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Ein Realpolitiker » sans phrase«

(Bescheidener Versuch einer »Rettung« im zeitgemäßesten Sinn und Stil.)

Gewissen ist ein Wort für Feige nur,
Zum Einhalt für den Starken erst erdacht:
Uns ist die Wehr Gewissen, Schwert Gesetz.

Shakespeare, König Richard III., V, 3.

1.

Am 9. April 1483 starb im Palast von Westminster König Eduard IV. von England, bevor er 41 Jahre alt geworden. Eine unwissenschaftlich-moralisierende Geschichtsbetrachtung könnte sich leicht versucht fühlen, diesen frühzeitigen Hingang tadelnd der Völlerei und Unzucht des Königs auf Rechnung zu setzen. Die sachliche Historik dagegen begreift die kraftstrotzende Natur dieses York und verzeiht demzufolge ihre Ausschreitungen oder findet sie vielmehr ganz in Ordnung. Der älteste Sohn des rebellischen Herzogs Richard von York mußte ein solcher Vielfraß, Säufer und Wüstling sein, wie er war: er konnte gar nicht anders. Seine Natur wollte es so. Er mußte auch der Treu- und Wortbrüchige, der erbarmungslose Schlächter und der Brudermörder sein, der er gewesen. Seine Stellung verlangte es gebieterisch. Man sollte doch endlich einmal der Kinderei entsagen, zu wähnen, die Satzungen und Forderungen von Recht und Sitte, die ja im Privatleben gut und heilsam sind, müßten auch in der Politik Geltung und Bedeutung haben. Es wäre wahrlich an der Zeit, das lächerlich-philisterhafte Ellenmaß der Moral, womit der alte F. C. Schlosser in der Geschichte herumfuchtelte, in die Plunderkammer zu tun, auf Nimmerwiedersehn. Das ist natürlich Ironie. Der Herausgeber.

Die Greuel, womit die Nebenbuhlerschaft der Häuser Lancaster (»Rote Rose«) und York (»Weiße Rose«) England etliche dreißig Jahre lang erfüllte, waren mit dem Tode Eduards IV. noch nicht zu Ende. Der Überschuß an Kraft, der sich in den englischen Rindfleischessern entwickelte, mußte sich noch fernerweit austoben. Die Moral macht, beiläufig bemerkt, darüber ein groß Geschrei. Sie sagt, die Kriege, die die beiden Rosen gegeneinander führten, hätten das englische Volk mit allem Schändlichen und Scheuseligen geschlagen, was menschliche Verworfenheit und Ruchlosigkeit nur immer auszusinnen vermöchten. Lug und Trug, Meineid und Verrat, teuflische Bosheit und abgefeimteste Gemeinheit, raffinierteste Tücke und wildeste Grausamkeit hätten da ganze Berge von Freveln aufgetürmt. Nun ja, es ging da allerdings nicht ganz säuberlich her. Aber was kümmert das die Wissenschaft? Diese hat nur nachzuweisen und darzutun, daß und wie auch hier das große Entwicklungsgesetz im Spiele war, vorweggenommener Darwinismus sozusagen. Es handelte sich um den bekannten »Kampf ums Dasein«. Nämlich ums Königsdasein. Die Herren Prinzen von der Roten Rose, wie gleichermaßen und gleichzeitig die von der Weißen Rose wollten Könige von England sein. Da kam es darauf an, wer von ihnen gerade die ausgiebigeren Gehirne, die festeren Nerven und die besseren Muskeln hätte. Wer das alles hatte, war momentan der Stärkere und kriegte darum entwicklungsgesetzmäßig den Schwächeren unter – voilà tout.

Der vierte Eduard war also tot, und es sollte ihm sein ältester Sohn als Eduard V. auf dem Throne folgen, »von Rechts wegen«, wie man gewohnheitsmäßig zu sagen pflegt. Wie war es aber mit dem Gehirn, den Nerven und Muskeln des noch nicht ganz dreizehnjährigen Königsknaben bestellt? Sehr schwach. Ganz natürlich also, daß das irdene Töpflein, wenn es mit einem Eisentopf zusammenprallte, kläglich in Scherben ging.

So ein Eisentopf war aber vorhanden! – der Ohm des Knaben, Richard, Duke of Glocester.

Man weiß, wie Shakespeare den Mann dramatisch verunstaltet und tragisch verunglimpft hat. Ja, verunstaltet und verunglimpft. Denn Richard war keineswegs bucklig, geschweige »ein Klumpen ekelhafter Mißgestalt ( a lump of foul deformity)«, sondern er hatte nur einen kleinen »Verdruß« auf der rechten Achsel und eine Verschrumpfung am linken Arm. Ein Adonis allerdings war er gerade nicht. Kaum von Mittelgröße und von hageren, scharfen Gesichtszügen, hatte er sich durch Abhärtungen und Übungen einen eisernen Körper voll Kraft und Gewandtheit erworben, mit einer stählernen Seele darin. Schon als Jüngling nicht nur ein Ritter von glänzender Tapferkeit, sondern auch ein geschickter und glücklicher General, hatte er sich als solcher, wie als scharfsichtiger und schneidiger Politiker, noch bevor er zwanzig Jahre alt geworden, die allergrößten Verdienste um die Weiße Rose erworben. Er hatte es frühzeitig verstanden, sich in Achtung zu setzen. Graubärtige Männer, die in fünfzig Schlachten aufrecht gestanden, senkten die Stirnen, wenn der junge Richard sie anfunkelte mit seinen stahlgrauen Augen und dazu, wie er zu tun pflegte, die Unterlippe biß und den Dolch, den er immer am Gürtel trug, spielend halb aus der Scheide zog und langsam wieder in sie zurückschob.

Shakespeare hat bekanntlich, um eine Bravourrolle für Komödianten zu schaffen, den zum Realpolitiker höchsten Stils geborenen Herzog von Glocester zu einem dämonischen Popanz gemacht, der, vom Teufel der Ehr- und Herrschsucht besessen, wie ein Rasender sich gebärdet, nämlich wie ein rasender Kulissenreißer.

Herzog Richards Platz war auf dem Schlachtfeld oder am Staatsratstisch. Aber auch im Damengemach wußte er sich schicklich und sogar anmutig zu bewegen. Die Weiber verstand er meisterlich zu führen, wenn es ihm gerade in den Kram seiner Realpolitik paßte. Ein sentimental seufzender Schäfer ist er freilich nicht gewesen. Seine Heirat mit der Lady Anna Nevil, der jüngeren Tochter des unermeßlich reichen »Königmachers« Warwick, die dem Sohne König Heinrichs VI., dem auf der Walstatt von Tewksbury erschlagenen Prinzen Eduard von Lancaster vermählt gewesen, ohne daß die Ehe vollzogen worden, – diese Heirat war ein realpolitisches, ganz vorzüglich rentierendes Geschäft. Übrigens war dieser scharfsinnige Rechner nichts weniger als ein Knauser, sondern ein vielmehr prachtentfaltender Herr, der unter Umständen auch ein recht munterer sein konnte. Er liebte Glanz und Prunk, Musikanten und Schnurranten, Falken, Pferde, Hunde und Affen. Namentlich Affen. Ihre Grimassen mochten ihm ungekünstelter, aufrichtiger und darum ergötzlicher vorkommen als die der Menschen.

2.

Beim Tode seines Vaters weilte der Prinz von Wales, der jetzt Eduard V. hieß, fern von London auf dem Schlosse Ludlow an der Waliser Grenze. Bei ihm waren sein Oheim von mütterlicher Seite, der zugleich sein Erzieher, Anton Wydeville, Earl of Rivers, und sein Halbbruder Lord Richard Grey, der zweite Sohn der Königinwitwe Elisabeth aus ihrer ersten Ehe mit Sir John Grey. Der ältere Bruder von Richard Grey, Thomas Marquis von Dorset, war, von seinem Stiefvater König Eduard IV. dazu bestellt, Kommandant im Tower zu London und als solcher Hüter der Hauptstadt und des Kronschatzes.

Die Königinwitwe Elisabeth befand sich mit ihrem jüngeren Sohn von Eduard IV., dem neunjährigen Herzog Richard von York, und mit ihren Töchtern im Palast von Westminster. Sie versuchte unter Beihilfe ihres Bruders Rivers, ihrer Söhne aus erster Ehe und ihres übrigen Familienanhangs die der Hand des toten Königs entsunkenen Zügel des Staates zu fassen und zu halten. Sie ließ Eduard IV. bestatten und Eduard V. ausrufen. Sie gestattete auch, daß ihre Verwandten, namentlich der Kommandant des Towers, verschiedene finanzielle und militärische Veranstaltungen trafen.

