Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Dezemberschrecken

1.

Oh, meine Sünde ist übermäßig,
sie stinkt zum Himmel.

Hamlet, III, 3.

Der 24. Februar 1848 hatte in Paris die Republik improvisiert und Frankreich diesen Einfall sich gefallen lassen. Nicht etwa, wie man gefabelt hat, aus Ekel über die »Korruption der Regierung des Bürgerkönigs«, sondern vielmehr aus der Überraschung und in der Angst des Augenblicks. Noblesse und Bourgeoisie schrien: » Vive la république!« mit, auf daß nicht, wie sie fürchteten, geschrien würde: » Vive le communisme!« und mit dem stillen Vorbehalt, die Retterin Republik, die sie und ihre Besitztümer heute großmütig unter den Schutz ihrer Fittiche nahm, morgen schon zu verraten. Ganz in demselben Geiste der » Honnêteté« sang die Hochwürdige Geistlichkeit am 25. Februar: » Domine, salvam fac rempublicam!« (O Herr, gib Heil der Republik!), um schon am Tage darauf die heiligen Kehlen auf das: » Domine, salvum fac regem!« (O Herr, gib Heil dem Könige [Kaiser]!) (oder nach Umständen: » imperatorem!«) einzuüben.

Neulinge im Leben und in der Politik mögen das verwunderlich oder gar tadelnswert finden. Wissende Männer jedoch finden es begreiflich und verzeihlich. Denn wer kalten Blickes und nüchternen Gemüts unsere Zeit betrachtet und analysiert, muß erkennen, daß in ihr für die Republik kein Raum, und für eine entgötterte, nicht mehr denkende, sondern nur noch rechnende Gesellschaft die zukömmlichste Regierungsform ein »aufgeklärter« Despotismus ist, der von den Staatsangehörigen keine Bürgertugend, sondern nur Steuern fordert, und Sorge trägt, die Zügel nicht allzu scharf anzuziehen, d. h. nicht so scharf, daß die lieben Untertanen dadurch verhindert würden, das zeitgemäße Kredo: »Erwerb und Genuß!« zu bekennen und zu verwirklichen.

Es ist eine herbe, in dem Mund eines Republikaners gallebitter schmeckende Wahrheit, aber es ist eine Wahrheit: die Republik wird auf Erden stets in der Minderheit sein, – wie die Vernunft, wie die Erkenntnis, wie die Gerechtigkeit jederzeit in der Minderheit waren, sind und sein werden. Zuzeiten jedoch trägt es die Minderheit, weil bei ihr Geist und Begeisterung, Tatkraft und Opfermut sind, über die Mehrheit davon und überwältigt und bestimmt der reine Sonnenfeuerfunken im Menschen den gemeinen Erdenkloß. Das sind dann die großen Vorschrittsepochen der Menschheit, die Befreiungsfesttage und Völkerfrühlinge, deren periodische Wiederkehr im Weltgeschichtskalender verzeichnet steht.

Die republikanische Improvisation vom 24. Februar war unhaltbar. Schon deshalb, weil in den Augen der ungeheuren Mehrzahl der Franzosen die Republik nur das rote Gespenst von 1793 war. Hatte eine rastlose Geschichtsfälschung es doch glücklich dahingebracht, daß von den Überlieferungen der Revolution, ohne welche Europa noch heute bis an den Hals im Unflat des Mittelalters stecken würde, nur die Greuel der Schreckenszeit im Gedächtnis der Menge haften geblieben waren. Die Sieger hatten die Geschichte der Besiegten geschrieben und damit Glauben gefunden. Sie hatten auch emsig und erfolgreich sich bemüht, die Tatsachen vergessen zu machen, daß der rotrepublikanische Schrecken von 1793 durch den weißroyalistischen von 1794-1795 verdrängt worden war, und daß die Reaktion »für Thron und Altar«, welche sofort nach dem wirklichen Sterbetag der Republik, dem 9. Thermidor, wo Robespierre einer Koalition der ärgsten Blutmenschen, der lasterhaftesten Schufte, der schamlosesten Betrüger und Diebe mit den jämmerlichsten Zweiächslern erlegen war, die Provinzen Frankreichs zu durchrasen begann, Kannibalismen, massenhafte Kannibalismen in Szene setzte, welche die Septembermetzeleien von 1792, die »Mitrailladen« Collots und die »Noyaden« Carriers an Grausen fast noch überboten. Ja, überboten, weil sie nicht wie die erwähnten fluchwürdigen Abscheulichkeiten im Fieberwahnsinn der Revolution, sondern in der kalten Berechnung der »Moderation« begangen, ja häufig geradezu als Vergnügungsmittel und Lustpartien betrachtet und veranstaltet wurden. In Wahrheit, die thermidorische Reaktion von 1794 schlug, wie hier gelegentlich bemerkt sein mag, zu einer systematisch gegen die Republikaner organisierten und im gemeinsten Räuber- und Meuchelmörderstil durchgeführten Bluthochzeit aus, welche in nicht weniger als zehn Departements von Frankreich schandbar in Szene ging und in der Provence allein Tausende und wieder Tausende von Opfern schlachtete, ohne alle und jede Rechtsform und häufig unter den greulichsten Umständen. Denn es genügte den als Thermidorianer verkappten Royalisten das Guillotinieren und Füsilieren ihrer wehrlosen Gegner nicht, nein, sie unterwarfen sie auch dem Hungertode, begruben sie lebendig oder kreuzigten sie. Und, wohl zu merken! die Carriers der Revolution waren durch die Revolution selbst unerbittlich bestraft worden, die Carriers der Reaktion dagegen wurden durch die Reaktion amnestiert und sogar mit »Bürgerkronen« geschmückt Über diese Tatsachen, für welche die auf amtliche Zeugnisse gestützten Beweise beizubringen ich bereit bin – vgl. den Essay »Für Thron und Altar« – pflegen »korrekte« Historiker leicht hinwegzugehen, und in den Kompendien für Geschichtsunterricht werden sie wohl gar nicht erwähnt. Natürlich! Es gehört das mit zu dem System der Verleumdung und Verlästerung, dem man die Revolution unterworfen hat und fortwährend unterwirft, – die Revolution, die aller ihrer verdammlichen Mißgriffe, Ausschreitungen und nie genug zu brandmarkenden Verbrechen ungeachtet einer der großen Glückswürfe der Menschheit, eine der größten Förderungen gewesen ist, die dem Menschengeschlecht auf seiner dornenvollen Entwicklungsbahn zuteil geworden. …

Zugleich mit der Republik waren am 24. Februar republikanische »Staatsmänner« hervorgezaubert worden, Staatsmänner von der Sorte derjenigen, die etliche Wochen oder Monate später auch in Deutschland grassierten. Die Mitglieder der provisorischen Regierung vom Februar gehörten der überwiegenden Mehrheit nach jener Gattung von Menschen an, für die man den glücklichen Ausdruck »Bildungsphilister« erfunden hat. Die schwache Mehrheit bestand aus Anhängern der Sozialdemokratie. Alle zusammen waren ohne Frage redliche, aufrichtige Patrioten und wohl auch ohne Ausnahme dem republikanischen Glaubensbekenntnis ehrlich zugetan. Aber ebenso zweifellos ist, daß sie ihre Unfähigkeit, die Republik zu begründen, glänzend erwiesen haben. Die Aufgabe war freilich schwer, geradezu kolossal, und das erbarmungswerte Schauspiel, eine Riesenbürde auf die Schultern von Zwergen gelegt zu sehen, stellte sich hier wieder einmal recht deutlich dar.

Die provisorische Regierung konnte auf zweierlei Weise versuchen, mit ihrer Aufgabe fertig zu werden: indem sie die Idee und die Kraft der Revolution entweder nach außen wirken ließ oder aber den demokratischen Gedanken im Innern verwirklichte. Sie begriff und tat weder das eine noch das andere. Sie hatte, obgleich mit einer diktatorischen Macht bekleidet, weder den Mut, sich an die Spitze der europäischen Revolution zu stellen, noch den Verstand, in Frankreich selbst der Demokratie die Möglichkeit der Existenz zu sichern mittels Auflösung der stehenden Armee, mittels Dezentralisierung der Verwaltung, mittels Vernichtung der bureaukratischen Hierarchie und mittels unerbittlicher Entfernung aller royalistischen Ränkeschmiede von wichtigen Posten. Nichts von alledem! Statt der revolutionären Lavaströme, die die europäischen Machthaber im ersten Februarschrecken gefürchtet hatten, brachen aus dem à la Republik maskierten Frankreich nur die dünnen Zuckerwasserrieselungen Lamartinescher Friedensmanifeste hervor, und statt in Paris die angedeuteten Maßregeln einer praktischen Staatsreform entschlossen in die Hand zu nehmen, ließ man den Kommunismus seine närrischen Theorien predigen und den Sozialismus ebenso unzulängliche wie kostspielige Experimente machen.

Diese Predigten und Experimente brachten es der erschreckten Bourgeoisie – es gibt bekanntlich für dieses französische Wort schlechterdings kein dessen Sinn vollständig umfassendes und erschöpfendes deutsches – rasch zum Bewußtsein, welchen schnöden Undank sie begangen hatte, als sie ihren König Louis Philippe fallen ließ, – jenes unerreichte und unerreichbare Ideal eines Roi-Bourgeois (Bürgerkönig), der mit so viel Klugheit, Ausdauer und Erfolg für den dritten Stand gegenüber dem vierten eine Stellung geschaffen hatte, wie sie vordem im Ancien Régime der Noblesse gegenüber dem dritten gesichert gewesen war. Die französische Bourgeoisie als solche hatte zweifelsohne schwer gesündigt, als sie sich durch den Anblick des jammerseligen Sesselkriegs, den die Thiers, Molé, Guizot, Barrot und andere Minister seit Jahren geführt, sowie durch das gelegentliche Aufbersten einer Korruptionseiterbeule des Bürgerkönigtums zu einem solchen Grade »sittlicher Entrüstung« hinaufsteigern ließ, daß sie nicht allein: » Vive la réforme!« rief, sondern sogar so weit sich vergaß, bei der Taufe des illegitimen Kindes, das Madame La France am 24. Februar unerwartet zur Welt brachte, sozusagen zu Gevatter zu stehen. Es ist aber nur gerecht anzuerkennen, daß die Sünderin Bourgeoisie sich beeilte, Reu' und Leid zu tragen. Ferner muß man ihr zugestehen, daß sie ihre reuevolle Sehnsucht, zu den Fleischtöpfen der Monarchie und des Friedenszustandes um jeden Preis zurückzukehren, auch tatsächlich bekundete durch die Rührigkeit, womit sie behufs der Leitung der Wahlen zur Nationalversammlung als Bundesgenossin des Klerus sich umtat. Mit der Geistlichkeit verbunden, gelang es ihr dann in der Tat, die Wahlen in den Provinzen erdrückend überwiegend in ihrem Sinne ausfallen zu machen, d. h. im Sinne der royalistischen Reaktion.

Für Leute, die des »ideologischen« Glaubens leben, daß es in der Politik Moral, Aufrichtigkeit und Treue geben sollte, mußte es ein seltsames Schauspiel sein, die am 4. Mai 1848 eröffnete französische Nationalversammlung zu betrachten, welche, während der Republikanismus nur durch eine schwache Minderheit in ihr vertreten war, daran ging, für Frankreich eine republikanische Verfassung zu machen. Diese Versammlung hatte große Ähnlichkeit mit dem wenige Tage darauf in Schwatztätigkeit gesetzten deutschen Parlament kläglichen Andenkens, insofern die Mehrheit desselben in der bestimmten Absicht nach Frankfurt kam, auf der parlamentarischen Bühne heftig zu gestikulieren und zu schwatzen, um dadurch die Aufmerksamkeit eines vertrauensseligen Publikums von dem abzulenken, was inzwischen hinter den Kulissen vorging. In Paris durfte sich jedoch die reaktionäre Unverschämtheit nicht von vornherein so breitmachen wie in Frankfurt, da dort zu dieser Zeit das Volk oder, wie Thiers sich ausdrückte, » la vile multitude« (die niedrige Menge) noch in Waffen und auf Posten stand. Die Junischlacht war ja noch nicht geschlagen.

