wandelten denselben Weg, denn ihre Seelen blieben beieinander.

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