Nun war da aber am Hof und im Staat eine Partei oder wenigstens eine Anzahl von Lords, die, obwohl dem Hause York aufrichtig zugetan – soweit es nämlich im damaligen England überhaupt so etwas wie Aufrichtigkeit gab – schon lange mit schlechtverhehlter Abgunst auf das Emporkömmlingsglück der Wydevilles und Greys geblickt hatten und jetzt nichts weniger als gewillt waren, von den Verwandten der Königin sich und das Reich regieren zu lassen. Vorragend unter diesen Gegnern waren die Lords Hastings (Oberkämmerer), Howard (Bannerherr) und Stanley (Oberhofmeister), sowie Harry Stafford, Herzog von Buckingham, dem Besitz und Herkunft – er stammte mütterlicherseits von einer Enkelin Eduards III., folglich aus dem Hause Plantagenet – großes Ansehen verliehen. Diese Magnaten und ihre Gesinnungsgenossen stießen mit der Königinwitwe und deren Anhang schon feindselig zusammen, als es sich um die Erledigung der bloßen Formfrage handelte, wie der junge König von Ludlow nach London geleitet werden sollte, auf daß er am 4. Mai dort gekrönt würde. Offenbar wollten die Lords, daß der königliche Knabe bei dieser Gelegenheit aus den Händen der Wydevilles und Greys in die ihrigen gelangte. Inzwischen aber machte ein Dritter sich fertig, das kostbare Unterpfand in seine Gewalt zu bringen.

Richard von Glocester führte an der von ewiger, nur durch kurze Ruhepausen unterbrochener Fehde erfüllten schottischen Grenze den Heerbefehl, als er die Botschaft vom Ableben seines Bruders Eduard empfing. Mit welchen Gefühlen, das weiß man nicht und kann man nicht einmal vermuten. Gewiß ist nur, daß er sofort seiner Schwägerin Elisabeth sein Beileid vermelden und seinem jungen Neffen seine Vasallentreue und sein Schwert zur Verfügung stellen ließ. Dann ging er nach York, bestellte ein Traueramt im Münster, wohnte der Zelebrierung desselben in Trauerkleidern bei, berief hierauf die Nobility und Gentry der nördlichen Grafschaften und hieß sie Eduard V. Treue schwören, allen voran selber schwörend. So ein Schwur macht sich gut und kostet nichts als Worte, die bekanntlich dazu da sind, die Gedanken zu verbergen. Auch muß man sich, wenn man ein richtiger Realpolitiker sein will, genau über die Sachlage unterrichten, bevor man anfaßt. Richard war bald unterrichtet, besonders dann, als ihm ein vom Herzog von Buckingham entsandter Bote gemeldet hatte, wie die Königinwitwe und ihre Sippen ins Zeug gingen, ohne erst bei ihm, dem Oheim des jungen Königs und dem Großadmiral von England, um dies und das anzufragen. Er verständigte Buckingham und Hastings, daß und wie er den Wydevilles und Greys den Meister zeigen wollte, und brach hastig von York gen Süden auf. Es galt, dem Earl Rivers und dem Lord Grey, die sich mit ihrem königlichen Neffen und Halbbruder von Ludlow nach der Hauptstadt aufgemacht hatten, unterwegs zuvorzukommen und sich des jungen Königs zu bemächtigen, bevor er London erreichte.

Dies gelang, und zwar zu Stratford, nachdem der Herzog von Buckingham, einer Weisung Glocesters gehorchend, von London her diesem 300 Lanzen in Northampton zugeführt hatte. Schon bei dieser Gelegenheit handelte Richard mit jener raschen und eisernen Greif- und Treffsicherheit, die seine Gegner verblüffte, mit Schrecken schlug und mit Entsetzen lähmte. Er bemächtigte sich seines jungen Neffen. Allerdings tat er dies mit gezogener Mütze und gebogenem Knie, wie es sich seinem rechtmäßigen König und Herrn gegenüber geziemte; aber er tat es doch. Eine richtige Realpolitik schließt ja die Beobachtung ritterlicher Formen nicht aus. Natürlich durfte sich der oheimliche Realpolitiker weder durch solche Formen noch durch die Tränen Eduards V. abhalten lassen, die Verwandten desselben, Rivers und Grey, und die Kämmerer Vaughan und Hawse, ohne Umstände fassen und auf seine Burgen in Yorkshire, in die Gefangenschaft abführen zu lassen, obwohl er den Oheim und den Halbbruder seines Neffen, als sie in Northampton angekommen waren, ihn zu begrüßen, mit größter Freundlichkeit empfangen, sie auch zu Tische geladen und munter mit ihnen gezecht hatte. Warum nicht? Die Realpolitikerin Katze spielt ja auch mit der Maus, bevor sie sie auffrißt.

In der Walpurgisnacht langte der Bote Glocesters, der dem Lord Hastings zu melden hatte, was zu Northampton und Stratford geschehen, in London an. Hastings machte dem Kanzler Rotheram, Erzbischof von York, Mitteilung, und die Ahnung dessen, was kommen würde, legte sich wie ein schwerer, schwarzer Schatten auf die Stadt. Die Königinwitwe Elisabeth hielt sich im Palast nicht mehr für sicher, begab sich mit ihrem jüngeren Knaben Richard und ihren Töchtern schleunig hinüber in das Sanktuarium von Westminster und stellte sich unter den Schutz des Abtes. Auch der Marquis von Dorset fand es geraten, den Tower sofort zu verlassen und sich ebenfalls in der westminsterlichen Freistätte zu bergen. Ein großer Abfall kündigte sich an. Nur wenige Lords und Prälaten hielten in Westminster und bei der Partei Wydeville-Grey aus, viele dagegen scharten sich in der City um Hastings, der übrigens erklärte – und nicht nur erklärte, sondern auch glaubte –, daß die Rechte Eduards V. in keiner Weise angetastet werden sollten.

Dem schien wirklich so zu sein. Zwar verzögerte Glocester den Einzug des jungen Königs in die Hauptstadt bis zum 4. Mai, also bis zu dem Tage, der ursprünglich zum Krönungstage bestimmt war; aber beim Einzug ritt der Oheim barhaupt vor dem Neffen her, forderte das Volk auf, den jungen König hochleben zu lassen, und ordnete an, daß noch an demselben Tage Eduard V. im bischöflichen Palast bei der Paulskirche die Huldigung und den Treuschwur der anwesenden geistlichen und weltlichen Peers, sowie der Mitglieder des Londoner Gemeinderats empfing. Man konnte demnach glauben, Glocesters ganzes Absehen ginge darauf, bis zur Volljährigkeit seines Neffen die Regentschaft zu führen, worauf er ja als Oheim und erster Magnat des Königreichs vollwichtigen Anspruch hatte.

Es gewann auch den Anschein, als wollte sich in diesem Sinn alles glatt abwickeln. Geistliche und weltliche Lords hielten, und zwar mit Beiziehung von »Gemeinen« ( Commoners), d. h. Unterhausmitgliedern, verschiedene Ratschläge, bis sie schlüssig wurden, den Herzog von Glocester förmlich zum Vormund und Beschützer des minderjährigen Königs und zum Präsidenten des Geheimen Rates zu bestellen. Etwas wie leises Mißtrauen gegen Richard schien sich allerdings zu bergen in dem Umstand, daß ihm nicht der Titel Regent, sondern nur der Titel Lord-Protektor zuerkannt wurde. Hätte man spätere Geschehnisse vorhersehen können, so würde es wohl auch aufgefallen sein, wenn auf Antrag des Herzogs von Buckingham beschlossen wurde, daß der junge König nicht im Westminsterpalast, sondern im Tower residieren sollte. Der Erzbischof Rotheram von York mußte, als Parteigänger der Königinwitwe verdächtig, die Staatssiegel an den Bischof Russel von Lincoln abgeben.

3.

Wie konnte aber ein Mann, dessen Gesäß so ganz dazu gebaut war, auf dem Throne zu sitzen, sich damit begnügen, auf der obersten Stufe desselben zu stehen? Dies verlangen, hieße etwa fordern, Friedrich der Große hätte, statt die Schlachten des Siebenjährigen Krieges zu schlagen, sich lebenslang darauf beschränken sollen, die Potsdamer Wachtparade zu kommandieren. Es ist für Starke nicht nur ein Recht, sondern auch eine Notwendigkeit, ihre Stärke zu offenbaren. Finden sich hierbei Hindernisse auf ihrem Wege, um so schlimmer für die Hindernisse. Menschen, die das Zeug haben, Geschichte zu machen, können doch fürwahr ihre Zeit nicht damit verlieren, im Katechismus zu lesen. Wer vorankommen will im Gedränge, muß seine Ellbogen tüchtig und rücksichtslos gebrauchen. Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen. Wer die Mittel vorher auf ihre sogenannte »Moralität« prüft, wird niemals einen großen Zweck erreichen.