Sie wurde aber emsig vorbereitet, diese Schlacht, so recht vorbereitet von seiten der Orleanisten, Legitimisten, Bonapartisten und sonstigen Jesuiten, aus denen die Mehrheit der Nationalversammlung bestand. Diese Mehrheit fand einen wie eigens für sie gemachten Gimpel in der Person des Generals Cavaignac, eines Mannes, welcher über einer Brust ohne Gefühl einen hagebüchenen Kopf trug, aber gerade so viel militärische Routine besaß, als zur Lösung der ihm gestellten Aufgabe nötig war. Es ist bekannt, daß man den Ausbruch der Juniinsurrektion mit leichter Mühe hätte verhindern können. Aber man unterließ es, weil man, wie man mit zynischer Offenheit gestand, »mit der Demokratie ein für allemal ein Ende machen wollte«. Man provozierte den Aufstand, man zog ihn förmlich groß durch List und Gewalt, durch Polizeikünste wie durch brutale Drohungen und Handlungen. Zu letzteren gehörte insbesondere das plötzliche und barsche Vorgehen gegen die unseligen »Nationalwerkstätten«, ein Vorgehen, das so, wie die Umstände lagen, nichts anderes war als eine höhnisch an das hungernde Arbeitervolk ergangene Herausforderung. Bekannt ist auch, daß Cavaignac und seine Auftraggeber dem Barrikadenbau und den übrigen Vorbereitungen der Insurgenten mit verschränkten Armen zusahen. Was kümmerte es diese Fanatiker der Ruhe und Ordnung, daß dadurch Tausende und wieder Tausende von Menschenleben hüben und drüben aufs Spiel gesetzt wurden? Weniger bekannt dagegen, weil verschwiegen von den Siegern, ist, daß die zwei beklagenswertesten Episoden des furchtbaren Junikampfes nicht der insurrektionellen Demokratie auf Rechnung zu setzen sind. Denn des Erzbischofs Affre Todeswunde rührte von der Kugel eines Soldaten her, und der General Bréa wurde höchstwahrscheinlich auf Anstiften eines notorischen bonapartistischen Agenten, namens Lahr, ermordet, wie denn überhaupt an der Inszenesetzung des Junigreuels der Bonapartismus emsig mitgearbeitet hat. Weniger bekannt ist auch, daß die unbedingte Gewalt, die die Aufständischen mehrere Tage lang in verschiedenen Stadtvierteln in Händen hatten, keineswegs zu »Raub und Plünderung« benutzt, sondern daß das Eigentum streng von ihnen geachtet wurde. Weniger bekannt ist endlich, und zwar aus naheliegenden Gründen, daß kaum jemals zuvor von Siegern gegen Besiegte so barbarisch gewütet worden ist, wie von den Junisiegern gegen die Unterlegenen. Die haarsträubenden und massenhaften Grausamkeiten, die die Verteidiger der Ruhe und Ordnung an den Gefangenen verübten, dürfen sich mit allem messen, was der rote und der weiße Schrecken der großen Revolution derartiges aufzuweisen hatte.

Man muß jedoch, um gerecht zu sein, sagen, daß es nur die Grausamkeit der Angst gewesen ist – bekanntlich von allen Arten von Grausamkeit die erbarmungsloseste – die die siegreiche Bourgeoisie also gegen das besiegte Proletariat wüten machte. Wer sich der blassen Furcht und der aus ihr hervorgehenden zappelnden Wut erinnert, in die die bombastischen Deklamationsübungen von einem Halbdutzend obskurer Kommunisten im Jahre 1848 die »intelligenten und besitzenden Klassen« in Deutschland zu versetzen vermochte, der wird sich nicht wundern, daß die Pariser Bourgeoisie im Juni des genannten Jahres alles Ernstes den Leitern der royalistischen Reaktion glaubte, wenn diese im Stil der Klagelieder Jeremiä versicherten, der kommunistische Weltuntergang stände unmittelbar vor der Tür. Was in Frankreich seit 1830 im Fache des sozialistischen und kommunistischen Phrasenmachens geschehen war, konnte diesem großen Schreckmittel der Rückschrittler allerdings einen kräftigen Anstrich von Wahrscheinlichkeit geben. Aber hätte nicht die ewig denkwürdige, wahrhaft glorreiche Milde und Mäßigung, die das siegreiche Volk in den Februartagen bewiesen, hätte nicht der erhabene Duldermut, womit es seit dem Februar monatelang eine erdrückende Last von Hunger und Elend getragen hatte, jene Lüge entlarven sollen und die französischen Bourgeois überzeugen können, daß die Arbeiter keineswegs nur »auf Raub und Mord sinnende Barbaren« seien, »moderne Vandalen«, welche »alles Hohe und Heilige unter ihre Füße treten« und »die Gesellschaft in den Abgrund einer blutrasenden Anarchie« stürzen wollten; sondern eben nur arme, hungernde Menschen, welche im Jahre 1848 von der Bourgeoisie gerade das nämliche forderten, was diese im Jahre 1789 von den damals bevorrechteten Ständen gefordert hatte: das Recht auf eine menschliche Existenz. Aber die Furcht schlägt blind zu, und so schlug sie zu in der gräßlichen Junischlacht und nach dem Siege, – schlug so zu, daß Männer von Herz kaum sich enthalten konnten, mit einzustimmen, wenn die massenhaften Opfer des Junisieges, die ohne Prozeß und Urteil in den Gefängnissen, auf den Deportationsschiffen und in den Fiebersümpfen von Cayenne dem Tode überliefert wurden, veratmend beteten: »Mag aus unsern Gebeinen dereinst uns erstehen ein Rächer!« Und dieses Gebet ist nicht unerhört geblieben. Schon drei Jahre und etliche Monate nach der »Gesellschaftsrettung« durch die Bourgeoisie war ja abermals eine »Gesellschaftsrettung« nötig, und zwar diesmal durch die Despotie und auf Kosten der Junisieger. Das ist eine große Wahrheit und eine ernste Warnung. Aber wozu nützt es, derartige Wahrheiten und Warnungen auszusprechen, als daß im Futter der Lüge und Knechtseligkeit stehende Möpse wütend sie ankläffen? …

Daß die Mehrheit der französischen Nationalversammlung schon im Hochsommer und Herbst 1848 gern zur Wiederherstellung des Königtums geschritten wäre, ist unzweifelhaft gewiß. Allein die Royalisten lagen ja untereinander im bittersten Hader in betreff des zu kürenden Thronkandidaten. Sollte es der Graf von Paris oder der Graf von Chambord oder der Prinz Louis Bonaparte sein? Denn der Bonapartismus begann zu dieser Zeit mit dem Orleanismus und Bourbonismus bereits in offene Konkurrenz zu treten. Sodann mußten Versuche, zur Monarchie zurückzukehren, zu dieser Zeit auch deshalb noch als verfrüht erscheinen, weil ein nicht verächtlicher Bruchteil der französischen Bourgeoisie in der Tat republikanisch gestimmt war und weil, was das wichtigste, der Diktator Cavaignac, den man nicht so kurzweg beseitigen konnte oder wollte, sich einbildete, ein Republikaner zu sein, und das Zeug zu haben – er, der Junischlächter! – einen »französischen Washington« vorzustellen.

Ein französischer Washington? Schon in dieser Vorstellung trat die Holzköpfigkeit des Generals zutage, dessen Regiment denn auch bekanntlich das der vollendeten Unfähigkeit gewesen ist. Cavaignac und seine Bastide, Goudchaux und die übrigen Mitmittelmäßigkeiten haben die Republik Schritt für Schritt zugrunde gerichtet, als ob sie eigens dazu bestellt gewesen wären. Im Innern der royalistischen Reaktion, deren Hampelmann er war, jeden verlangten Vorschub leistend, hat Cavaignac nach außen überall gegen die Völker und für die Despoten Partei genommen, wie das gar nicht anders möglich war, da seine innere Politik die auswärtige bedingte und bestimmte. Der General, dessen Begabung zu seinem Ehrgeiz in gar keinem Verhältnis stand, nahm die ihm von seiten der legitimistischen und orleanistischen Rückschrittler vorgegaukelte Täuschung, daß sie das wollten, was er die »honette« Republik nannte, für bare Münze, und da er sich in den Holzkopf gesetzt hatte, das Oberhaupt oder, mit ihm selber zu sprechen, der »Washington« dieser honetten Republik zu werden, so mußte er natürlich nicht nur den Honetten zu Gefallen leben, sondern auch den Heiligen, d. h. der Geistlichkeit. Daher die Beeiferung der Cavaignacschen Kameradschaft, jene berüchtigte »römische Expedition« vorzubereiten, welche, später ausgeführt – denn Caviagnac hatte nicht mehr Zeit, sie selber auszuführen – in Rom das päpstliche Regiment wiederherstellte, das päpstliche Regiment, von dem fromme Menschen im Hochsinne des Worts, falls es solche gäbe, von Rechts wegen sagen müßten, Gott habe es in seinem Zorn geschaffen und in seiner Weisheit geduldet, um ein abschreckendes Exempel zu statuieren, wie die Völker nicht regiert werden sollten.

Inzwischen war die »honette« Republik verfassungsmäßig festgestellt worden und alle die Honetten hatten die Finger zum Treuschwur auf die republikanische Verfassung aufgehoben, dieselben Finger, an denen noch Spuren der Tinte klebten, womit sie soeben nach Claremont an die Orleans oder nach Frohsdorf an Henry Hinkebein die Versicherungen ihrer »unwandelbaren« Treue berichtet hatten. Aber die guten und klugen Herren hatten, um die »Honettität« ihrer Zwischenrepublik zu einer vollständigen zu machen und die Wahl ihres teuren Junigenerals zum Präsidenten zu sichern, etwas vergessen: die Tilgung des allgemeinen Stimmrechts. Dieses spielte ihnen den höchst unerwarteten und fatalen Possen, anders zu wählen, als die Honettität wollte und wünschte. Eine große Anzahl von Bourgeois desertierte aus dem Lager der honetten Republik, aus brennendem Haß selbst gegen den blassen Schein von Republik und Demokratie. Auch sein Frommtun half dem General Cavaignac nicht zur Präsidentschaft, weil die Geistlichkeit von anderer, d. h. von bonapartistischer Seite her viel weiter gehende Versicherungen erhalten hatte. Was die Arbeiter betrifft, so hätten sie begreiflicherweise im Notfall lieber für den Zaren Nikolaus gestimmt als für den Junischlächter. Der Liberalismus fiel in das Netz, an dem er seit dem Jahre 1815 eifrig gewoben hatte. Denn war es nicht eine liberale Machenschaft gewesen, den selbstsüchtigsten und erbarmungslosesten aller Despoten, den Napoleon, zu einer Art von liberalem Halb- oder Ganzgott umzulügen, um damit den Bourbons einen Schabernack zu spielen? Hatten nicht Leute wie Béranger und Thiers all ihr Talent darauf verwandt, einen förmlichen Kultus des Imperialismus zu begründen? Nun wohl, im Dezember 1848 sagten die Bauern Frankreichs in heiliger Einfalt und die Arbeiter in der Verzweiflung des Hasses Ja und Amen zu dem von den Liberalen aufgepäppelten Napoleonismus. Der »Neffe des Kaisers« wurde mit 5 434 226 von 7 324 672 Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt.

2.

Am 20. Dezember 1848 erschien in der französischen Nationalversammlung ein Mann von unansehnlichem Wuchse, blassem Antlitz und verlebten Zügen, ausgestattet mit einer großen Papageischnabelnase, einem blondlichen Schnauz- und Kinnbart und umflorten Augen, die aber doch nicht ganz jenes metallischen Glanzes entbehrten, der den Augen von Menschen eigen zu sein pflegt, die entschlossen auf ihr Ziel losgehen.

Das war das Staatsoberhaupt, das Frankreich kraft des allgemeinen Stimmrechts für vier Jahre sich gegeben hatte, vom heutigen Tag an bis zum zweiten Sonntag im Mai 1852. Nachdem der Vorsitzende der Nationalversammlung, Marrast, den Präsidenten proklamiert hatte, sprach er ihm verfassungsgemäß diese Eidesformel vor: »Im Angesicht Gottes und des französischen Volkes schwöre ich, der einen und unteilbaren demokratischen Republik treu zu bleiben und alle Pflichten zu erfüllen, welche die Verfassung mir auferlegt.« »Ich schwöre es!« beteuerte feierlich der Präsident. Worauf Marrast: »Wir nehmen Gott und Menschen zu Zeugen des geschworenen Eides!« Aber als genügte dieser dem neuen Präsidenten noch nicht, erbat er sich das Wort, bestieg die Rednerbühne, zog ein Blatt Papier hervor und las »mit seinem ausländischen Akzent« ( avec son accent étranger) folgendes: »Das Votum der Nation und der soeben von mir geschworene Eid bestimmen mein Verhalten. Meine Pflicht ist mir vorgezeichnet: ich werde sie als Ehrenmann erfüllen ( je le remplirai en homme d'honneur). Ich werde für Feinde des Vaterlandes ansehen alle diejenigen, die versuchen sollten, auf ungesetzlichem Wege das zu ändern, was das ganze Frankreich angeordnet hat« … Augen- und Ohrenzeugen dieser Beteuerung ist es aufgefallen, daß der Beteuerer mit leiser und dumpfer Stimme sprach und daß Düsternis sein Antlitz beschattete.

Wer war dieser Mann?

Ein Sohn der Hortense Fanny de Beauharnais, was unbestritten, und des gewesenen Titularkönigs von Holland Louis Bonaparte, was sehr bestritten ist. Dieselben Menschen nämlich, welche in dem Charles Louis Bonaparte (geboren am 20. April 1808 in Paris) vom 2. Dezember 1851 an den »Retter Europas, der Gesellschaft und der Zivilisation« verehrten, dieselben Verehrer, die ihm mit Kniebeugungen huldigten und ihm ganze Wolken von Weihrauch ins Gesicht bliesen, zischelten einander zur gleichen Zeit geschäftig in die Ohren, daß der »große Mann« von Rechts wegen oder wenigstens von Natur wegen eigentlich Verhuell hieße, weil der holländische Admiral dieses Namens sein wirklicher Vater, und daß im Geheimarchiv im Haag eine Urkunde existiere oder doch existiert habe, kraft welcher der Gemahl Hortensens gegen die ihm angesonnene Vaterschaft in bezug auf den dritten Sohn seiner Frau feierlichen Protest erhoben hätte. Die amtlich zurechtgemachte Historik weiß offiziell nichts von dem erwähnten Protest, wohl aber, daß Napoleon den dritten Sohn seiner Stieftochter förmlich und feierlich als seinen Neffen und als kaiserlichen Prinzen anerkannt habe. Diese Legitimitätserklärung von seiten Napoleons I. ist die Grundlage geworden, auf der Napoleon III. seinen Kaiserthron erbaut hat.

Die Aufrichtung dieses Kaiserthrons, die Wiederherstellung des Empire war von Kindheit an der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte gewesen. Die Kaiserschaft war ihm in Wahrheit zu einer fixen Idee geworden. Die ersten Anläufe zur Verwirklichung dieser Idee fielen bekanntlich ganz knäbisch und kläglich aus. Alle Welt hat über das Abenteuer von Straßburg (1836) und über das ebenbürtige von Boulogne (1840) gelacht. Aber wer zuletzt lachte, war der Ausgelachte von Straßburg und Boulogne, und daß er zuletzt lachen konnte, gibt unwiderlegbares Zeugnis, wie ein unwandelbar festgehaltenes Prinzip über alles und jedes zu triumphieren vermag, selbst über etwas, was wenigstens früher in Frankreich für unüberwindlich galt, über die Lächerlichkeit. Die lächerlich ausgefallenen Attentate von 1836 und 1840 hatten doch die Fahne des Bonapartismus in Frankreich wieder aufgepflanzt und dank dem zur Restaurationszeit (1816-1830) vom Liberalismus in seiner Kurzsichtigkeit erfundenen und gepflegten Napoleonkult flatterte die Fahne lustig weiter. Unmittelbar nach der Februarrevolution sahen Republikaner, Orleanisten, Bourbonisten und Ultramontane mit gleicher Überraschung, daß eine bonapartistische Partei vorhanden war, zahlreich, gut organisiert, rührig und entschlossen. Nach neun Monaten hatte diese Partei über alle die andern den Sieg davongetragen, und Monsieur Jean Gilbert Viktor Fialin, aus eigener Machtvollkommenheit erst Sieur de Persigny und dann von Napoleons Gnaden Herzog von Persigny, der ergebene Schatten »seines« Prinzen, konnte in den letzten Tagen von 1848, in seiner brillanten Uniform als Adjutant des »Prinzpräsidenten« in den Straßen von Paris flanierend, jedem, der es hören wollte, ungeniert laut zurufen: »Hab' ich's nicht seit fünfzehn Jahren gesagt? Mein Prinz wird Kaiser und ich werde sein Minister!« Am 18. Mai desselben Jahres 1848 hatte derselbe Monsieur Fialin in einem offenen Schreiben, worin er sich den Wählern im Departement der Loire als Kandidaten zur Nationalversammlung empfahl, gesagt: »Ich bin und werde sein ein aufrichtiger und treuer Republikaner« …

Der Liberalismus und die Demokratie begingen in ihrer Torheit den ungeheuren, schon so oft von ihnen begangenen Fehler, ihren Feind geringzuschätzen und in dem Luftschiff der Phrase über unbequeme Tatsachen hinwegzusegeln. Sie glaubten oder taten so, als glaubten sie, daß ein Mann, der von der fixen Kaiseridee besessen war, durch einen »im Angesicht Gottes und des französischen Volkes« geschworenen Eid sich gebunden erachten würde. Sie wollten in Louis Bonaparte schlechterdings nur die »lächerliche Figur« vom Finkmattkasernenhof zu Straßburg und vom Strande von Boulogne sehen, und während die Royalisten in ihm ein gefügiges Werkzeug ihrer Pläne zu finden erwarteten, gingen die Republikaner so weit, den »Monsieur Verhuell« als einen »Narren« oder auch als einen »Idioten« zu bezeichnen. Wunderlicherweise haben viele Demokraten diesen Idiotenmythus auch nach der furchtbaren Niederlage, die der angebliche Idiot der Demokratie beigebracht, immer noch festgehalten, nicht bedenkend, daß sie damit ihrer eigenen Partei das schneidendste Armutszeugnis ausstellten.

Der Zufall der Geburt tut nicht gerade alles, aber vieles, ja das meiste für den Menschen. Hätte der Genius Goethes statt unter dem behäbigen Dache eines Frankfurter Ratsherrnhauses in der Schmutzhütte eines Mecklenburger Tagelöhners Menschengestalt angenommen, die Welt würde keinen Faust und keine Iphigenie gesehen haben. Wäre der Prinz Louis Ferdinand von Preußen nicht an den Stufen eines Thrones geboren worden, so hätte er, statt nur ein liederlicher Prinz zu werden, ein großer Mann werden können. Der Zufall hatte dem Sohne der Hortense Beauharnais den Namen Bonaparte neben die Wiege gelegt, und dieser Name wurde das Talent, womit er wucherte. Er glaubte sich dazu vorherbestimmt, über seinem Haupte des »Onkels« untergegangenen Stern wieder aufgehen zu sehen, und dieser Schicksalsglaube erwies sich auch als schicksalsmächtig. Zumal der Neffe von frühauf des Onkels Wahlspruch: »Der Erfolg rechtfertigt alles!« sich eingeprägt hatte und standhaft befolgte. Und warum hätte er das nicht tun sollen? Wer wollte denn bestreiten, daß in dieser unserer Welt, wie sie nun einmal ist und der Hauptsache nach immer sein wird, der Erfolg in der Tat »alles« rechtfertigt? Der junge Louis, von seiner Mutter mit den ehr- und herrschsüchtigen Traditionen des Napoleonismus großgenährt, hatte ja während seiner auf dem Arenenberg idyllisch verlebten Jünglingsjahre hinlängliche Muße, über die Tatsache nachzudenken, daß die Mächtigen der Erde die Füße des Verschwörers und Gewalttäters vom 18. Brumaire umkrochen hatten, wie Hunde die Füße des Löwen umkriechen, solange der »Allesrechtfertiger«, der Erfolg, dem Schlachtendonnerer treu geblieben war.

Im übrigen lernte der junge Träger der » Idées napoléoniennes« in der Schweiz noch anderes, was sonst Prinzen, in die Serails eingemauert und möglichst vom »gemeinen Dasein« abgesperrt, in der Dressur alleruntertänigster Hofmeister nicht lernen. Nämlich einen sehenden Blick tun in des Lebens Bedingungen und Bedürfnisse, Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Eine selbständige Tätigkeit, ein wirkliches Arbeiten seines Geistes begann jedoch erst in der Gefängniszelle von Ham. Er hat dort, wie bekannt, einen schriftstellerischen Versuch gemacht, den »Napoleonischen Ideen« ein sozialistisches Modegewand anzuziehen. Ein Häuptling der sozialistischen Sekten, Louis Blanc, der den Prinzen auf dessen Bitte in Ham besuchte, erzählt, der Gefangene habe sich für das allgemeine Stimmrecht ausgesprochen, die Republik dagegen für »unmöglich« erklärt. In diesem Sinne schrieb der Prinz am 24. Januar 1845 von Ham aus auch an den Dichter der sozialdemokratischen Republik, Frau Aurore Dudevant (George Sand): – »Ich strebe nach Freiheit, ja nach Macht, doch wollte ich lieber im Gefängnisse sterben als durch eine Lüge mich noch so hoch aufschwingen. Ich bin kein Republikaner, weil ich nicht glaube, daß sich eine Republik in dieser Zeit angesichts des monarchischen Europas und so vieler Parteien halten könnte« … Die Hauptarbeit des Prinzen während seiner Gefangenschaft zu Ham war, wie stark zu vermuten steht, das Studium von Machiavellis » Principe«, dessen Inhalt er sich vollständig zu eigen machte, – so sehr, daß nachmals der Staatsstreich vom 2. Dezember nur eine höchst gelungene Übersetzung der Quintessenz des »Buches vom Fürsten« in französische Wirklichkeit war. Was aber zur Vollendung der politischen Erziehung und Bildung des Prinzen etwa noch fehlte, das erwarb er sich nach seiner Flucht aus Ham drüben in England, welches Land ja die Hochschule der Heuchelei ist, und im Verkehr mit der englischen Oligarchiekaste, die den Hochmut Satans mit der Gleisnerei Adramelechs und mit der Steinherzigkeit Molochs so schön zu verbinden und dieses höllische Konglomerat mit orthodox-christgläubigen Phrasen »fromm« zu übersalben versteht.

3.

Die Volksabstimmung vom 10. Dezember 1848 hat den Beweis geliefert, daß Louis Bonaparte schon damals den Versuch machen konnte, vom rasch abgestandenen Freiheitsbaum der Republik die Kaiserbirne zu schütteln. Aber als Bekenner der Erfolgreligion ohnehin nicht der Mann, den Erfolg durch ungeduldiges Gebaren zu gefährden, hatte er ausreichende Gründe für das Zu- und Abwarten. Politische und finanzielle Gründe. Erstens war es geraten, die alten Parteien, namentlich in der Nationalversammlung, durch ihre Unfähigkeit oder Schwäche, ihre gegenseitige Feindseligkeit oder ihren Verrat an der Republik, ihr impotentes Wollen oder ihr volksfeindliches Tun vollständig sich zerbröckeln, aufreiben und verbrauchen zu lassen. Zweitens erforderten die Vorbereitungen zum Staatsstreiche Geld, viel Geld, und der Prinzpräsident, welcher beim einheimischen Kapital keinen ausgiebigen Kredit hatte, mußte sich erst von außen her die nötigen Summen verschaffen.

In beiden Richtungen hatte er Erfolg. Wenn dereinst die Zeit gekommen und die Möglichkeit gegeben ist, die Geschichte des Dezemberputsches vollständig zu enthüllen, so dürfte es sich herausstellen, daß die Bewohner eines der damaligen drei Dutzende deutscher Vaterländer die Ehre hatten, mittelbar nicht unbedeutend zu besagter »Gesellschaftsrettung« beizutragen, da die zur Vorbereitung des Unternehmens nötigen Gelder leihweise aus der Kasse eines deutschen Fürsten geflossen sein sollen. Was die »alten Parteien« betrifft, so lösten sie die ihnen vom Bonapartismus gestellte Aufgabe, als wäre es eine echte und rechte »Preisaufgabe« für sie gewesen. Das kleine Häuflein von Republikanern in der Nationalversammlung, das die übrigens handgreiflichen Absichten und Pläne des Prinzen von Anfang an durchschaute, zappelte sich vergeblich ab, die Republik aufrechtzuerhalten. Stück für Stück wurde diese von der royalistischen Mehrheit zerstört, mit einer Perfidie, der allenfalls nur die dabei entfaltete Torheit gleichkam. Diese Leute hatten gar keine Ahnung, für wen sie eigentlich arbeiteten. Glaubten sie doch in ihrer Verblendung und Schlechtigkeit, in Louis Bonaparte ein gefügiges Werkzeug für ihre royalistisch-hierarchischen Verrätereien gefunden zu haben, ein nach getanem Dienst leicht zu beseitigendes Werkzeug. Und doch zeigte er gleich seinem ersten, aus der parlamentarischen Majorität genommenen Ministerium – einem Ministerium, in welchem in den Personen von Odilon, Barrot, Faucher und Falloux die liberale Phraseologie, das malthusische Protzentum und die freche Jesuiterei sich verkörperten – daß er die Minister der Republik durchaus nur als seine Kommis betrachtete. Im übrigen spielte er seine Rolle meisterhaft, nur Schwachköpfe können das leugnen, Er wußte das ganze Odium einer von Tag zu Tag entschiedener gehandhabten Reaktion der Volksvertretung zuzuschaufeln und sich selber im Lichte eines verfassungsgetreuen Magistrats erscheinen zu lassen. Natürlich war es nur eine »jugendlich-törichte Schwärmerei« gewesen, wenn er im Jahre 1845 an George Sand geschrieben hatte, daß er »lieber im Gefängnisse sterben als durch eine Lüge sich noch so hoch aufschwingen wollte«. Denn während er jetzt mit der einen Hand an dem Gewebe des Staatsstreichs wob, schrieb er, wohl wissend, daß die Welt betrogen sein will, mit der andern offizielle Versicherungen seiner Treue gegen die Republik nieder. So in seiner Präsidentschaftsbotschaft vom 31. Dezember 1849, wo er sagte: »Ich will des Vertrauens der Nation würdig sein, indem ich die Verfassung, welche ich beschworen habe, aufrechterhalte.« So noch ausdrucksvoller in seiner Präsidentschaftsbotschaft vom 12. November 1850, wo er sich also vernehmen ließ: »Ich habe bei jeder Gelegenheit erklärt, daß ich alle, welche die Festigkeit unserer Zustände, wie sie durch die Verfassung gewährleistet ist, gefährden wollten, für große Verbrecher ansehen würde. Die unabänderliche Regel meines politischen Verhaltens wird sein, unter allen Umständen meine Pflicht zu tun und nichts als meine Pflicht. Es ist jedermann, nur mich ausgenommen, erlaubt, eine beschleunigte Revision unseres Staatsgrundgesetzes zu wünschen, und falls die Verfassung Mängel und Gefahren in sich schließen sollte, so habt ihr ja (Mitglieder der Nationalversammlung) ganz freie Hand, sie von diesen Mängeln und Gefahren zu reinigen. Ich allein, gebunden durch meinen Eid, halte mich streng innerhalb der Schranken, welche die Konstitution mir vorgezeichnet hat.«