Übrigens war der Lordprotektor Richard nicht gerade auf Rosen gebettet. Im Gegenteil, seine Lage war so unbequem, daß es sich, sozusagen, schon aus rein körperlichen Beweggründen empfahl, ein bequemeres Bett zurechtzumachen. Das nächstliegende Mittel hierzu war die Bildung einer festen protektoralen Partei, und das tauglichste Material zu einer solchen glaubte der Protektor gefunden zu haben in den Mitgliedern der alten und hohen Baronschaft, für deren Führer der Herzog von Buckingham gelten konnte. Diese Herren blickten mit derselben Abneigung auf die Sippschaft der Königinwitwe wie auf den Lord Hastings, welcher als Vertreter Eduards IV. darauf Anspruch machte, auch der Vertraute Eduards V. zu sein und im Rate des jungen Königs die erste Stelle einzunehmen. Wie konnte aber ein Mann vom Kaliber Richards von Glocester einem andern die erste Stelle einräumen? Zudem mußte sich ihm die Notwendigkeit aufdrängen, nicht allein für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft zu sorgen. Die Sachen konnten sich ja notdürftig so hinschleppen bis zur Volljährigkeit des Königs. Aber dann? Wer und was stellte den Protektor davor sicher, daß der mündige fünfte Eduard den Sturz seiner Mutter und ihrer Verwandten an seinem Oheim rächen wollte und würde? Der ganze Verlauf der Rosenkriege hatte ja gezeigt, daß energische Könige ihren Willen und ihre Gelüste allen Gesetzen des Königreichs, aller parlamentarischen Kontrolle, allen Rechtsbräuchen und Herkömmlichkeiten zum Tort und Trotz durchzusetzen vermochten. Konnte aber nicht aus dem Königknaben Eduard ein Mann vom Schlage seines Vaters oder gar seines Oheims Richard werden? Alle diese Fragen gaben dem Protektor zu denken, und er gehörte nicht zu denen, die sich mit dem Denken begnügen. Er war ja ein Tatmann jeder Zoll.

Leider ist es unmöglich, sein Tun Schritt für Schritt zu verfolgen, weil darüber, was in den ersten Tagen seines Protektorats um ihn her und in ihm selber vorging, die Quellen nur spärlich und trübe fließen oder auch ganz versiegen. Richard scheint Grund zu der Befürchtung gehabt zu haben, daß Hastings und dessen Anhang ein Kompromiß mit den Wydevilles und Greys eingehen könnten. Es ist auch dunkel die Rede von einer heftigen Oppositionsregung, die sich in einer im Westminsterpalast gehaltenen Ratssitzung von weltlichen und geistlichen Lords gegen den Protektor kundgegeben habe. Jedenfalls fand Richard Hindernisse auf seinem Wege, und er war nicht der Mann, sich dadurch aufhalten zu lassen. Ob er sich als Endziel sofort die Königskrone steckte, ist aktenmäßig festzustellen unmöglich; aber unwahrscheinlich ist es keineswegs. Man müht sich doch wahrhaftig nicht für nichts und wieder nichts ab in einem solchen Wirrsal, und für Richard von Glocester ziemte es sich, nur den höchsten Siegespreis ins Auge zu fassen.

Am 5. Juni 1483 wurde verkündigt, daß der junge König am 22. gekrönt werden sollte, und alle die weitschichtigen und geräuschvollen Zurüstungen dieser Feierlichkeit kamen alsbald in Gang. Gerade an jenen Tagen und Nächten muß dies und das Unheimliche vorgegangen sein, und es deutet auf eine heftige Reibung zwischen den Parteien, wenn wir erfahren, daß der Lordprotektor mit Buckingham und seinen übrigen Freunden in Crosby Place, seinem Stadtpalast, Besprechungen abhielt, während die Lords Hastings und Stanley mit dem Erzbischof Rotheram und dem Bischof Morton von Ely, welche beiden Prälaten entschieden der Königinwitwe anhingen, im Kapitelhause von St. Paul zu Rate saßen. Hastings hatte unter seinen Handlangern einen gewissen William Catesby, Winkeladvokat seines Handwerks, dem er ganz vertraute. Aber inzwischen verriet ihn der Schuft an Richard von Glocester, dem er alle Äußerungen, Absichten und Maßnahmen des Lords hinterbrachte. Sehr wahrscheinlich auch völlig erdichtete Äußerungen, Absichten und Maßnahmen.

Die Geschehnisse kamen jetzt in raschen Fluß oder auch, könnte man sagen, der Herzog Lordprotektor habe sich in eine Lawine verwandelt, welche in unwiderstehlichem Herabrollen alles, was sie auf ihrem Wege fand, einwickelte, erstickte und zermalmte – ein großartiger Anblick, obwohl nicht für empfindsame Seelen gemacht.

Am 10. Juni sandte Glocester den Sir Richard Ratcliffe, einen seiner vertrautesten Diener, nach York, dessen Bürgerschaft ihm sehr anhänglich war. Der Bote trug ein Schreiben an den Stadtrat, worin dieser angegangen wurde, ihm, dem Lordprotektor, sofort eine Bürgerschar in Wehr und Waffen zur Hilfe zu senden, weil die Königinwitwe und ihre Anhänger sich gegen sein Leben verschworen hätten. Auf den 13. Juni wurden die Lords zu einer allgemeinen Beratung in den Tower geladen, und zwar in die Ratskammer im sogenannten »Weißen Tower«, wie das inmitten der Zitadelle aufragende, quadratische, von vier Türmen flankierte Hauptmassiv des ganzen Burgpalastes hieß. Auch Hastings folgte diesem Ratsgebot, nichts Arges ahnend, wie es scheint. Der Lordprotektor erschien etwas spät an der Ratstafel und sagte entschuldigend, er hätte sich verschlafen. Er war in bester Laune und erbat sich vom Bischof Morton von Ely eine Schüssel Erdbeeren, weil er, wie er sagte, gehört habe, daß der Bischof in seinem Garten zu Holborn vortreffliche gezogen hätte. Dann ging er weg und kam nach einer Stunde wieder, ein völlig anderer. Finsteren Antlitzes ließ er sich am Ratstische nieder und saß eine Weile schweigend, die Unterlippe beißend und mit seinem Dolche spielend. Dann sprang er plötzlich auf, wie in Wut, und rief aus: »Was für eine Strafe verdienen solche, die mir ans Leben wollen?« Hastings, der mit Schrecken fühlen mochte, auf was und auf wen es abgesehen sei, erhob sich und sagte, wer dem Lordprotektor nach dem Leben stände, müßte sterben als ein Verräter. Worauf Glocester: »Die Hexe, meines Bruders Witwe, und eine andere Hexe, die Jane Shore, sie haben mir mit ihren Hexereien den Leib verschändet.« Damit streifte er seinen Ärmel zurück und zeigte seinen verschrumpften linken Arm, der, wie die Anwesenden gar wohl wußten, von jeher so gewesen war. Hastings äußerte, wenn die Frauen schuldig seien, müßten sie bestraft werden. »Fort mit deinem Wenn und Aber!« schrie Glocester. »Ich sage dir, sie haben es getan, und du, Verräter, sollst es mir büßen!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, auf welches Signal hin Bewaffnete hereinstürzten und auf des Protektors Befehl die Lords Hastings und Stanley, die Bischöfe Rotheram und Morton, sowie noch andere Ratsmitglieder verhafteten. Glocester ließ sie in die Gefängnisse des Tower abführen, aber dem Lord Hastings rief er zu: »Beichte, Verräter! Denn, bei St. Paul, ich will nicht zu Mittag essen, bevor ich deinen Kopf habe abschlagen sehen.« Und er hielt Wort. Umsonst forderte Hastings Recht und Gericht. Als ob man von einem Realpolitiker, wie er sein soll – und ein solcher war ja Richard von Glocester – verlangen könnte, daß er sich um derartige Formalitäten kümmere. Hervorzuheben ist jedoch die zarte Sorge des Lordprotektors um das Seelenheil seines Gefangenen. Hastings wurde in die Kapelle des Tower gebracht, damit er beichte. Dies getan, führte man ihn auf den nahebei gelegenen Rasenplatz, wo sich zufällig ein Bauholzbalken vorfand. Auf diesen mußte der Lord seinen Hals legen, worauf man ihm ohne weitere Umstände den Kopf herunterschlug Hastings' Mätresse, welche vordem die Mätresse Eduards IV. gewesen, Jane Shore, die der Lordprotektor mit kluger Berechnung der Hexerei bezichtigte und der Liederlichkeit anklagte, um so auch dem Andenken seines Bruders Eduard eins anzuhängen, wurde eingetürmt, ihres Vermögens beraubt und vom geistlichen Gerichtshof des Bischofs von London verurteilt, im Sünderinnenhemd und mit einer gelben Kerze in der Hand am nächsten Sonntag nach Hastings' Hinrichtung öffentlich Kirchenbuße zu tun. Mylord von Glocester war eben ein sehr sittenstrenger Mann. Die schöne Jane, welche König Eduard die »munterste« seiner Mätressen genannt hatte, starb erst unter Heinrich VIII., und zwar als Bettlerin..

Man sieht, der Lordprotektor fackelte nicht lange. War er darum etwa für grausam zu halten? Bewahre! Nur die Unwissenschaftlichkeit könnte es ihm verübeln, daß er, den Notwendigkeiten seiner Lage, ich möchte sagen dem kategorischen Imperativ seiner großstilisierten Politik gehorchend, seine Bahn von Anstoßsteinen energisch säuberte. Hatte er doch schon als achtzehnjähriger Jüngling so gehandelt, damals, als er, wie wenigstens mit Grund geglaubt wurde, in der Nacht vom 21. auf den 22. Mai 1471 in den Tower ging, um Heinrich VI., diesen armen Fex von entthrontem König, eigenhändig zu erdolchen, damit diese sehr überflüssige lancastersche Schattengestalt dem Hause York nicht länger vor der Sonne stünde.