Worte sind dem Menschen bekanntlich gegeben, um seine Gedanken zu verbergen. Indessen hieße es dem Prinzen unrecht tun, wenn man sagte, er hätte seine Gedanken verborgen. Schon der Stil, in welchem er im Palais Elysée seinen Hof hielt, mußte jeden, der sehen wollte, überzeugen, daß bei erster Gelegenheit der Kaiserschmetterling aus der Präsidentenpuppe schlüpfen würde. Auch schrie ja eine durch systematische Bonaparteisierung zu Prätorianern hergerichtete Soldateska in Kasernen und Lagern von Tag zu Tag lauter ihr » Vive l'empereur!« und stiegen die Gebete der Pfaffen für den »von Gott zum Retter und Herrscher Frankreichs auserwählten Wiederhersteller des Stuhles Petri« von Tag zu Tag inbrünstiger zum Himmel empor. Die ihm vom Holzkopf Cavaignac hinterlassene Erbschaft der römischen Expedition hatte Louis Bonaparte in der Tat vortrefflich zu verwerten gewußt. Indem er nach der Hinschlachtung der römischen Republik den Statthalter Christi durch Blutlachen und über Trümmer in den Vatikan zurückführen ließ, gab er der hochwürdigen Geistlichkeit – und zwar innerhalb und außerhalb Frankreichs – ein vollwichtiges Pfand seiner Rechtgläubigkeit und beglaubigte sich zugleich bei dem Absolutismus auf den Thronen Europas als einen Ebenbürtigen.

Unterdessen kam das Ende des Jahres 1851 näher und damit für den Prinzen die Notwendigkeit, zur Führung des Hauptschlags auszuholen. Wir sagen mit Bedacht die »Notwendigkeit«. Denn für einen Mann, der von Kindheit auf den napoleonischen »Stern« über seinem Haupte glänzen gesehen hatte, war es geradezu undenkbar, beim herannahenden Schlußtermin seiner Präsidentschaft, die verfassungsmäßig nicht erneuert werden durfte, wiederum dahin zurückzukehren, woher er gekommen, in die Stellung eines Prinzen ohne Land und Leute, in ein Dasein, das mit dem eines Abenteurers die bedenklichste Ähnlichkeit um so mehr haben mußte, als die Art und Weise, in der der Prinz die Führung der republikanischen Staatsoberhauptschaft verstanden, seine Geldmittel völlig erschöpft hatte. In Wahrheit, die Zukunft des Expräsidenten hieß Not und Armut und Schuldturm, und er war nicht der Mann, einer solchen Zukunft sich zu unterwerfen. Über die Region, wo es eine »bürgerliche« Moral und demzufolge Skrupel und Gewissensbedenken gibt, schon von Geburts wegen erhaben, konnte übrigens der Prinz – eine unbefangene Anschauungsweise muß das einräumen – zugunsten seines Vorhabens auch das vieldeutige Ding anführen, das man »Staatsräson« zu nennen pflegt. In Wahrheit, wenn Louis Bonaparte auf die Leute blickte, die ihm den Besitz der Macht streitig machen wollten, auf diese Parlamentshanswurste, auf diese saft- und kraftlosen Doktrinäre und »honetten« Republikanernichtstuer, auf diese mit Claremont oder mit Frohsdorf konspirierenden »Staatsmänner«, endlich auf die Generale des Parlamentarismus, auf die Cavaignac, Changarnier, Lamoricière, Bedeau und wie sie alle hießen, – ja, wenn Louis Bonaparte auf diesen Mischmasch von Unzulänglichkeit, Zweiächselei und Selbstüberschätzung hinsah, durfte er sich kecklich sagen, daß er mindestens ebenso berufen sei, Frankreich zu regieren, wie alle diese Leute, und daß, da bei der krassen Unkultur der Massen und bei der Feigheit, Angst, Selbstsucht und Verräterei der besitzenden und gebildeten Klassen der Fortbestand der Republik eine Unmöglichkeit, der Bonapartismus gerade so viel Recht habe, seine Wiederherstellung zu versuchen, wie der Bourbonismus und der Orleanismus. Mehr sogar, unendlich viel mehr. Denn wie immer man die Volksabstimmung vom 10. Dezember 1848 ansehen mag, das wird kein Mann von gesundem Menschenverstand bestreiten wollen, daß sie doch einen besseren Rechtstitel abgab als die fremden Bajonette, welche 1814 und 1815 die Bourbons nach Frankreich zurückgeführt, und als das Votum einer Handvoll Advokaten, Literaten, Bureaukraten und Bankokraten, welche Anno 1830 den Orleans auf den Thron erhoben hatten. Freilich, für »Ideologen« mußte das wüste Schauspiel des » Ruere in servitium« (sich in Knechtschaft stürzen), welches die Franzosen wieder einmal aufführten, sehr betrübend sein. Die Augen von Geschichtskennern jedoch sind mit diesem Schauspiel so vertraut, daß sie es ganz in Ordnung finden.

Der Bonapartismus triumphierte über den Republikanismus, Bourbonismus und Orleanismus, weil er den Grundsatz: »Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen« – mit jener vollendeten Rücksichtslosigkeit, wozu die Respektabilität und Honettität es niemals bringen werden, bekannte und – was die Hauptsache war – mit vollendeter Rücksichtslosigkeit auch betätigte. Wie, die arme bürgerliche Moral will, wenn vom 2. Dezember die Rede ist, sich erdreisten, von einem »Verbrechen« zu reden? Unverschämte »Ideologie«! Hat nicht ganz Europa, ein bekanntlich hochmoralisches England voran, die »Gesellschaftsrettung« mit Jubelschall begrüßt und mit Trompeten und Pauken in das Kredo der Pariser Dezemberblutmesse » Le succès justifie tout« (Der Erfolg rechtfertigt alles) eingestimmt?

4.

Sogar in unsern Tagen, in Tagen kalter Nüchternheit, werden die uralten und ewigjungen Zauberworte Freiheit und Vaterland in den Seelen begeisterter Jünglinge, wie hochherziger Männer und Frauen, noch immer einigen Widerhall finden. Noch immer gibt es in dieser karthagischen Zeit Menschen, welche »unpraktisch« genug sind, für ihre Überzeugungen, für die »unpraktischen« idealen Güter der Menschheit zu leben und zu sterben. Das sind aber »Ideologen«, wie man sie nicht brauchen kann bei Unternehmungen, die aus so »praktischen« Dingen wie Lug und Trug und Gewalt zusammengeschweißt werden müssen und, wenn siegreich, zwar vom vornehmen und geringen Pöbel, sowie von einer hochwürdigen Klerisei, als Gesellschaftsrettungen bejubelt, wenn aber besiegt, ebenso eifrig als Torheiten oder gar als Verbrechen verdammt werden. Auch die Matadore der »respektabeln« und »honetten« Politik, so fügsam und schmiegsam sie sonst nach oben sein mögen, passen nicht für derartige Unternehmungen. Denn erstens halten sie auf das Dekorum und zweitens lassen sie gern ihre Hände aus einem Spiel, wo es um Hals und Kragen geht. Ein Mann also, der sich zum »Gesellschaftsretter« berufen fühlt, wird schlechterdings genötigt sein, seine Helfershelfer und Werkzeuge außerhalb der »ideologischen« sowohl wie der »honetten« Kreise zu suchen. Er wird sie suchen müssen in der Region jener »katilinarischen Existenzen«, welche über alle »Katechismusskrupel« weit hinaus sind und kein anderes Ziel kennen, als beim Bankett des Lebens tüchtig mitzuschmausen, aber auch bereit sind, Hals und Kragen – anderes haben sie in der Regel nicht zu verlieren – einzusetzen, um einen guten Platz an der Bankettafel zu erobern.

Solche Verschwörer, zwischen den Schuldturm und besagte Banketttafel, zwischen das Schafott und den Thron in die Mitte gestellt, werden, wenn sie einmal ihre Wahl getroffen haben, vor nichts zurückbeben. Für sie gibt es kein Zurück, sondern nur ein Vorwärts. Sie wissen, daß zwischen Erfolg und Untergang kein Mittleres existiert, daß sie Sieger sein müssen, um nicht Verbrecher zu sein. Daher packen sie fest an mit ihren skrupellosen Händen, die ja lange schon gewohnt waren, in den Kloaken der Gesellschaft zu wühlen. Ja, mit Fäusten und Zähnen packen sie ihre Beute, und mit Stirnen von Bronze sagen sie zu ihr: »Halt still! Es soll dir kein Leid geschehen. Wir wollen dich nur verspeisen, was man jetzt retten nennt.« Aber so wunderlich, so widerspruchsvoll ist des Menschen Sinn und Art, daß ihm der hungrige Tiger, der hinter dem Busche hervor sich plötzlich auf den sorglosen Wanderer wirft, doch gewissermaßen imponiert. Denn dieses Imponierende haftet jedem entschlossenen Tun an. Kein Wunder daher, daß auch der nächtliche Mordschlag vom 2. Dezember einen gewissen Respekt einflößte. Man war überall in der Welt der ewigen Schwätzer so müde, daß jeder Handelnde schon als solcher ein günstiges Vorurteil erweckte.

Die vorragenden Mitglieder des Bonaparteschen Staatsstreichkomplotts waren zuvörderst die Herren Persigny, von Geburts wegen Filian, und Morny, von Geburts wegen Flahaut, da seine Mutter Hortense de Beauharnais, vermählte Louis Bonaparte, ihn dem Grafen Flahaut, Ordonnanzoffizier Napoleons I., im Jahre 1810 geboren hatte. Monsieur de Morny war also ein Halbbruder Napoleons III. Wie die genannten beiden Herren, haben auch andere Kompagnons der Gesellschaftsrettungsfirma nicht unter ihren eigenen und naturrechtlichen, sondern unter angenommenen Namen in der Geschichte erscheinen wollen, aus reiner Bescheidenheit vermutlich, und solche, welche ihre Namen nicht änderten, haben wenigstens ein adeliges » de« wie ein Feigenblatt der Verschämtheit davorgeklebt. So Herr Maupas, welcher mit den Herren Carlier, Rouher und Fleury zu den am zeitigsten und vollständigsten Eingeweihten gehörte. Herr Carlier wird mit großer Bestimmtheit als der ursprüngliche Planzeichner des Staatsstreiches genannt. Was Herrn Maupas betrifft, so hatte er in seiner Eigenschaft als Präfekt von Toulouse seine Staatsstreichsrittersporen verdient, indem er dort eine »Verschwörung« entdeckte und drei Präfekturräte als Mitglieder derselben verhaften ließ. Leider wußte ein ungeschickt-ehrlicher Staatsanwalt in die gesellschaftsretterlichen Vorübungstendenzen des Präfekten nicht recht einzugehen und fand nicht den Schatten eines Grundes zur Anklage gegen die Verhafteten. »Oh, seien Sie ganz ruhig«, sagte Monsieur de Maupas; »ich erwarte aus Paris einen sehr gewandten Polizeiagenten, der es schon zu machen wissen wird, daß man bei den Beschuldigten Waffen und gefüllte Granaten findet.« Der ungeschickte Staatsanwalt schlug beim Justizminister Lärm, und das Ende vom Liede war die Absetzung des allzu amtseifrigen Präfekten. In tiefster Seele gekränkt, eilte Herr de Maupas ins Elysée, schüttete sein Herz aus und wurde vollkommen verstanden. Kurz darauf ernannte der Prinzpräsident den zu Toulouse verkannten Edeln zum Polizeipräfekten von Paris. Solches erzählt man sich von den Antezedentien des Herrn de Maupas. Es sind diese und ähnliche Historien, wie wir wohl kaum zu bemerken nötig haben, natürlich nur Verleumdungen von seiten der »Unterwühler von Thron und Altar, der Umstürzler aller heiligen Ordnungen«. Im übrigen können wir des etwas unreinlichen Geschäfts, die Charakterskizzen der Katilinarier vom Dezember zu zeichnen, uns entschlagen. Hat doch der alte Sallust diese Arbeit schon vor neunzehn Jahrhunderten getan, und zwar ganz vortrefflich, unübertrefflich.