Gewöhnliche Menschen und schlechte Politiker haben regelmäßig die Schwäche, nicht B sagen zu wollen, nachdem sie A gesagt. Daher die vielen halben Wollungen und ganzen Dummheiten der Welt.

Unser Realpolitiker war kein halber, sondern ein ganzer Mann, der mit viel mehr Recht als unser deutscher Träumer Faust von sich sagen konnte:

»Bin gescheiter als alle die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel.«

Er wußte ganz klar, was er wollte, und sein Wollen machte er alsbald zu folgerichtigem Tun. Der Mann hatte auch schon einen spürbaren modernen Zug an sich: er liebte und verstand es, Volksstimmung und öffentliche Meinung zu machen. Nachdem er in gemeldeter Weise gegen Hastings und dessen schöne Buhlin vorgegangen, ließ er eine Anzahl von notabeln Bürgern der City kommen und setzte ihnen auseinander, daß und wie er und sein Vetter Buckingham am Morgen des Tages nur mit Not einem schändlichen gegen ihr Leben gesponnenen Komplott entronnen waren. Ein Herold mußte diese Neuigkeit auch in den Straßen ausrufen. Die Bonapartes haben später unserm Realpolitiker den Kunstgriff abgelernt, bei rechter Zeit ein nettes Komplott sich einstellen zu lassen.

Inzwischen langte Ratcliffe spornstreichs am 16. Juni in York an, der Träger wichtiger Befehle des Lordprotektors. Ihnen zufolge setzte sich der Stadtmayor mit dem bürgerlichen Aufgebot gen Pontefrakt, (Pomfret) in Bewegung. Hierbei führte auch der Graf von Northumberland die baronialen Mannschaften der nördlichen Grafschaften. Denn schleuniger Zuzug, so wurde bekanntgegeben, sei nötig, um den Lordprotektor gegen die Anschläge der Königinwitwe und ihres Anhangs zu schützen. Nebenbei hatte der geschwinde Ratcliffe auch noch den Befehl mitgebracht, die Gefangenen von Nordhampton wegzusäubern, und demgemäß wurden Graf Rivers, Lord Grey und Sir Vaughan zu Pontefrakt oder dort herum um ihre Köpfe verkürzt. Richard von Glocester hatte überhaupt den Grundsatz, daß es untunlich, sich mit Gefangenen zu schleppen, da nur die Toten nicht wiederkämen. Nach also vollzogener Aufräumung trugen die Freunde und Vasallen des Lordprotektors ihre Fahnen von Pontefrakt auf London zu, wohin zur selben Zeit auch Aufgebote der westlichen Grafschaften marschierten, um den, wie es hieß, so schwer bedrohten Oheim des jungen Königs zu schirmen.

4.

Während also seine Anhänger für ihn eintraten und handelten, war Glocester selber auch nicht müßig gewesen. Am 16. Juni, einen Tag nach der Ankunft seines getreuen Ratcliffe in York, hatte er eine Veranstaltung getroffen, die sich in der Folge als sehr bedeutsam herausstellte.

Wie man, wenn man kein Schwarzseher ist, wohl annehmen darf, erbarmte es Glocesters oheimliches Herz, daß sein junger Neffe und Mündel Eduard so allein im Tower sich langweilte. Der Königknabe sollte einen Gespielen haben, und wer schickte sich besser dazu, als sein leiblicher Bruder, der neunjährige Prinz Richard? Diesen aus der Freistätte im Sanktuarium vom Westminster, wo er bei seiner Mutter weilte, herbeizuschaffen, war mit etlicher Schwierigkeit verknüpft; allein ein Oheim von der Natur Glocesters läßt sich durch Schwierigkeiten nicht aus dem Konzept bringen. Am genannten 16. Juni fuhr der Lordprotektor in seinem Staatsboot und gefolgt von mit Bewaffneten gefüllten Booten vom Tower nach Westminster und wußte, dort angelandet, dem Schirmvogt der Freistätte, dem Erzbischof Bourchier von Canterbury, so sonnenklare und bewegliche Beweisgründe für die Rätlichkeit, ja Notwendigkeit einer Durchbrechung der Heiligkeit des Asylrechts vorzulegen, daß der hochwürdige Prälat nicht dagegen aufzukommen vermochte. Demzufolge ließ er sich herbei, sich zu der Königinwitwe ins Sanktuarium zu begeben und der Dame vorzustellen, wie sehr es wünschenswert wäre, ihrem älteren Knaben den jüngeren zum Gespielen zu geben. Seine erzbischöflichen Gnaden sprachen so salbungsvoll, daß Elisabeth das »Wünschenswerte« der Sache erkennen und anerkennen mußte. Sie gab ihren Richard her, unter bitteren Tränen, wie anzunehmen ist, aber sie gab ihn her. In der Halle von Westminster nahmen Glocester und Buckingham den Prinzen in Empfang, mit allen ihm gebührenden Ehren und Freundlichkeiten. Dann übergaben sie ihn dem hochwürdigsten Herrn Erzbischof von Canterbury, damit ihn dieser zum Bruder im Tower geleitete, und zwar in den sogenannten »Weißen Tower« des Burgpalastes, welches wohlausgestattete Quartier der Lordprotektor dem jungen König hatte anweisen lassen.

Die nächste Szene des im Gange befindlichen Dramas, dessen Peripetie alle mit sehenden Augen und hörenden Ohren versehenen Menschen unschwer erraten konnten, war eine Pastorale. In einem richtigen Ränkespiel müssen ja immer auch Pastoren mitspielen, sonst wäre das Spiel nicht ganz. Sonntag, den 22. Juni, also gerade an dem Tage, an welchem Eduard V. hätte gekrönt werden sollen, trat beim Kreuze der Kathedrale von St. Paul der hochwürdige Doktor Shaw auf, ein fixer Kanzelbeherrscher, und hielt vor der andächtig versammelten Volksmenge eine verblüffende Predigt, der er als Text eine Stelle aus dem apokryphischen »Buch der Weisheit« zugrunde legte (Kap. 4, V. 5: »Und es werden zerbrochen die unzeitigen Äste und unnütz ist ihre Frucht«). Das wurde auf Eduard IV. und seine beiden Söhne gedeutet. Shaw malte die Liederlichkeit des verstorbenen Königs mit dickaufgetragenen Farben und führte aus, daß er, bevor er die Elisabeth Grey kennengelernt, mit der Lady Eleonore Talbot sich verlobt, dann aber, ohne dieses Eheverlöbnis zu lösen und lösen zu lassen, mit der erstgenannten Dame sich vermählt hätte. Folglich wäre diese Vermählung den Vorschriften des kanonischen Rechtes zuwider, demnach eine unrechtmäßige, also Elisabeth Grey nur des Königs Kebse gewesen, woraus geschlossen werden müßte, daß die in solcher wilden Ehe erzeugten Kinder illegitim und darum die beiden Prinzen Eduard und Richard nichts als Bastarde seien. Doktor Shaw war ein guter Logiker und sein Kettenschluß wirklich untadelhaft, vorausgesetzt, daß seine Prämisse richtig, und das mußte doch wohl so sein. Wie hätte sonst ein so heiliger Mann diese Prämisse statuieren können? Er wollte sich auch, wie man zu sagen pflegt, einen glänzenden Abgang bereiten und seiner Predigt zum Schluß einen wirksamen Drucker und Treffer aufsetzen. Darum sprach er noch ein mehreres davon, daß und wie sehr der verstorbene König Eduard in seinen Gesichtszügen und seiner ganzen Haltung seinem (angeblichen) Vater, dem Duke of York, unähnlich gewesen, während dagegen der Lordprotektor das leibhafte Ebenbild seines Erzeugers wäre. Gerade als der fromme Redner diesen Schuß losbrannte – diesen auf die frauliche Ehre der noch lebenden Mutter König Eduards und Richards von Glocester gerichteten Schuß – erschien, natürlich rein zufällig, auf dem Söller eines benachbarten Hauses der Herr Lordprotektor und zeigte sich der Menge, als erwartete er von ihr etwas, nämlich etwa dies, daß sie riefe: »Vivat König Richard!« Aber das dumme Volk blieb stumm. Es hatte die ihm zugeteilte Rolle in der Komödie des Tages leider gar nicht begriffen. Sehr begreiflich daher, daß uns von einem dem hochwürdigen Doktor Shaw zugeteilten Spielhonorar nichts gemeldet wird.

Man mußte schlechterdings noch deutlicher werden, als man am 22. Juni geworden. Zwei Tage und Nächte hindurch wurden die Kulissen zurechtgeschoben, die Komparsen eingedrillt und die Statisten dressiert. Dann, am 24. Juni – das Parlament sollte gerade zusammentreten und darum waren viele Peers und Gemeine in der Hauptstadt anwesend – erschien der Herzog von Buckingham in der Guildhall der City in der Versammlung des Gemeinderats und der Bürgerschaft, wiederholte die gegen Eduards IV. und seiner Kinder Legitimität vom Doktor Shaw vorgebrachten Beweisgründe und zog daraus den Schluß, daß Richard von Glocester der wahre und alleinberechtigte Erbe der Krone von England sei.

Nun war es recht unbequem, daß Aldermänner und Bürger zwar die Botschaft hörten, aber nicht so recht daran glauben wollten. Der lustige Bruder Eduard IV. war eben in London sehr populär gewesen. Doch wofür gäbe es jenes französische Ding in der Welt, welches Claque heißt, so man nicht bei passender Gelegenheit davon Gebrauch machte! Hinten in der Halle erhob sich ein, obwohl etwas dünnes »Vivat König Richard!«, worauf Buckingham alsogleich Magistrat und Bürgerschaft der Hauptstadt einlud, morgigen Tages ihn zum Baynard Castle, der Residenz des Lordprotektors, zu begleiten, um diesem die Willensmeinung des Volkes, daß er König sein müßte, zu überbringen.

So geschah es. Die bekannte » vox populi vox dei« hatte sich vernehmen lassen. Eine packende Phrase war gefunden, die richtige Losung ausgegeben, eine hübschgemalte Fahne entfaltet, und der Pöbel, der süße wie der saure, lief hinterdrein. Am 25. Juni führte Buckingham den Volkshaufen, dem sich viele Lords und Commoners anschlossen, zum Baynard Castle. Wie es bei solchen Anlässen schicklich, zierte sich Glocester ein bißchen, die ihm dargebotene Krone anzunehmen; aber nach einigem Verschämttun nahm er sie an, wie es ja selbstverständlich war. Schon am folgenden Tage trat er als König Richard III. auf und einher. Er begab sich mit großem Gefolge nach Westminster, setzte sich in der Halle auf den alten Marmorstuhl, zum Zeichen, daß er vom höchsten Richteramt Besitz ergriffe, ließ dann in der Abteikirche jenes bekannte Tedeum singen, das unbedingt zum Apparat der Staatsstreiche gehört, und hierauf, nachdem er den königlichen Palast förmlich in Besitz genommen, durch Herolde in der ganzen Stadt ausrufen, daß König Richard III. das Regiment angetreten habe.

Der Antritt war ein milder und gnädiger, woraus wiederum zu ersehen, daß Richard von Natur eigentlich ein gutmütiger Mann gewesen. Hätte man ihn nur unbehelligt gewahren lassen in seiner Huld und Milde! Aber böse Menschen ruhten ja nicht, bis sie seiner »Denkart fromme Milch« verwandelt hatten »in gärend Drachengift«. Dieses »Drachengift« ist übrigens nur eine subjektive Übertreibung, eine dichterische Hyperbel, die von seiten objektiver Historik mit Entrüstung abgelehnt werden muß. Denn der neue König erwies sich sogar notorischen Feinden gnädig und huldvoll: er ließ den Erzbischof von York und den Bischof von Ely frei, er ernannte den Lord Stanley, nachdem er Reu' und Leid gemacht, zu seinem Oberhofmeister. Recht staatshaushälterisch handelte er auch, indem er mit den Anschaffungen und Zurüstungen, welche für die Krönung seines »illegitimen« Neffen gemacht und getroffen worden waren, vorliebnahm und dem Reiche neue Aufwendungen zu diesem Zweck ersparte. Am 5. Juli 1483 machte König Richard den herkömmlichen Prozessionsritt durch die City mit großer Pracht. Mit noch größerer wurden am folgenden Tage Mylord von Glocester und Mylady Anna als König und Königin von England gekrönt. Leider wollte, wie gemeldet wird, beim Krönungsbankett in der großen Halle von Westminster keine rechte Feststimmung aufkommen. Es scheint, die Herren wollten nicht zechen und kurtesieren, die Damen nicht tanzen und kokettieren. Kaum war der Nachtisch aufgetragen, nahm das Fest ein langweilig Ende. Augenscheinlich hatten die Menschen von damals keinen rechten Sinn für die Größe und Schönheit der Realpolitik.

5.

Mit gnädigem Bezeigen, aber auch mit der eindringlichen Mahnung, für Ruhe und Ordnung im Lande tätig zu sein, entließ Richard III. die Mitglieder seines ersten Parlaments nach Hause. Dann machte er selber sich auf zu einer Rundreise im Königreich, um überall mit eigenen Augen nach dem Rechten zu sehen. Zu Oxford, wo er im berühmten Magdalenenkollegium nächtigte, wurde er von der Professorenschaft mit alleruntertänigst-begeisterten Huldigungen und wohlstilisierten Festreden empfangen. Professoren sind loyale Leute und wußten schon am Ende des 15. Jahrhunderts so gut wie ihre Kollegen im 19. den Wert eines Realpolitikers, wie er sein soll, zu schätzen. Seinen Umzug fortsetzend, gab der König in Warwick-Castle den Gesandten der Höfe von Frankreich, Kastilien und Burgund Audienz, welche kamen, im Auftrag ihrer Souveräne ihn als König zu begrüßen. Die getreue Stadt York zu ehren, wurde sie zum Schauplatz einer prächtigen Wiederholung des Krönungsaktes gemacht, wobei der zehnjährige Sohn des Königs, Eduard, den Titel eines Prinzen von Wales, d. i. Thronfolgers, erhielt.

Der Festjubel von York war aber kaum verhallt, als aus dem Süden und Westen des Landes bedenkliche Nachrichten nach dem Norden gelangten. Dort in den südlichen und westlichen Grafschaften war Richard III. leider nicht beliebt. Man hatte sich zwar die Überraschung seiner Thronbesteigung gefallen lassen, aber kaum war er aus der Hauptstadt gen Norden aufgebrochen, so flüsterte man erst leise von Usurpation, dann sprach man laut und lauter davon. Natürlich hatte unser Realpolitiker gegen den Wankelmut der Menge sich vorgesehen und in London militärische Veranstaltungen getroffen, die ihm den Besitz der Stadt sichern zu müssen schienen. Aber die Unzufriedenheit war da, breitete sich in den erwähnten Landschaften aus und gewann wie an Umfang so auch an Kraft. Romantik verschwor sich gegen Realpolitik, Sentimentalität gegen Staatsräson. Man fragte den beiden Söhnen Eduards IV. nach. Man kümmerte sich um das Schicksal der Knaben, von denen der ältere – so sagten die Leute – doch der rechtmäßige König von England sei. Wo waren sie geblieben? Was war aus ihnen geworden? Ihr Vater war ein sehr schöner und munterer Herr gewesen, kein so buckliger Lippenbeißer wie dieser unheimliche Richard. Namentlich die Weiber waren voll Gift und Galle gegen den »Usurpator«.

Das war nun schon schlimm genug. Aber viel schlimmer gestaltete sich für den königlichen Realpolitiker die Sache, als sich plötzlich sein vornehmstes Werkzeug, der Herzog von Buckingham, gegen ihn kehrte. Dieser große Baron, den der König mit Reichtümern und Würden überhäuft hatte, besaß gerade Hirn genug, um einem Richard von Glocester zum Anschicksmann dienen zu können; aber nicht mehr. Es scheint, der Anblick vom raschen Aufsteigen seines Auftraggebers habe ihn schwindlig gemacht. War er nicht der reichste Magnat im Lande? Hatte er nicht Plantagenetsblut in den Adern? Warum sollte nicht auch er König werden können? Er hatte sich vielleicht diese Frage vorgelegt, als er sich von Richard III., den er auf dem Königsumzug anfänglich begleitete, in Glocester verabschiedete, um nach seinem Brecon-Castle an der Grenze von Wales zu reisen. Hier oder vielleicht schon unterwegs entsagte er dem Königstraum, d. h. er ließ sich ihn ausreden, und die das taten, waren seine Verwandten: die Gräfin Margarete von Richmond, geborene Beaufort, verwitwete Tudor, und der Bischof Morton von Ely, den König Richard unglücklicherweise wegzusäubern unterlassen hatte. Dieser hochwürdige Herr war der Hauptmacher des Komplotts, das gegen unsern Realpolitiker zu Faden geschlagen und schleunigst festgenäht wurde. Buckingham ist auch jetzt wieder nur ein Werkzeug, ein buntgemalter Aushängeschild gewesen.

Das Komplott zielte darauf, Richard III. zu entthronen und den Heinrich Tudor, Grafen von Richmond, Sohn des Edmund Tudor, eines Halbbruders Heinrichs VI., und der vorhin genannten Lady Margarete Tudor-Beaufort, einer Urenkelin des Herzogs John von Gaunt-Lancaster, zum König von England zu machen. Mit dieser Königsmachenschaft sollte ein schließliches Kompromiß, eine Aussöhnung zwischen der Roten und der Weißen Rose verbunden werden, indem sich Heinrich von Richmond mit der ältesten Tochter Eduards IV. vermählte. Die Verschworenen wußten die Zustimmung der Königinwitwe Elisabeth zu erlangen, und Ende September fertigten sie Boten nach der Bretagne ab, wo Heinrich Tudor-Richmond in der Verbannung lebte, setzten ihn von dem Kompromiß in Kenntnis und forderten ihn auf, Mitte Oktober an der Südküste von England zu landen, während Buckingham und seine Freunde in den westlichen Grafschaften losschlagen würden.