Die Hauptsache war selbstverständlich die Bonaparteisierung der bewaffneten Macht, der Armee, und man hatte gegen die Neige des Jahres 1851 in dieser Richtung prächtige Erfolge erzielt. Auf Unteroffiziere und Soldaten der in und um Paris liegenden Regimenter war mittels Wein- und Zigarrenspenden, mittels geschickter Beschmeichelungen, sowie mittels lockender Wiederbelebung der Napoleonischen Traditionen von Gloire, Beute und Avancement sehr glücklich gewirkt worden. Kamen dann noch in der Entscheidungsstunde hinzu, was man in der Malerei die »Drucker« nennt, wir meinen bare zehn oder mehr Franken auf den Mann und eine ausreichende Anzahl von Branntweinfässern, so war die Gesellschaftsrettung von dieser Seite her gesichert. Aber man mußte auch Generale und Stabsoffiziere haben, damit nicht etwa die Truppen im entscheidenden Augenblick aus Respekt vor der Disziplin dem Einfluß der parlamentarischen Generale, der Changarnier, Cavaignac, Leflô, Lamoricière usw. verfielen. Die genannten Herren zu gewinnen, war wenig oder gar keine Aussicht; denn jeder derselben trug sich ja ebenfalls mit dem stolzen Gedanken, in seiner Art Frankreich zu retten und zu beglücken, und sie waren daher als Konkurrenten des Prinzpräsidenten nicht zu Werkzeugen desselben geeignet. Man wußte sich aber zu helfen. »Wie wär' es«, warf der Prinz eines Tages hin, »wie wär' es, wenn wir Generale machten?« Ein großer Gedanke! Monsieur Fleury, ein Pariser Kaufmannssohn, welcher nach rascher Verschwendung des väterlichen Vermögens unter die Soldaten gegangen und jetzt ein »brillanter« Kavallerieoffizier war, machte den großen Gedanken zur Wirklichkeit. Der Prinz schickte den »Brillanten« nach Algier mit einem Auftrag, welcher »brillant« erfüllt wurde. Dieser Auftrag ging dahin: Generale, Oberste und andere Stabsoffiziere für den Bonapartismus anzuwerben; vorderhand auf Kredit, aber doch unter ganz bestimmten Zusicherungen von Generalsepauletten, Geld, Orden, Pensionen usw. Ein Monsieur P. Mayer, von den neuen Machthabern selbst zum offiziellen Historiographen des 2. Dezembers bestellt, hat das in seiner » Histoire de Deux Décembre« beschrieben. Von der Notwendigkeit, Frankreich zu retten, wurden »überzeugt« die Herren de Saint-Arnaud – eigentlich hieß er schlechtweg Leroy, hatte aber aus beweglichen Gründen diesen Namen an den Nagel gehängt –, de Cotte, Espinasse, Marulaz, Rochefort, Forey, d'Allonville, Gardarens de Boisse, de Lourmel, Herbillon, Dulac, Feray, Courtigis, Canrobert, Carrelet, Levasseur, Korte, Renaud, Reybell, Bourgon, Sauboul, Tartas und Ripert. Und keiner von allen diesen »Ehrenmännern« trug Bedenken, zum Umsturz der beschworenen Verfassung, der gesetzmäßigen Zustände seines Vaterlands sich gebrauchen zu lassen? Keiner! Die militärischen Hauptrollen im Gesellschaftsrettungsstück erhielten Saint-Arnaud, den Louis Bonaparte zum Kriegsminister, und der General Magnan, den er zum Oberbefehlshaber der in und um Paris versammelten Soldateska machte. Wie diese beiden, tat sich als besonders brauchbar auch Canrobert hervor, und es war billig, daß nachher alle Dezembristen zu Marschällen von Frankreich aufrückten. Dagegen ist es eine schnöde Ungerechtigkeit gewesen, daß Espinasse, der doch wahrlich keinem der Dezemberhelden an Eifer und Hingebung nachstand und sich als ein wackerster Katilinarier erwies, nicht ebenfalls den »Bâton« erhielt.

»Man muß ein Ende machen!« hatte der Onkel am 18. oder vielmehr am 19. Brumaire 1799 zu St. Cloud gesagt, mit der Reitgerte zornig auf den Boden hauend. In demselben Palast von St. Cloud hielt in den ersten Septembertagen 1851 der Neffe einen geheimen Ratschlag mit Persigny, Morny, Carlier und Rouher, wann und wie sein Brumaire in Szene gehen sollte. Man kam hierüber noch zu keinem bestimmten Entschluß und Beschluß. Auch bei einer zweiten, am 21. September ebenfalls in St. Cloud gehaltenen Beratung nicht, zu der der Prinz den Kriegsminister Saint-Arnaud und die Generale Magnan, Regnault, Le Pays und Bourjolly berufen hatte. Der Schlag wurde abermals vertagt; wohl hauptsächlich deshalb, weil Saint-Arnaud jetzt noch nicht, sondern erst etwas später – nämlich erst dann, als gewisse »Mißgriffe«, die ihm zu Orléansville im heißen Afrika in der Verwaltung etliche Jahre hindurch begegnet waren, vor Gericht und in der Presse zur Sprache kamen – vollständig zu einem Retter des Eigentums, der Moral, der Religion, der Familie und des Staates sich berufen fühlte. Die Verschiebung des Staatsstreichs wurde übrigens der Sache des Prinzen höchst vorteilhaft. Er erhielt dadurch noch Gelegenheit, der am 4. November wieder zusammengetretenen Nationalversammlung den wohlverdienten Fußtritt des Hohnes zu geben, indem er ihr die Wiedereinführung des am 31. Mai tatsächlich beseitigten allgemeinen Stimmrechts vorschlug. Noch mehr, er konnte der Mehrheit der Versammlung Zeit und Raum gewähren, die Hefen ihrer Erniedrigung hinunterzuwürgen. Ein sehr beträchtlicher Teil dieser Mehrheit nämlich wollte in ihrer Angst vor dem bevorstehenden Staatsstreich, von dem man als von einer selbstverständlichen Sache ganz offen sprach, der Niederträchtigkeit sich unterziehen, zugunsten der Verlängerung der Gewalten des Prinzpräsidenten eine Verfassungsrevision zu beantragen, um ihn von gewaltsamen Absichten abzubringen.

Die Ränkeleien und Fühlungen in dieser Richtung fanden nach dem 17. November statt. Allein Louis Bonaparte ging nicht darauf ein und wollte von den parlamentarischen Schwätzern und Intriganten überhaupt nichts mehr wissen. Seine Anstalten zum großen Gesellschaftsrettungsputsch waren getroffen, und er konnte gewiß sein, mit Hilfe seiner Katilinarier seine Absichten viel rascher und vollständiger zu erreichen als mit Hilfe der Orleanisten, Bourbonisten, Jesuiten und sonstigen »Honetten« der Nationalversammlung. Er wußte, daß Frankreich dieser Karikatur von Republik, die die schlimmsten Eigenschaften des Despotismus entwickelte, ohne doch die »Stabilität« zu sichern, nach welcher die Ordnungsfanatiker lechzten, satt und übersatt war. Er wußte, daß die Franzosen, deren überwiegende Mehrzahl, des Lesens und Schreibens unkundig, in der Nacht tiefer Unwissenheit vegetierte, nicht nur nicht sich selbst regieren könnten, sondern auch nicht wollten. Er war überzeugt, daß für dieses Volk, das despotisch beherrscht, aber mit Geräusch, Glanz und Gloire repräsentiert sein will, der Napoleonismus, beflittert mit etlichen Phrasen von den »großen Prinzipien von 1789«, die passendste Staatsform, d. h. Zwangsjacke sei, und so schritt er getrost dazu, den »Ratschluß der Vorsehung« in Erfüllung zu bringen.

5.

Am Abend des 1. Dezembers 1851 hielten die »Burggrafen« ( bourgraves) – wie man nach dem Titel von Hugos abenteuerlich verzwicktem und verrücktem Trauerschauspiel die Chefs der royalistisch-jesuitischen Mehrheitskabalisten der Nationalversammlung nannte – ihren gewohnten Schwatzklub in der Rue Poitiers. Es kam selbstverständlich nichts dabei heraus, als daß man, nachdem man sich müde geschwatzt hatte, nicht laut, aber doch stillschweigend die Resolution stellte und annahm: »Ach, wenn doch der Herr Bonaparte Räson annehmen und uns bei seiner Gesellschaftsrettung ein bißchen mitagieren lassen wollte!« Nichts da, meine Herren Ränkeler! Der Herr Bonaparte ist nicht nur entschlossen, euch nicht mitagieren zu lassen, sondern auch, euch so zu schurigeln, daß euch, und wär' es auch nur des Dekorums willen, alle Lust vergehen muß, euch späterhin mit ihm zu »ralliieren«. Doch nein, nicht allen Burggrafen wird die Lust dazu vergehen. Da ist z. B. eine Grundsäule der Religion und Moral, der Herr Graf von Montalembert. Der wird als geschurigelter Christ die Rute des Schuriglers küssen und erst später, als der 2. Dezember seine »guten Dienste« schlechterdings nicht annehmen wollte, zur Einsicht kommen, daß er seinen glühenden Lob- und Preispsalm auf den Dezemberputsch doch etwas zu voreilig und zu frühzeitig angestimmt habe. Der edle Graf wird dann abermals einen gesinnungstüchtigen Purzelbaum schlagen und als Lobpsallierer der »Freiheit Englands« sich auftun. Ein napoleonisches Tribunal wird ihn darob in Strafe nehmen, aber Napoleon III. wird dem armseligen Gaukler den wohlerworbenen Hohn antun, ihn mittels eines vom 2. Dezember datierten Dekrets zu begnadigen …

Zur selben Zeit, wo die Burggrafen in der Rue Poitiers schwatzten, überschüttete in der Oper der Herr de Morny, neben der Loge Cavaignacs sitzend, den General mit Artigkeiten, den General, der keine Ahnung hatte, von dem aber Morny wußte, daß er am folgenden Morgen in einer Kerkerzelle für Räuber und Mörder zu Mazas sitzen würde. Sie spielten ihr Spiel gut, die Dezemberspieler, das muß man sagen! Am besten von allen hat nach übereinstimmenden Zeugnissen Morny gespielt und das alte günstige Vorurteil für »Kinder der Liebe« vollkommen gerechtfertigt. Er hat das hohe Spiel um Hals und Kragen, das Spiel um einen Einsatz, welcher Frankreich hieß und war, mit der scheinbar lässigen, aber in Wahrheit wohlbemessenen Eleganz eines Grandseigneurs des Ancien Régime wie eine Whistpartie arrangiert und durchgeführt, und er würde im Notfall nur verzweifelt kämpfend von der Bühne verschwunden sein, wie Katilina vorzeiten bei Pistoja getan. Auch ein anderer der Glücksritter vom Dezemberorden, Fialin, sich nennend de Persigny, durfte sagen: »Wenn wir gehen, gehen wir nur in einem Feuerwerk von dannen« Und so taten sie oder vielmehr so wurde ihnen getan. Fialins Prophezeiung ist zur Erfüllung gekommen: in dem weltgeschichtlichen, unerhörten Feuerwerk »Sedan« ist die Dezemberbande weggejagt worden.. Mit solchen Werkzeugen arbeitet in Ermangelung besserer die Weltgeschichte häufig genug; nie aber arbeitet sie mit Tiftlern, Düftlern und »Märzministern«.

Es war ein Montagabend, nach der im Elysée eingeführten Etikette ein »Empfangsabend« des Prinzpräsidenten. Die Säle strahlten von Lichtern, die Gesellschaft war sehr zahlreich und glänzend. Louis Bonaparte war unbefangen heiter oder spielte wenigstens den unbefangen Heiteren ganz gut. Von irgendeiner Veranstaltung, welche auf das Bevorstehen von Ungewöhnlichem hätte schließen lassen, keine Spur. Während man aber im Elysée plauderte, scherzte und lachte, war Paladin Fialin auf einem Abenteuer begriffen, welches zu dem, was in der zweiten Hälfte dieser denkwürdigen Dezembernacht geschehen sollte, den » nervus rerum« herbeischaffen sollte. Das Objekt dieser Razzia war die Bank von Frankreich, auf deren Schätze in Geldrollen und Banknotenbündeln unser Ritter gerade so viel, um nicht ein Tüpfelchen weniger oder mehr Recht hatte als irgendein in den Diebshöhlen von Paris sich duckender Einbrecher und Räuber. Es soll auch, sagt man, im »Code Napoleon« auf Einbruch und Raub ganz deutlich und bestimmt die Galeerenstrafe gesetzt sein. Wenn man aber den Einbruch als vollendeter Gentleman an der Spitze eines ganzen Rudels von Polizeimannschaft unternehmen, als Brecheisen eine Kompagnie Chasseurs de Vincennes anwenden und gleich die Summe von 25 Millionen Franken einsacken und fortschleppen kann, so bekommt das Ding denn doch einen ganz andern Anstrich und Namen. Es kann dann nicht mehr und nicht weniger sein als ein bedeutender Beitrag zur Rettung des Eigentums, der Religion, Sittlichkeit und Familie, kurz, der Gesellschaft. Es ist auch nicht lautbar geworden, daß, als der Herr Graf de Persigny zum Ambassadeur Sr. Allerchristlichsten Majestät Napoleons III. am Hofe von St. James ernannt worden war, eine höchst tugendsame Königin Viktoria und eine höchst tugendstolze britische Oligarchiekaste irgendeinen Skrupel gehegt hätten, jenen Eigentumsretter von der Nacht des 1. auf den 2. Dezember höchst zuvorkommend und mit allen Ehren zu empfangen.