Warum aber war in dieser ganzen Sache gar keine Rede von den eingetowerten Söhnen Eduards IV.? Weil von ihnen keine Rede mehr sein konnte. Sie waren tot.

Wie waren sie umgekommen? Das weiß man nicht bestimmt zu sagen. Wenigstens die zeitgenössischen Berichte drücken sich nicht bestimmt aus und sprechen nur so obenhin vom » interficere«, vom » decedere in fata« und von einem » genere violenti interitus«. Ausführlicher und deutlicher sprach erst 26 Jahre später ein Berichterstatter, Sir Thomas More, jener steifnackige Widersacher König Heinrichs VIII. More schrieb nämlich um 1509 eine Geschichte Eduards V. und Richards III. und er konnte darüber allerdings manches, sogar vieles Geheime wissen, da er in seiner Jugend mit dem Bischof Morton von Ely in vertrautem Verkehr gewesen war. Aber, wohlverstanden, dieser hochwürdige Prälat war ein notorischer Gegner Richards III., und demnach trugen seine Mitteilungen jedenfalls die Parteifärbung. Mores Erzählung zufolge war der Ausgang der Söhne Eduards IV. dieser. Noch bevor Richard III. auf seiner Rundfahrt nach Glocester gekommen, sandte er seinen Dienstmann John Green nach London zurück als Träger eines schriftlichen Befehls, der den Kommandanten des Tower, Sir Robert Brackenbury, anwies, die beiden im Tower verwahrten Prinzen umbringen zu lassen. Brackenbury verweigerte entschieden den geforderten Henkerdienst, und Green überbrachte diese Weigerung dem König, den er in Warwick wieder einholte. Richard gab nun dem Sir James Tyrrel, den er als einen Ritter ohne Skrupel und Zweifel kannte, den Mordbefehl. Tyrrel vollzog ihn. Spornstreichs nach London geeilt, überbrachte er an Brackenbury des Königs Befehl, ihm, Tyrrel, für eine Nacht sämtliche Schlüssel des Tower auszuliefern, d. h. ihn für eine Nacht im Tower kommandieren zu lassen. Brackenbury gehorchte, und Tyrrel ging sofort ans Werk. Zu Vollstreckern des Greuels ersah er seinen eigenen mitgebrachten Knecht John Dighton und einen der Wärter der beiden Prinzen, Miles Forest, und lehrte sie, was zu tun und wie es zu tun wäre. Um Mitternacht, als alles im Tower zur Ruhe gegangen, schlichen die beiden Mordgesellen in die Kammer, wo die armen Knaben König Eduards im gemeinsamen Bette schliefen. Sie fielen aus dem Schlaf in den Tod, mit Kissen und Decken brutal erstickt. Hierauf entkleideten die Mörder ihre Opfer und riefen Sir Tyrrel herein, damit er das vollbrachte Werk schaute. Der Ritter befahl, am Fuße der Treppe ein tiefes Loch zu graben und die nackten Leichen darein zu verscharren. Dann stieg er zu Pferde und eilte, York zu erreichen, um dem König zu melden, daß geschehen, wie dieser befohlen. So Sir More, gewöhnlich schlichtweg Thomas Morus genannt.

Aber hatte König Richard befohlen, daß geschähe, wie geschah? Wo ist hierfür ein Beweis? Wo ist der angeblich dem Brackenbury durch Green zugekommene, dann dem Sir Tyrrel angeblich mündlich gegebene Befehl des Königs urkundlich bezeugt? Nirgends. Wo sind die romantischen Geschehnisse der vermutlichen Mordnacht im Tower protokolliert? Nirgends. Wo ist der Totenschein der beiden Prinzen? Nirgends. Gibt es einen venezianischen Gesandtenbericht über diesen so ohne weiteres behaupteten Prinzenmord? Nein. Was haben wir also? Im Grunde gar nichts als den historischen Roman des Sir Thomas More, welcher Roman nachmals Poeten und Malern das Material geliefert hat, empfindsame Leute mehr oder weniger gruseln zu machen. Daß jedoch dieser Roman gar keine wissenschaftliche Bedeutung, nicht den geringsten objektiv-historischen Wert habe, ist sonnenklar.

Aber – so könnte man einwerfen – Thomas Morus, der für seine Überzeugung ruhmreich in den Tod gegangen, ist doch gewiß ein ehrenwerter Zeuge. Nun ja, ein Ehrenmann ist er ja wohl gewesen, aber von Realpolitik verstand er nichts. Schade, daß er mit seinem Geborenwerden nicht wartete bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da hätte er gelernt, daß die Politik nichts anderes ist als »die Wissenschaft des Möglichen«. Demzufolge wäre es ihm wissenschaftlich zum Bewußtsein gekommen, daß es unmöglich, den Launen König Heinrichs VIII. zu widerstehen, und folglich würde er nicht die strafwürdige, die durchaus unwissenschaftliche Torheit begangen haben, seinem König und Herrn zu widersprechen. Freilich, einem Manne, der die »Utopia« verfaßt hat, ist alles Ideologische und Demagogische zuzutrauen. Geht man ihm wissenschaftlich zu Leibe, so gelangt man zu dem Resultat, daß er eigentlich eine ganz und gar destruktive Natur, ja geradeswegs ein vorweggenommener Kommunist und Petroleur gewesen ist. Aber wir wollen davon ganz absehen und nur darauf hinweisen, daß er 26 Jahre nach den von ihm vermuteten und erzählten Ereignissen schrieb. Möglich, daß der Mann das ihm Mitgeteilte in aller Treue aufgenommen und in bestem Glauben weitergegeben habe. Aber, fragen wir, was kann binnen 26 Jahren nicht alles zusammenfabuliert werden? Erleben wir nicht tagtäglich, daß Verleumder und Denunzianten einen beliebigen, noch dazu von ihnen selber erfundenen Floh im Handumdrehen zu einem Elefanten hinauflügen? Hat nicht Bismarck und vor ihm schon Karl Heinzen gesagt: »Gelogen wie telegraphiert?« Lügen die Zeitungen nicht »wie gedruckt«?

Bewiesen wird also durch die populäre Erzählung Mores gar nichts. Auch andere Beweisführungsversuche sind lächerlich unzulänglich ausgefallen. So hat man der erwiesenen Tatsache gegenüber, daß König Heinrich VII. vergebens den ganzen Tower nach den Überresten der »ermordeten« Söhne Eduards durchsuchen ließ, geltendmachen wollen, daß im Jahre 1674 bei Gelegenheit von im Weißen Tower vorgenommenen Umbauten am Fuße der großen Treppe tief in der Erde ein Haufe menschlicher Knochen gefunden wurde, welche als die Überreste von zwei Knaben rekognosziert worden seien. Durch wen rekognosziert? Das wird nicht gesagt. Wir hören auch hier wiederum von keiner Protokollaufnahme. Wir hören auch von keiner fachmännischen Überzeugung durch einen kompetenten Anatomen und Osteologen. König Karl II. freilich zweifelte nicht an der Echtheit der aufgefundenen Knochen, d. h. er erkannte in ihnen die Überreste der Söhne Eduards und ließ sie in der Westminsterabtei beisetzen. Aber, allen geziemenden Respekt vor einer königlichen Majestät vorbehalten, Karl II. kann doch wohl nicht für eine fachmännisch-wissenschaftliche Autorität gelten? Was bleibt also auch hier übrig? Nichts als eine vage Vermutung.

Das allerdings darf der objektiven Historik für gewiß gelten, daß die beiden Knaben im Tower gestorben. Aber warum denn glauben, daß sie ermordet worden seien? Und vollends auf Veranstaltung ihres Oheims? Sie konnten ja ganz gut einer plötzlich über sie gekommenen Krankheit, womit einer den andern ansteckte, erlegen sein. Etwa der tückischen Diphtheritis, obwohl der Name dieser Seuche dazumal noch nicht in der Pathologie stand. Außerdem gibt es hundert Zufälle, welche für Knaben im Alter der Unvorsichtigkeit und des Mutwillens verderblich werden können. Möglich, daß sie im Spiele unversehens eine steile Treppe hinabgestürzt sind. Möglich, daß sie sich über die Brüstung einer hohen Zinne gelehnt und unglücklicherweise das Übergewicht bekommen haben. Möglich, daß sie sich mit knäbischer Unmäßigkeit überaßen, etwa an unreifem Obst – es war ja gerade die Jahreszeit dazu – und dann von einer heftigen Kolik weggerafft wurden. Kurz, der Möglichkeiten eines natürlichen Todes der Prinzen waren unendlich viele vorhanden. Im übrigen, angenommen, Richard III. habe dem Ritter Brackenbury und hierauf dem Ritter Tyrrel den bezüglichen Befehl wirklich erteilt, und angenommen auch, die Gunstbezeigungen und Belohnungen, die der König dem Sir Tyrrel, sowie dem John Green, dem John Dighton und dem Miles Forrest erwies und zufließen ließ, wären nicht für nichts und wieder nichts erwiesen und zugeteilt worden – angenommen das alles, was würde daraus erhellen? Doch wohl nichts anderes, als daß Richard III., der angesichts der schrecklichen Übel, die infolge der Rosenkriege über England gekommen, diesen Kriegen ein für allemal ein Ende machen wollte, den realpolitischen Notwendigkeiten dieses im höchsten Grade heilsamen Wollens sich fügte und folglich, indem er sich zur Beseitigung seiner Neffen entschloß, seine oheimlichen Gefühle dem Staatswohl zum Opfer brachte.