Gegen zehn Uhr in der Nacht winkte der Prinz, mit dem Rücken an das Gesims eines Kamins im großen Empfangssaal gelehnt, der voll von Gästen war, den Oberst Vieyra zu sich heran, der am Tage zuvor zum Chef des Generalstabs der Pariser Nationalgarde ernannt worden war. »Colonel«, sagte lächelnd der Träger der » Idée napoléonienne«, »sind Sie Ihres Gesichtes hinlänglich Meister, um ihm den Eindruck einer großen Überraschung nicht anmerken zu lassen?« – »Ich glaube wohl, mein Prinz.« – »Desto besser.« Und, also erzählt uns Monsieur Mayer, der Offizielle, und mit einem noch lustigeren Lächeln fuhr Louis Bonaparte fort: » Heute nacht wird es getan! … Ah, Sie haben nicht gezuckt? Vortrefflich! Sie sind ein fester Mann. Können Sie mir dafür stehen, daß morgen früh der Generalmarsch nirgends geschlagen werden und keine Zusammenberufung der Nationalgarde statthaben wird?« – »Allerdings, falls ich nur hinlänglich viele Ordonnanzen zu meiner Verfügung habe.« – »Benehmen Sie sich hierüber mit dem Kriegsminister und gehen Sie jetzt; aber nicht auf der Stelle, damit man nicht glaube, ich hätte Ihnen einen Befehl gegeben.« Und den spanischen Gesandten, welcher sich näherte, beim Arme nehmend, ging der Prinz auf eine Gruppe von Damen zu und ließ sich mit ihr in ein heiteres Geplauder ein. Also die »bewaffnete Bourgeoisie«, die Nationalgarde, wollte der Mann nicht mit dabei haben, als er sich anschickte, »Frankreich und die Christenheit zu retten« – wie uns Mayer der Offizielle versichert. Vor etlichen Monaten hatte die Bourgeoisie das Volk entwaffnet, jetzt entwaffnete der Despotismus die Bourgeoisie. Heute mir, morgen dir!

Gegen Mitternacht entließ der Prinz seine Gäste und zog sich in sein Kabinett zurück. Bald aber erschien der vielgetreue Fialin, meldend, der » nervus rerum gerendarum« sei geschafft, d. h. die bewußten 25 Millionen in Gold und Banknoten befänden sich im Elysée. »Gut, beginnen Sie mit diesen Waffengattungen den Kampf!« Und der Bayard des Napoleonismus redivivus begann ohne Zögern den Kampf, will sagen Kauf. Gegen drei Uhr morgens war er schon am Bette des Obersten Espinasse, den er mit den Worten weckte: »Morgen sind Sie Brigadegeneral und Adjutant meines Prinzen mit 30 000 Franken Jahresgehalt. Hier sind 100 000 Franken in Banknoten, bald ebensoviel. Sperren Sie die Zugänge zum Palais der Nationalversammlung und helfen Sie tüchtig mit bei der Verhaftung der Quästoren derselben.« Welcher Espinasse konnte wohl solcher Beredsamkeit widerstehen? Auch der General de Cotte, gegen den der beredsame Monsieur Fialin etwas später auf der Place de la Concorde sein Hunderttausendfrankenargument ebenfalls vorbrachte, widerstand ihm nicht. Später hieß es, dem genannten General sei auch ein Pferd, welches ihm während der Gesellschaftsrettungsschlacht erschossen worden, mit weiteren 100 000 Franken bezahlt worden. Aber wie Jupiter zur Danae, so kam der goldtriefende Dezemberling zum 42. Regiment, das durch die Quästoren der Nationalversammlung zum Schutze derselben bestellt war. Da stoben dem freigebigen Manne die Tausende und Hunderttausende in Louisdor und Bankbilletts von allen Fingerspitzen, ein befruchtender Regen. Für die Soldaten Mann für Mann 10 bis 20 Franken, für die Korporale, Sergeanten und Fouriere 50 bis 200, für die Leutnants 500 bis 1000, für die Kapitäne 3000 bis 5000, für die Majore 10 000. Sacré nom de Dieu, man rettet die Gesellschaft nicht umsonst! Der gewandte Seelenkäufer und seine Kommis fanden in den Kasernen überall einen guten Markt. Da und dort trafen sie aber doch – wunderbar zu sagen! – auf einen »Ideologen« in Uniform. In Wahrheit, da und dort stieß ein Sergeant, Leutnant, ein Kapitän die mit Gold oder Banknoten gefüllte Mäklerhand verachtungsvoll zurück. Aber das waren nur weiße Raben. Bei Tagesanbruch fühlte die Garnison von Paris zu jedem Tun für »Frankreich und die Christenheit« sich »entflammt«. Das sind die Wunder der Disziplin und Subordination.

Im Kabinett des Prinzen trafen inzwischen der Prätendent, Morny, Maupas und Saint-Arnaud die letzten Verabredungen. Es wird, natürlich »unglaubwürdig«, versichert, daß Banknotenbündel auch hier eine bedeutsame Rolle gespielt hätten, um »die Überzeugungen zu befestigen« und »die Hoffnungen zu ermutigen«. Der Herr Kriegsminister soll eine bare Million in seiner Tasche mit fortgetragen haben, um die eine Hälfte für sich zu behalten und die andere dem General Magnan zuzustellen. Dem Monsieur de Maupas habe, als die Stunde des Handelns gekommen, das Herz in die Hosen fallen wollen, doch sei es ihm durch seine Mitverschworenen, insbesondere durch den kühnen Morny, wieder leidlich im Brustkasten befestigt worden. Was in dem prinzlichen Kabinett in jener Stunde nach Mitternacht verhandelt worden, läßt sich aus den Folgen mit Bestimmtheit erraten: über das Wie dagegen liegen bislang nur Vermutungen vor. So auch darüber, was Monster Fleury in dieser Nacht für Aufträge hatte und besorgte. Wahrscheinlich war er in den Kasernen gesellschaftsretterlich tätig. Vielleicht hinterließ Monsieur Mocquard, der Geheimschreiber des Prinzen, Memoiren, welche über die einzelnen Umstände der Vorbereitungen zur Dezemberblutmesse befriedigendere Aufschlüsse geben, als wir bis jetzt zu erlangen vermochten. Gewiß ist, daß Saint-Arnaud den Colonel Beville in das Kabinett hereinrief und daß der Prinz diesem Offizier seine bereit gehaltenen Proklamationen übergab, um sie in die Staatsdruckerei zu bringen, deren Direktor Saint-Georges mit im Komplott war. Die zum voraus bestimmten Setzer und Drucker mußten sich sofort an die Arbeit machen, während der Kapitän Delaroche Doisy mit einer Kompagnie vom 1. Bataillon der Gendarmerie das Gebäude umstellte und von der Nachbarschaft abschloß. Die Soldaten hatten den Befehl, »ohne weiteres jeden niederzuschießen, der es versuchen sollte, das Haus zu verlassen oder auch nur einem Fenster sich zu nähern«. Ein sehr deutlicher Befehl, dessen Deutlichkeit Monsieur Mayer der Offizielle zu rühmen nicht unterlassen hat. Derselbe edle Historiograph konnte, nachdem er angegeben, wie die Manifeste des Meineids und Verrats, womit am Morgen des 2. Dezembers Paris und Frankreich überrascht werden sollten, gedruckt wurden, nicht umhin, also seiner lyrischen Ekstase Ausdruck zu geben: »Zum ewigen Ruhme des menschlichen Gedankens war der erste Akt des 2. Dezembers kein Kanonenschuß, sondern – ( sit venia verbo) – ein Presseschuß ( coup de presse). Aus der Nationaldruckerei ging das trostvolle Präludium ( prélude consolateur) hervor« – zu mehrbesagter Blutmesse nämlich. Es wird erzählt, aber in verschiedener, sogar in sich widersprechender und demnach wenig glaubwürdiger Weise, daß im letzten Augenblick, d. h. gegen drei Uhr morgens, als die Verschworenen sich trennen und ans Werk gehen sollten, der Prinz oder nach anderer Version sein Halbbruder Morny plötzlich schwankend geworden sei. Da habe aber der inzwischen im Elysée erschienene Fleury den Schwankenden beiseite genommen und, ein Pistol ziehend, ihm gedroht, er würde ihn auf der Stelle niederschießen, so er zögerte, weiter vorzugehen.

Kurz vor drei Uhr trennten sich die Gesellschaftsretter. Der Prinz ging ruhig schlafen, sagt man. Ob er wirklich »ruhig« schlief? Wer es glauben will, mag es tun. Saint-Arnaud begab sich ins Kriegsministerium, um die angeordneten Truppenbewegungen zu leiten und Paris in Belagerungszustand zu setzen, welcher ja, wie jeder weiß, bei allen den »rettenden Taten« unseres Jahrhunderts das Beste tun muß. Morny seinerseits machte sich mit einer Soldatenbande nach dem Ministerium des Innern auf, um den Inhaber desselben auszutreiben und sich selber an dessen Statt zum Minister zu improvisieren. Maupas eilte nach der Polizeipräfektur, wo nahezu tausend Polizeisoldaten und etliche vierzig Polizeikommissare versammelt waren, unter dem Vorwand, daß es gälte, eine Verschwörung der Sozialdemokraten, welche mit Hilfe »fremder Flüchtlinge« zum Ausbruche kommen sollte, zu unterdrücken. Der 2. Dezember kopierte, wo immer es anging, den 18. Brumaire. Der Verschwörer von 1799 hatte ja auch eine »jakobinische« Verschwörung erfunden, der Verschwörer von 1851 erfand eine »sozialdemokratische«. Der würdige Polizeipräfekt erteilte, wie die eine Lesart will – und sie ist die glaubhaftere –, seine Befehle jedem der Polizeikommissare einzeln. Die andere Lesart sagt, Maupas habe die Polizeikommissare versammelt und ihnen dargelegt, daß und wie sie zur Vollziehung des Staatsstreichs, der in dieser Nacht vor sich ginge, mitzuwirken hätten. Alle diese »Diener des Gesetzes« mußten wissen, daß man Gesetzwidriges, daß man geradezu Verbrecherisches von ihnen verlangte, daß sie zu Werkzeugen schnödesten Verrats sich hergeben sollten; aber alle erklärten sich bereit, das zu tun, mit Ausnahme eines einzigen, dessen Namen wir leider nicht anzugeben vermögen.

Die Polizeikommissare erhielten von Maupas den Befehl, vor sechs Uhr des Morgens zu verhaften und nach Mazas und in andere Gefängnisse zu bringen: sechzehn Mitglieder der Nationalversammlung, nämlich die Generale Cavaignac, Bedeau, Lamoricière, Changarnier und Leflô, den Oberstleutnant Charras, den Kapitän Chollat und den Leutnant Valentin; ferner Thiers, Baze, Beaune, Greppo, Lagrange, Miot, Roger du Nord und Nadaud. Alle diese »unverletzlichen« Volksvertreter wurden zur bezeichneten Stunde aus ihren Betten geholt, zum Teil unter Umständen, welche komisch genannt werden müßten, wenn sie nicht brutal gewesen wären. Unter den nach Mazas Geschleppten befand sich also auch Herr Thiers, und falls die Entrüstung darüber, daß der alte Mann dort der Gegenstand höhnischer Insulten von seiten des Gefängnispersonals war, irgendwie Raum hierfür ließe, so könnte man sich einer unwillkürlichen Anwandelung von Schadenfreude kaum erwehren, daß der »Neffe« dem Vergötterer des »Onkels« Gelegenheit gab, in einer Kerkerzelle von Mazas über das Wesen des Napoleonismus etwas reiflicher nachzudenken, als er früher getan hatte … Zugleich mit den Volksrepräsentanten wurden zuvörderst auch etliche siebzig Republikaner in Paris verhaftet, von denen ein energischer Widerstand gegen den Staatsstreich zu erwarten war. Sie wurden samt und sonders deportiert, ohne Prozeß und Urteil, ein Los, das nach glücklich vollbrachter Gesellschaftsrettung bekanntlich noch so viele, viele Opfer derselben getroffen hat. Allein das wenigstens können und wollen wir nicht glauben, daß der Sieger vom 2. Dezember, als man ihm sagte: »Aber die Deportation nach Cayenne ist der Tod« – kaltblütig zur Antwort gegeben habe: »So versteh' ich sie auch ( je l'entends bien ainsi).« Nein, wir wollen es nicht glauben, selbst auf die Gefahr hin, schwachherzige Ideologen und Optimisten gescholten zu werden.