6.

Leider waren die Engländer von dazumal in ihrer Mehrheit viel zu dickhäutige Romantiker, als daß sie imstande gewesen wären, diesen großen Realisten nach Verdienst zu werten und zu würdigen. Sie hatten auch gar kein Verständnis dafür, daß sie Richard III. schon darum hochhalten müßten, weil er zweifelsohne die großartigste Verkörperung des echtesten Engländertums, d. h. der skrupellosesten Selbstsucht war. Sie hätten, wären sie klug und dankbar gewesen, in diesem ihrem Könige, der die Idee des Nationalegoismus zu einem vollendeten Kunstwerk gestaltete, in seiner Person zur körperlichen Erscheinung brachte, mit Befriedigung und Stolz sich bespiegeln können und sollen.

Statt dessen empörten sie sich gegen ihn und schalten ihn einen Tyrannen. Mit besonderer Erbitterung dann, als er, seinen Umzug fortsetzend, unterwegs zwischen York und Lincoln von den Ränken und Absichten seiner Feinde die erste, die ganz unerwartete Kunde empfangen und daraufhin bekanntgegeben hatte, daß seine beiden jungen Neffen wirklich, wie das Gerücht schon geraunt, im Tower gestorben wären. Er hoffte augenscheinlich, damit einen großen Schlag zu tun, nämlich seinen Gegnern die Möglichkeit einer Restauration Eduards V. zu benehmen. Davon, daß seine Feinde bereits einen anderen Thronprätendenten in der Person Heinrichs von Richmond gefunden und beschlossen hatten, die Rote Rose mit der Weißen Hochzeit machen zu lassen, d. h. Heinrich Tudor-Lancaster mit der Prinzessin Elisabeth von York, der ältesten Tochter Eduards IV., zu vermählen, scheint der König zunächst noch nichts erfahren zu haben. Mit der Nachricht jedoch vom Verrat des Herzogs von Buckingham ward ihm die ganze Zettelung klar, und sofort traf er in Lincoln mit gewohnter Hellsicht und Tatkraft seine Maßnahmen gegen die Verräter und Verschwörer, die bald erfahren sollten, mit wem sie es zu tun hätten.

Am 18. Oktober 1483 standen die Ritterschaften einer Anzahl südlicher und westlicher Grafschaften in Waffen gegen Richard III. auf, gegen den sich zugleich die Bischöfe von Salisbury und Exeter erklärten. Am letztgenannten Orte rief der aus der Freistätte von Westminster entkommene Marquis von Dorset den Heinrich Tudor aus. Mit diesen Rebellen wollte sich von Wales her der Herzog von Buckingham vereinigen. Aber schon hatte der König die Übergänge über die durch starke Herbstregen hochangeschwollene Severn ausreichend besetzen lassen und er selbst war mit dem raschgesammelten Heerbann nördlicher Grafschaften bereits von Lincoln nach Leicester marschiert. Von hier aus erließ er seine Achterklärungen gegen die Verräter und Empörer, Preise bis zum Betrage von 1000 Pfund auf die Köpfe der Leiter und Führer setzend, auch vorsorglich schon Kriegsgerichte zur Aburteilung derselben bestellend. So sicher war er seiner Sache, und er durfte es sein. Denn Buckingham gab die Rebellion verloren, nachdem er einen vergeblichen Versuch gemacht, auf Glocester durchzubrechen und infolge dieses Mißlingens seine Waliser Gefolgschaft sich verlaufen hatte. Bald eingekreist und verfolgt, floh er, während sein Mitverschwörer, der Bischof Morton, glücklich über Ely nach Flandern entweichen konnte, in einer Verkleidung nach Shropshire und suchte bei einem seiner Pächter Zuflucht. Aber dieser verriet und verkaufte ihn an die Verfolger. Er wurde gefangen, erst nach Shrewsbury, dann nach Salisbury gebracht, und hier ließ ihm der König am 2. November auf dem Marktplatz den Kopf herunterschlagen.

In Eilmärschen südwestwärts rückend, zertrat Richard den Aufstand, wo dieser sich regte. Bei seinem Herankommen hatten die Bischöfe von Exeter und Salisbury, der Marquis von Dorset und verschiedene der aufständischen Lords es sehr eilig, zu Schiffe zu gehen und sich nach der Bretagne hinüberzuretten. Dorthin kehrte auch Heinrich von Richmond unverrichteter Dinge zurück, nachdem er der Verabredung gemäß am 12. Oktober mit 5000 bretonischen Söldnern auf 15 Schiffen von St. Malo aus zur englischen Küste hinübergefahren, sein Geschwader aber durch Wind und Wetter hart mitgenommen und teilweise zerstreut worden und ihm schließlich auf der Rhede von Elymouth zu Ohren gekommen war, welchen Ausgang Buckingham genommen.

Daß der Sieger Richard das » Vae victis!« ausgiebig praktizierte und den von ihm eingesetzten Kriegstribunalen alle Hände voll zu tun gab, versteht sich von selbst. Der Mann seiner eigenen Schwester, Sir Thomas St. Leger, mußte die Beteiligung an der Rebellion mit dem Kopfe büßen: eine richtige Realpolitik verträgt keine sentimentalen Rücksichten. Triumphierend zog der König am 1. Dezember in London ein, von der Bürgerschaft mit Hoch und Hussa eingeholt, von Lords und Prälaten alleruntertänigst begrüßt. Im Januar 1484 hielt er ein Parlament ab, dessen Lords und Gemeine ihn wetteifernd ihrer Treue versicherten und mit Bewilligungen und Zustimmungen aller Art nicht karg waren.

So stand er auf der Zenithöhe seiner Macht und seines Glückes. Hätten ihn nur die Sorgen schlafen lassen. Es ist ein Unglück, ein Menschenkenner zu sein. Man geht als solcher des Besten am Leben verlustig, der Illusionen. Wenn man einmal so weit gekommen, daß man die Menschen durchschaut, als wären sie von Glas, hat man nicht mehr weit bis zu dem Zornwunsch, sie zu zerbrechen. Richard III. hat noch verschiedene zerbrochen. Dann ist er selber zerbrochen worden. Viele Hunde sind eben nicht nur des Hasen, sondern unter Umständen auch des Leuen Tod.

Er wäre nicht der Menschenkenner und Realpolitiker gewesen, der er war, wenn er von dem erneuerten großen Treueid, den Lords und Gemeine, ja die gesamte mannbare Bevölkerung des Königreichs Anfang 1484 ihm geschworen, mehr gehalten hätte, als er verdiente. Politische Eide sind zu allen Zeiten so wohlfeil gewesen wie Brombeeren. Der König wußte auch ganz genau, welches Gewitter sich abermals gegen ihn zusammenzöge drüben in der Bretagne, wo unter der Leitung des Bischofs Morton die Parteigänger Heinrichs Tudor-Richmond eine umfassende und eifrige Tätigkeit entwickelten, um einen nochmaligen Einfall in England zu versuchen, der besser vorbereitet und organisiert wurde als der mißlungene erste. Ob seiner Pflichten als General, als welcher er energisch zur Abwehr dieser Gefahr rüstete, vergaß aber Richard auch die Kunst des Diplomaten nicht. Er wollte seinen Feinden zeigen, daß auch er auf Kompromisse sich verstände, und er zeigte es ihnen. Sie waren gewiß nicht wenig überrascht, als sie vernahmen, daß der König die Witwe seines Bruders Eduard, die Mutter der im Tower so plötzlich »verlebten« Prinzen Eduard und Richard, dahin gebracht hätte, sich mit ihm zu vertragen. Dem war so, und es ist das gewiß keine kleine Leistung der »Wissenschaft des Möglichen« gewesen. Unser Realpolitiker billigte der »Elisabeth Grey, die sich einst Königin genannt«, ein Jahrgehalt von 700 Mark, sowie »völlige Sicherheit« zu, auch jeder ihrer 5 Töchter jährlich 200 Mark, woraufhin die Damen das Asyl im Sanktuarium der Abtei verließen und im Palast Wohnung nahmen, vom König Richard und der Königin Anna mit aller Freundlichkeit und Courtoisie aufgenommen. Die Hauptbestimmung des geschlossenen Kompromisses aber war, daß die dem Tudor-Richmond zugedachte Braut, die Prinzessin Elisabeth, älteste Tochter der versöhnten Königinwitwe, mit dem Prinzen Eduard von Wales, Richards III. Sohn, vermählt werden sollte. Das wäre ein Meisterstück diplomatischer Kunst gewesen, so es ganz gelungen. Allein eine ganz plumpe, ja geradezu schändliche Schicksalstücke verhinderte das: der junge Prinz von Wales, seines Vaters einziges legitimes Kind, starb im April 1484 auf Middleham Castle.