Noch lag das Düster der Dezembernacht auf der schweigenden Hauptstadt Frankreichs, als um die sechste Morgenstunde die vergitterten Zellenwagen mit den Verhafteten gen Mazas und nach dem Fort vom Mont-Valerien rollten. Zur selben Zeit bezog Forey den Quai d'Orsay mit einer Infanteriebrigade, Dulac mit einer zweiten den Tuileriengarten und Cotte mit einer dritten den Concordeplatz, während Canrobert mit einer vierten, welche durch Kavalleriebrigaden unter Korte und Reybell verstärkt war, die Umgebungen des Palais Elysée besetzte. Zur selben Stunde fuhren mit bedruckten Papiermassen beladene Karren aus dem Tore der Staatsdruckerei, und diese Papiermassen bedeckten noch vor Tagesanbruch in Form von Plakaten die Häuserwände der Straßen von Paris.

Soweit das Werk der Nacht.

6.

» Im Namen des französischen Volkes.
Der Präsident der Republik verordnet: –
1. Die Nationalversammlung ist aufgelöst.
2. Das allgemeine Stimmrecht ist wieder hergestellt.
3. Das französische Volk wird zwischen dem 14. und dem 21. Dezember an seine Abstimmungsorte ( dans ses comices) berufen.
4. Der Belagerungszustand ist im ganzen Umfange der 1. Militärdivision verhängt (d. h. über Paris und zehn benachbarte Departements).
5. Der Staatsrat ist aufgelöst.
6. Der Minister des Innern ist mit dem Vollzug dieser Verordnungen beauftragt.
Gegeben im Palais Elysée, am 2. Dezember 1851.

Louis Napoleon Bonaparte.
Der Minister des Innern
De Morny

Dieses lakonische Dekret verkündigte dem am Morgen des 2. Dezembers erwachenden Paris, daß die Republik über Nacht zugunsten des Bonapartismus eskamotiert und konfisziert worden sei. Das Staunen und die Überraschung waren nicht allzu groß über ein Ereignis, das Leute von gesundem Menschenverstand längst vorausgesehen und vorausgesagt hatten. Nur solche, die sich in den Kopf gesetzt hatten, den Louis Bonaparte für einen »Idioten« zu halten, rieben sich höchst verwundert die Augen. Der angebliche Idiot hatte also zu eigenen Gunsten gewagt, was die höchsten Spitzen der Bildungsphilisterschaft, des Royalismus und der Jesuiterei, Messieurs les Bourgraves, zugunsten von Thron und Altar, d. h. ebenfalls zu eigenen Gunsten, sehnlichst zwar gewünscht, aber beileibe nicht gewagt hatten. Es war doch recht ärgerlich, zu sehen, wie ihnen ein anderer das Jägerrecht über die arme, mit allen Hunden der Perfidie und Verräterei zuschanden gehetzte Republik vor der Nase wegnahm. Man empfindet wider Willen etwas wie Genugtuung, daß über alle die Intriganten und Verschwörer ein größerer gekommen war.

Das Dämonische im ganzen Wesen und Walten von Louis Bonaparte prägte sich sehr charakteristisch in einem scharfen Zug von mephistophelischem Hohn und Spott aus, von dem er gelegentlich Gebrauch zu machen liebte. Die Waffe der Ironie, von überlegenen Köpfen so gern gehandhabt und von Schwachköpfen so gefürchtet und gehaßt, hat auch in der blutigen Dezemberkomödie mitgewirkt. Denn die beiden Proklamationen, womit der Prinz sein Staatsstreichsdekret begleitete, sind wahre Meisterstücke der Satire. Der eine dieser Kommentare war an das französische Volk, der andere an die Armee gerichtet. Im einen wie im andern erhob sich der prinzliche Satiriker zur Zenithöhe souveräner Menschenverachtung. Denn wie unsäglich mußte der ein Volk verachten, welcher ihm, während er ihm den Fuß gewaltsam auf den Nacken setzte, den sarkastischen Hohn zuschleuderte, er wolle »die perfiden Projekte, welche die Ränkespinner und Verschwörer in der Nationalversammlung zum Sturze der Republik ausgeheckt, vereiteln und seine Pflicht, die Republik aufrechtzuerhalten, erfüllen«. Und wie mußte der eine Soldateska verachten, der an sie, nachdem er sie mit Geld, Wein und Zigarren gekauft hatte, die ätzenden Spottworte richtete: »Soldaten, seid stolz auf eure Mission! Ihr werdet das Vaterland retten; denn ich zähle auf euch, nicht um die Gesetze zu verletzen, sondern um dem Grundgesetze des Landes Geltung zu verschaffen, der Nationalsouveränität, deren legitimer Repräsentant ich bin.« Der Staat bin ich! sagte jener Louis Bourbon. Ich repräsentiere den Willen der Nation! sagte dieser Louis Bonaparte. Und beide fanden Glauben; denn je ungeheuerlicher eine Lüge ist, desto lieber und leichter schluckt bekanntlich der Köhlerglaube sie hinunter. Aber wir vergessen, daß fünf Millionen und mehr französische Staatsbürger den Prinzen in der Tat zum Vertreter des Nationalwillens erwählt und bestellt hatten. Louis Bonaparte legte sein Mandat vielleicht etwas anders aus, als die Mehrzahl oder wenigstens eine große Anzahl seiner Wähler es verstanden wissen wollte; allein man muß billigerweise in Rechnung bringen, daß, wie jedermann weiß, Dame Exegese eine Wachsnase besitzt, welche, wie unter den Händen von Theologen und Juristen, so auch unter denen von Politikern die abersonderlichsten Formen annehmen kann und wirklich anzunehmen pflegt …

Die Dezembermänner, von vornherein nicht nur entschlossen, sondern auch unbedingt darauf angewiesen, alles an alles zu setzen, hatten ihre Maßregeln, jeden Widerstand niederzuschmettern, mit kaltblütigster Umsicht getroffen und setzten sie mit einer Energie in Vollzug, die sich schlechterdings nichts daraus machte, durch Blutlachen hindurch dem Ziele zuzuwaten: nämlich der Rettung der Familie, des Eigentums, der Religion und Sittlichkeit, kurz der Gesellschaft, was alles sich zusammenfaßte in dem Stichwort: Unbeschränkte Tyrannis Louis Bonapartes, der noch eine Weile Präsident und dann Kaiser heißen soll. Der unvergleichliche Offizielle, Monsieur P. Mayer, welcher, Jude von Geburt, Deutscher von Namen und Franzose aus Ökonomie, in seiner hofhistoriographischen Person den deutschen Bedienten mit dem französischen Polizeispion so schön vereinigt, er hat die Philosophie der Gesellschaftsretterei in wahrhaft lapidarischer Sprache also geoffenbart: »Wollte man sich nicht einer schmählichen Niederlage bloßstellen, so mußte man nicht nur zuvorkommen, sondern auch schrecken. In Staatsstreichssachen diskutiert man nicht, sondern man schlägt zu; man erwartet nicht den Feind, sondern stürzt sich auf ihn; man zermalmt oder man wird zermalmt.« Ja, so war es! »Man muß den Royalisten Furcht einjagen!« sagte der Septemberschrecken von 1792. »Man muß den Royalisten und den Republikanern, den Weißen, den Blauen und den Roten, man muß den Parisern und Pariserinnen, man muß aller Welt Angst einjagen!« sagte der Dezemberschrecken von 1851. Und also geschah es. Laßt unsere Agenten auf allen Plätzen und Kais und Straßen, wo die bewaffnete Macht aufgestellt ist, die Goldrollen »wie Schokoladentafeln« zerbrechen und den Inhalt rechts und links verstreuen, laßt hübsche Dirnen im Marketenderinnenaufzug Ströme von Wein und Branntwein in die Kolonnen leiten, und dann mag die Molochopferfestorgie der »Rettung Frankreichs und der Christenheit« anheben. Wir wollen schrecken, beben vor nichts zurück und sind auf alles gefaßt, selbst auf äußerste Notfälle.

In Wahrheit, das waren sie, und es ist daher wohl mehr als eine »böswillige« Sage, daß der Kriegsminister De Saint-Arnaud einen schriftlichen Befehl in der Tasche gehabt habe, die verhafteten Offiziere und Volksvertreter, wenn es nötig, erschießen zu lassen, sodann im Notfall mit den Truppen auf das Palais Elysée und von da, den Prinzen in der Mitte, nach den Forts sich zurückzuziehen, um von dort aus Paris zu bombardieren.

Dieses Äußerste, die Siegesfahne des Bonapartismus auf dem Schutte der Hauptstadt aufzupflanzen, erwies sich nicht als nötig. Denn der Widerstand, den die Gesellschaftsretter fanden, war durchaus kein ausgiebiger und nachhaltiger. Natürlich ging er zunächst von der Nationalversammlung aus, welche sich so unzeremoniös an die Luft gesetzt sah. Sie machte nun aber die unliebsame Erfahrung, welche schon so unzählige Male gemacht worden ist, daß das Recht eine Schimäre, die Macht dagegen eine brutale Tatsache ist. Die Herren Dupin und Daru, Präsident und Vizepräsident des Parlaments, sahen sich, als sie mit einer Anzahl ihrer Kollegen den Versuch wagten, ins Sitzungslokal zu gelangen, um ein gangbarstes und beliebtestes Geschäft der Schwäche zu verrichten, nämlich einen Protest zu erlassen, mittels des Arguments gefällter Bajonette barsch zurückgewiesen. Herr Dupin, der sich nachmals, sobald es die »Honettität« erlaubte, mit Vergnügen zu einem Handlanger des Staatsstreichprinzen hergab, sagte zu den Säbelschleppern: »Das Recht ist für uns, aber die Gewalt gegen uns. Empfehle mich Ihnen.«

Etwas später fanden sich 220 Mitglieder von der Mehrheit der Nationalversammlung in der Mairie des zehnten Arrondissements in der Rue Grenelle zusammen und taten große Taten in Worten. Unter dem Vorsitz von Benoit d'Azy beschlossen diese »Honetten«, daß der Präsident der Republik abgesetzt und als Angeklagter vor den hohen Staatsgerichtshof zu verweisen, ferner die zehnte Legion der Nationalgarde zum Schutze des Parlaments aufzubieten und der General Oudinot zum Befehlshaber der bewaffneten Macht ernannt sei. Etwas Hochkomisches hatte es, daß die Ergebnisse dieser zur Aufrechterhaltung der Republik unternommenen Redeübungen durch den geschworenen Bourbonisten Berryer, den berühmtesten Chef des legitimistischen Royalismus, zum Fenster hinaus den Vorübergehenden verkündigt wurden. Frau Historia ist doch ein witziges Weib! Nachdem aber der erfolglose Schwatz eine Weile gedauert hatte, erschienen zwei Polizeikommissare mit hinlänglich vielen Soldaten, faßten die Versammlung, als diese sich nicht freiwillig zerstreuen wollte, ab und führten sie nach der Kaserne am Quai d'Orsay, von wo die 220 Volksvertreter in zum Transport von Galeerensträflingen bestimmten Zellenwagen nach Mazas, Vincennes und Mont-Valerien geschafft wurden. Überhaupt tat der Dezemberschrecken mit bunt durcheinander vorgenommenen Verhaftnahmen und Einkerkerungen nicht karg. Die Gefängnisse in Paris, die Kasematten der Forts ringsher füllten sich mit Massen von Gefangenen. Ins Fort de Bicêtre allein wurden 750 gebracht, in St. Pelagie lagen 735. Die Gesamtzahl der Verhafteten ging in die Tausende. Denn wie der Septemberschrecken von 1792 alle Welt für des Royalismus »verdächtig« angesehen hatte, so betrachtete der Dezemberschrecken von 1851 alle Welt als des Republikanismus verdächtig und war demnach eifrig im massenhaften Eintürmen – immerfort, versteht sich, zur Ehre der Gesellschaftsrettung.

Aber diese sollte sich noch viel drastischer manifestieren! Es galt ja zu »schrecken«. Der Bonapartismus wollte sich so recht mit »Eklat« inthronisieren, der Napoleonismus ganz à la Jupiter tonans unter Blitz, Donner und Kugelhagel sein Auferstehungsfest begehen. Die Republikaner taten ihm den großen Gefallen, zu solchem Vorgehen einen leidlichen Vorwand zu liefern. Etliche Montagnards der auf die Gasse geworfenen Nationalversammlung eilten in die Arbeiterquartiere, um das Volk zur Verteidigung der Republik aufzurufen. Was für einer Republik? Nun, derjenigen, in deren Namen die »Honetten« im Juni 1848 das Volk niedergekartätscht und im Mai 1850 seines Wahlrechts beraubt hatten. Was hatte denn diese Republik in irgendwelcher Richtung für den vierten Stand getan? Nichts und wieder nichts. Wie, für orleanistische Tribünescharlatane à la Thiers, für bourbonistische Deklamatoren à la Berryer, für Jesuiten à la Falloux sollte das Volk sich schlagen? So dumm war es doch nicht! Wenigstens nicht in Masse. Im Gegenteil, das in den Massen vorherrschende Gefühl war das der Schadenfreude, daß über alle die »honetten« Gaukler, Ränkespinner und Verräter ein noch viel »honetterer« gekommen. Auch verfehlte der schlaue Paragraph im Staatsstreichsdekret, kraft dessen das allgemeine Stimmrecht wieder hergestellt wurde, seine Wirkung nicht.

Dennoch gelang es der Energie, womit Bergmänner wie Baudin und Madier de Montjau – jener wurde im Kampfe getötet, dieser schwer verwundet – wie Esquiros und Schoelcher » aux armes!« riefen, da und dort, namentlich im alten Revolutionshauptquartier, im Faubourg St. Antoine, schon am 2. Dezember einzelne Scharen gegen die Gesellschaftsrettung ins Feld, will sagen auf Barrikaden zu stellen. Am folgenden Tage gewann es sogar den Anschein, als wollte der Widerstand großartige Verhältnisse annehmen. Man schlug sich in den Vorstädten St. Antoine, St. Martin und St. Denis. Allein es war doch nur, wie die Blusenleute spottlächelnd sagten, eine »Revolution der Fräcke und Lackstiefel«, d. h. die Massen beteiligten sich nicht. Außerdem hatten die Gesellschaftsretter St. Arnaud und Magnan erdrückend übermächtige Streitkräfte – nahezu 80 000 Mann – zur Hand, und es war Sorge getragen worden, die Bestie im Soldaten zur wildesten Wut aufzureizen. Sie machte dann auch ihre Tigersprünge.

Am 4. Dezember war der Widerstand in den genannten Quartieren schon im Veratmen, während im übrigen Paris keine andere Unruhe als die der Neugierde zu verspüren war. Quer das! Denn es war noch lange nicht genug »geschreckt« worden. Daher sollte der Gesellschaft noch recht eindringlich fühlbar gemacht werden, daß man eifrig daran sei, sie zu »retten«: der Dezemberschrecken wollte sich schlechterdings in seiner ganzen Macht und Pracht sehen lassen. Dies der Sinn jener greulichen, in ihrer Art einzigen Blutorgie, welche man die »Säuberung der Boulevards« nannte. Der weinselige General Reybell und der nüchterne General Canrobert besorgten heroisch dieses Schreckgeschäft. Tausende und wieder Tausende von Neugierigen, waffenlos, fragend, schwatzend, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Knaben und Mädchen bunt durcheinander, wogten die breiten Boulevards auf und ab. Da plötzlich Trommelsignale und Trompetenstöße. Will man etwa eine Aufforderung zum Auseinandergehen, irgendeine Warnung an die neugierige Menge richten? Bewahre! Wie sagt Monsieur P. Mayer der Offizielle? »In Staatsstreichssachen diskutiert man nicht, man schlägt zu

Ja, man schlug zu. Die Boulevards entlang zwischen der Rue Montmartre und der Porte St. Martin raste das Gemetzel am fürchterlichsten. Dort lag das Blut, das Blut von Waffenlosen, von Greisen, von Frauen, von Kindern noch am Abend so hoch, daß Vorübergehende durchwaten mußten. Man wartete, bis die Haufen recht »dicht« standen. Dann darauf los mit Infanterie, Artillerie und Kavallerie. »Tötet, was ihr vor euch findet!« schrien Offiziere, denen die Goldstücke, um welche sie sich verkauft hatten, in den Taschen klirrten, ihren Leuten zu. »Auf die Beduinen!« schrien ihrerseits die bis zur Tollwut aufgereizten Soldaten. Mit Vollkugeln und Kartätschen, mit Bajonett, Kolben und Säbel wurde gegen die Wehr- und Waffenlosen jedes Alters und Geschlechts gewütet. Außerhalb und innerhalb der Häuser ward erbarmungslos gewürgt. Die Zahl der Opfer genau zu ermitteln, ist nicht möglich gewesen; denn der Dezemberschrecken schlug das Land mit Stummheit. Der »Moniteur« gab mit gewohnter Schamlosigkeit an, es seien im ganzen nur 350 Personen getötet worden. Sicherlich aber hat die Blutorgie auf den Boulevards allein Hunderte und wieder Hunderte von Menschenleben gekostet. Nach dem Gewürge kamen dann die Proskriptionen, Konfiskationen, Deportationen und Verbannungen.

Also wurden die Religion und die Moral, das Eigentum und die Familie, also ward die Gesellschaft gerettet und Louis Bonaparte zum unumschränkten Herrn und Gebieter Frankreichs gemacht. »Alles, was möglich, ist legitim!« hat das dicke Kirchenlicht Montalembert und »Alles, was wirklich, ist vernünftig!« hat das große Kathederlicht Hegel gesagt. Der Staatsstreich vom 2. Dezember war möglich, folglich war er legitim; der Bonapartismus ist eine unzweifelbare Wirklichkeit, folglich ist er vernünftig. Und doch, und doch –

»Wie mancher wähnt den Feind zersplittert,
Indes die Nemesis umwittert
Sein Siegeszelt« –

und darum mochte da und dort ein einsamer Mann, wenn er, über die vornehmen und geringen Pöbelhaufen, welche anbetend vor dem Erfolge auf den Knien liegen, verachtungsvoll hinwegblickend, sein ahnendes Ohr der Zukunft entgegenwandte, aus dieser schon den nahenden Donnerschritt der rächenden Göttin heraushören.

Freilich, diese Einsamen sind nur »Ideologen«, »Prinzipienreiter« und »Idealpolitiker«, mit denen die Realpolitik bekanntlich nichts zu schaffen hat. Diese, die Realpolitik, welche die Tatsache kennt und anerkennt, daß in dem Rechenexempel der Weltgeschichte Moral, Recht, Wort- und Eidtreue und dergleichen »Katechismusdinge« mehr nur aufgeführt werden, um gelegentlich vor dem großen Haufen damit Parade zu machen, sie hat die Dezembristen nicht allein freigesprochen, sondern auch verherrlicht. Noch mehr, die Realpolitik behauptet mit Fug und Wahrheit zweierlei. Erstens, daß Napoleon III. in den achtzehn Jahren, in denen er Frankreich beherrschte, den Beweis geliefert habe, daß es noch keiner so gut wie er verstanden, über Franzosen zu herrschen. Zweitens, daß er ein unbezahlbar kostbares Element in dem Gärungsprozeß unserer Zeit gewesen. Ohne ihn wäre mit dem Jahre 1850 Europa sicherlich in die öde Kirchhofsruhesklaverei, wie sie dem Sturze Napoleons I. gefolgt war, zurückgesunken. Der Dezembermann hat die Völker wach erhalten, hat insbesondere auch das deutsche vor völligem Wiedereinduseln bewahrt.

Der Historiker von wirklichem Beruf also, wie der kalt und ruhig urteilende Kenner von Welt und Menschen, sie begreifen unschwer die Möglichkeit der Wiederaufrichtung des Napoleonischen Kaiserthrons. Eine nüchterne Erwägung kann auch nicht anstehen, die in den Sünden der alten Parteien wurzelnde Berechtigung des Bonapartismus anzuerkennen. Diese Sünden zu strafen und mittels solcher Vergeltung, wenn auch unbewußt und widerwillig, neuen Entwicklungen des Völkerlebens Raum und Bahn zu schaffen, das war des zweiten Empire Bestimmung und Aufgabe. Wenn man aber unbefangen betrachtet, wie Napoleon III. jene allmächtig geglaubte zarische Knute, welche die … (ihr wißt schon!) … in ihres angestammten Nichts durchbohrendem Gefühle so lange mit brünstiger Andacht geküßt hatten, zerbrochen und wie er den luziferisch hoch- und übermütigen britischen Leoparden dahingebracht hat, als sein wohldressierter Pudel sich zu gebaren, so wird man schon zugeben müssen, daß der Neffe des Onkels denkende Menschen von der unheilvollen Bestrickung durch die zwei Erzlügen von der unwiderstehlichen russischen Macht und von der unübertrefflichen englischen Staatsverwaltung glücklich erlöst habe. Und wer könnte im Ernste bestreiten wollen, daß Louis Bonaparte und nur er es gewesen, welcher der armen schönen Signora Italia Luft gemacht hat?

»Doch«, so hör' ich einwerfen, »das Wiederaufkommen des Bonapartismus, das ganze Napoleonische Wesen widerspricht aller Sittlichkeit, wie wir Deutsche sie verstehen und besitzen« … Oh, Himmel, die spezifisch deutsche Sittlichkeit! Geht doch, es ist ja nichts dahinter als Selbsttäuschung und Phrase. Die wirklichen und wahrhaften Kardinaltugenden unseres Volkes: der idealistische Hang und Drang, die unverwüstliche Arbeitskraft und die unermüdliche Arbeitslust – sie mögen und sollen gepriesen werden, solange eine deutsche Zunge sich rührt und eine deutsche Hand die Feder führt. Aber das Gedahle von und das Geprahle mit einer sittlichen Quintessenz, welche vor allen andern Kulturvölkern nur dem deutschen verliehen worden sei, ist eitel Kathederdünkel und Zeitungsklüngel. Seht euch doch einmal die vergleichende Verbrechenstatistik von Europa an und merkt euch daraus etwa die eine Tatsache, daß Deutschland die ruchlosesten Giftmischerinnen der modernen Zeit geboren und erzogen hat.

Wahre Vaterlandsliebe wendet sich mit Ekel und Entrüstung ab von der nichtswürdigen Bemäntelung, Beschmeichelung und Beräucherung, die in Schrift und Wort dem deutschen Wesen darzubringen jetzt in Deutschland Mode geworden ist und unserem Volke die Binde unseliger Verblendung dicht und dichter auf die Augen kleistern möchte. Freilich, es ist nicht allein der Könige, sondern auch der Völker Unglück, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen. Allein trotzdem soll der rechte Patriot nimmer ermüden, seinen Landsleuten den Kitzel einer törichten Selbstgefälligkeit mit rauher Hand zu vertreiben. Nein, all ihr Söhne und Töchter des braven alten Michels mit den hartschwieligen Arbeitshänden und der edlen Frau Germania mit den gutmütigen, ach, viel zu gutmütigen Augen und dem ewigjung-idealgläubigen Gemüt, nein, ihr seid keineswegs vor andern zivilisierten Völkern mit »Sittlichkeit« begnadet, und was auch schlaurechnende Schranzen der Metze Popularität euch vorschmeicheln mögen, bis zu dieser Stunde ist eine herbe Wahrheit das herbe Wort Goethes: »Die Deutschen sind als Individuen meist respektabel, als Volk miserabel.«

Ach, und wie miserabel! Wo blieb denn so oft unser Nationalgewissen? Wo der vielbesungene »Männerstolz vor Königsthronen«? Es steht uns fürwahr gut an, über die französische »Unsittlichkeit« zu schelten, welche den Staatsstreich vom Dezember geduldet und das Wiederkommen des Napoleonismus zugelassen habe, jawohl! Wo ist denn ein Meineid, ein Wort- und Rechtsbruch, eine Vergewaltigung, welche die deutsche »Sittlichkeit« nicht geduldet und zugelassen, wo eine stupide Hintansetzung unserer handgreiflichsten Interessen, eine schnöde Mißhandlung unsrer heiligsten Rechte, eine boshafte Verhöhnung unserer teuersten Gefühle, die wir nicht ertragen hätten? Haben nicht 40 Millionen Deutsche mit der ganzen Gelassenheit des Stumpfsinns zugesehen, als nach der mißglückten deutschen Viertelsrevolution von 1848 die Verteidiger der sonnenklaren Rechte der Nation, Hunderte, Tausende schlechtester wahrlich nicht, sondern bester Söhne unseres Landes – die »besten« Hampel- und Staatsmänner, die lieben liberalen »Mohren« standen daneben, mit schlechtverhaltener Freude sich die Hände reibend – zu Pulver und Blei begnadigt, wie der brutale Hohn lautete, oder in Zuchthäusern zuschanden gequält oder in das Elend des Exils getrieben wurden?

Es gehört das Blut eines Fisches oder eines Hofrats dazu, um beim Anblick solcher »Sittlichkeit« nicht aufzukochen. Männer jedoch, deren Glauben an den unhemmbaren Vorschritt der Menschheit und demnach auch ihres Volkes unwankbar, sie werden beim Rückschauen auf das, was alles die »sittlichen« Deutschen nur seit dem Beginn unseres Jahrhunderts über sich ergehen ließen, ungestraft, ungerächt und ungesühnt über sich ergehen ließen, in finsteren Stunden angewidert und entmutigt das Haupt sinken lassen oder aber zornvoll miteinstimmen in des sterbenden Talbot Verzweiflungsschrei:

»Erhabene Vernunft, lichthelle Tochter
Des göttlichen Hauptes, weise Gründerin
Des Weltgebäudes, Führerin der Sterne,
Wer bist du denn, wenn du, dem tollen Roß
Des Aberwitzes an den Schweif gebunden,
Ohnmächtig rufend, mit dem trunkenen
Dich sehend in den Abgrund stürzen mußt?
Verflucht sei, wer sein Leben an das Große
Und Würdige wendet und bedachte Pläne
Mit weisem Geist entwirft. Dem Narrenkönig
Gehört die Welt!«


 << zurück weiter >>