Das war einer jener Schläge, die auch Realpolitiker von Nummer 1 nur sehr schwer, wenn überhaupt, zu verwinden vermögen. Unser Held war von jetzt an ein sorgenumdüsterter. Meerherüber drohten die offenen Feinde mit einer Landung, daheim machenschafteten die geheimen, diese erwartete Landung des Tudor-Richmond mittels einer Schilderhebung von ihrer Seite zu unterstützen. Die durchgreifende Art, womit der König seine kriegerischen Rüstungen betrieb, hatte weithin im Lande Unzufriedenheit und Erbitterung hervorgerufen. Und wie sollte es, wenn ihm etwas Menschliches zustieße, mit der Thronfolge werden? Er dachte daran, seinen Neffen, den neunjährigen Grafen Eduard von Warwick, ältesten Sohn seines Bruders Clarence, oder aber den Grafen von Lincoln, Sohn seiner Schwester, der Herzogin von Suffolk, zu adoptieren. In der Festzeit zwischen der Weihnacht 1484 und dem Neujahr 1485 flüsterte man im Westminsterpalast und redete man bald auch in der Stadt noch von einem anderen realpolitischen Absehen und Plan des Königs. Nämlich, daß er, wie sein Verhalten gegen die Prinzessin Elisabeth während der Festlichkeiten bei Hofe auswiese, wohl willens sein könnte, seinen verstorbenen jungen Sohn bei dieser Dame zu ersetzen und sie zu heiraten. Warum auch nicht, wenn das Staatswohl es heischte? Von der Königin Anna hatte Richard keine Kinder mehr zu erwarten. Sie konnte ja gelegentlich sterben, um der Nichte ihres Gemahls Platz zu machen. Auch eine Scheidung lag nicht außerhalb des Bereichs der »Wissenschaft des Möglichen«. Die Prinzessin Elisabeth benahm sich ihrerseits keineswegs abstoßend gegen den galanten Oheim, im Gegenteil! Es ist von ihr ein fragmentarischer Brief auf uns gekommen, den sie im Februar 1485 an den Herzog von Norfolk schrieb und worin sie bekannte, der König sei ihre einzige Freude, ihr einziger Helfer in dieser Welt und ihm gehöre sie in Herz und Gedanken. Im weiteren meldete die liebenswürdige Nichte, die Königin Anna sei unmittelbar nach der Festzeit schwer erkrankt, aber sie, die Nichte, fürchte, die Kranke werde nicht sterben.

Diese Befürchtung war grundlos. Die Königin Anna starb am 11. März, und ihr Gemahl sorgte dafür, daß sie mit großem Pomp in der Westminsterabtei bestattet wurde. Natürlich hat man diesen Todesfall unserm Realpolitiker auf seine angebliche Schuldrechnung gesetzt. Als ob Königinnen nicht auch unvergiftet erkranken und sterben könnten! Zudem wurde der Platz, den Anna geräumt hatte, nicht wieder besetzt. Die Heirat des Königs mit seiner Nichte fand nicht statt. Gerade die standhaftesten Anhänger Richards, welche mit ihm durch alles mögliche Dick und Dünn gegangen und gehen wollten, Männer wie Catesby und Ratcliffe, widersetzten sich mit aller Kraft diesem Heiratsprojekt, und der König war denn doch ein zu gescheiter Mensch, als daß er das viele »Inopportune«, was einer Ehe des Oheims mit der Nichte vorangehen und nachfolgen mußte, hätte übersehen können. Unlange vor Ostern ließ er sich demzufolge herbei, öffentlich kundzugeben, daß, was von feiner Wiedervermählung geklatscht worden, eben nur Klatsch gewesen sei.

Allein der angerichtete Schaden war damit nicht wieder gutzumachen, und schlimm war es insbesondere, daß die Gerüchte, welche über den Tod der Königin Anna umliefen, in den nördlichen Grafschaften, wo die Verstorbene als Tochter des großen Warwick sehr verehrt gewesen, die allerungünstigste Wirkung hervorbrachten.

Es ging jetzt überhaupt rasch bergab mit unserm Helden, und er hatte das Vorgefühl seiner gefährlichen Lage. Aber er hielt aus und wies nach allen Seiten hin den offenen und versteckten Feinden eine kühne Stirn. Auf die Entscheidung hatte er auch nicht mehr lange zu warten: sie fiel im August desselben Jahres 1485.

Am Abend vom 1. Augusttag landete Heinrich Tudor-Richmond, als »rechtmäßiger König von England« sich ankündigend, zu Milford in Wales mit etlichen tausenden bretonischer und normannischer Söldner. Er zählte darauf, daß seine Anhänger im Lande sich in Waffen erheben und ihm rasch Verstärkungen zuführen würden. Und so geschah es. Als der Prätendent durch Nordwales nach Shropshire zog und auf Stafford rückte, vergrößerte sich seine Streitmacht von Schritt zu Schritt. König Richard, der anfänglich über die geringen Mittel des Tudor gespottet und geäußert hatte, er wäre über die Erscheinung auf englischem Boden sehr erfreut, denn das gäbe ihm ja Gelegenheit, ein für allemal mit dem kecken Abenteurer abzurechnen, hatte bald Ursache, die Sache ernstlich zu nehmen. Denn schon begann ja rings um ihn der große Abfall, und er mußte es schmerzlich bereuen, daß er verschiedene seiner Gegner, wie namentlich die Stanleys, früher so großmütig, viel zu großmütig behandelt hatte. Ja, der leidige Umstand, daß er mitunter die gutmütige Schwäche gehabt, von den Grundsätzen einer gesunden Realpolitik abzuweichen und Feinde, die er unter seine Füße gezwungen, nicht zu zertreten, wurde nun ein Hauptmotiv seines Untergangs. Solche törichterweise vordem nicht Zertretene eilten jetzt, an ihm zu Verrätern zu werden und ihre Dienstmannschaften dem Heerbann seines Gegners zuzuführen.

Trotz alledem verzagte Richard nicht, und er hat gerade in dieser Krisis erwiesen, daß er vom besten Metall. Auch zeugt es für ihn, daß es ihm doch nicht an Getreuen fehlte, die fest zu ihm standen bis zuletzt. Ungetreue freilich entwichen von seinen Fahnen, als er diese dem Feind entgegentrug, auf weißem Streithengst in prächtiger Rüstung, als Helmzier die Königskrone führend, seinen Geschwadern voranreitend, die, in Nottingham gesammelt, auf Leicester zogen und von dort weiter auf der Straße nach Ashby de la Zouche. Montags am 22. August stand das königliche Heer auf dem Hügelgelände ob dem Roten Moor beim Flecken Bosworth, und etwas westwärts davon war der Tudor mit seinen Truppen aufmarschiert. König und Prätendent fühlten gleichermaßen, daß an diesem Tag der Schlachtwürfelwurf um England getan werden müßte. Die Scharen bewegten sich demnach gegeneinander, und auf dem Roten Moor entbrannte der Kampf, der sich für Richard gut anzulassen schien, bis Lord Stanley und der Graf von Northumberland auf der Walstatt selbst von dem Könige abfielen. Da, erkennend, daß es aus mit dem Königsspiel, dachte Richard nur noch daran, zu sterben als ein Held. Er war abgestiegen, um seinen Durst an einem Brunnen auf dem Felde zu löschen, als das Äußerste an ihn herantrat. Man führte ihm sein Roß vor, in der Meinung, er solle es besteigen, um den Fluchtweg zu ergreifen. Denn schon drängten die Feinde dichtgeballt auf ihn herein. Er schwang sich in den Sattel, aber nicht, um zu fliehen. Einer Überlieferung zufolge hatte er ausgerufen: »Reicht mir meine Streitaxt und setzt mir den Kronhelm fest aufs Haupt; denn keinen Fußbreit will ich weichen und heute sterben als König von England!« Und so starb er, Todeswunden gebend und empfangend, mitten im wildesten Gewühl. Der Verräter Stanley war es, der dem Toten den Kronhelm, in den die feindlichen Schwerter Beulen und Risse geschlagen hatten, vom Haupte nahm, um diese Trophäe dem Sieger zu überbringen. Dann erhob der große Rechthaber unter Menschen, der Erfolg, seine Stimme und ließ König Heinrich VII. hochleben.

»Den Siegern die Beute!« Unser auf dem Roten Moor gefallener Realpolitiker hätte gegen diesen in unsern Tagen von den Yankees mit anerkennenswerter Offenheit proklamierten realpolitischen Satz – welcher übrigens allzeit und überall tatsächlich gültig war, ist und sein wird – schwerlich etwas einzuwenden gehabt.


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