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Der tote Millionenmann und die falsche Braut

Diese Geschichte ist im ganzen wie im einzelnen so märchenhaft, daß sie manchem Leser als durchaus unglaublich vorkommen muß. Trotzdem ist sie Geschichte im strengsten Sinne, durchweg aktenmäßig bezeugt, wie sich jeder überzeugen kann, der den bezüglichen Kriminalaktenfaszikel im Züricher Archiv einsehen will. Ich habe mir nur erlaubt, die Namen der mithandelnden und mitleidenden Personen dieser unerhört traurigen Posse zu ändern, d. h. mit erfundenen zu vertauschen.

Ein zwar unglaublicher, aber doch aktenmäßiger Beitrag zur Volksmündigkeitsgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Mit der Dummheit kämpfen Gauner nicht vergebens.

Der verbesserte Schiller.

Gewiß, wir haben Grund, zu sagen, daß unser Jahrhundert etwas gearbeitet, etwas vor sich gebracht und das Kapital menschheitlichen Vorschritts um eine bedeutende Summe vermehrt habe. Hanns Dampf und Grete Philanthropie in allen Gassen! In riesenhafter Progression zieht die Bildung immer weitere Kreise: die Jugend ist vor lauter Kultur schon mit achtzehn Jahren blasiert, und Sonntags führen mit Pariser Fräcken angetane Hausknechte Köchinnen zum Tanz, deren Hände in Glanzlederhandschuhen stecken. Freiheit und Gleichheit sind auch keine himmelblauen Ideale mehr, sondern handgreifliche Wirklichkeiten: vor der Nase der Polizei setzt der deutsche Bürger seinen braunrötlichen Garibaldihut keck aufs Ohr, und in der alleinseligmachenden Glocke der Krinoline wallfahren Fürstinnen und Mägde einträchtiglich zum Hause des Herrn.

In diesem Stil und Ton mag etwa ein Pessimist grämeln und grollen. Wir anderen jedoch wiegen uns unterdessen behaglich in dem Schaukelstuhl moderner und modernster Errungenschaften. Schade nur, daß das harmonische Fortschrittskonzert dann und wann durch einen grellen Mißton unterbrochen wird, der entweder von hoch oben herab oder von tief unten herauf erschallt. Sollten wir aber dadurch unsere selbstzufriedene Stimmung beeinträchtigen lassen? Behüte! Abwechslung muß sein.

Ich hoffe in diesem Glauben auf die Nachsicht eines hochzuverehrenden Publikums, wenn ich in Nachstehendem einen der angedeuteten Mißtöne verlauten lasse, indem ich eine Geschichte erzähle, welche auf die intellektuelle und sittliche Kultur unserer Zeit ein nicht gerade liebliches Streiflicht wirft. Es ist ein Stück Dorf- und Stadtgeschichte, von der ich in aller Bescheidenheit glaube, daß sie ein nicht uninteressanter Beitrag zur Kulturhistorie der Gegenwart sei. Um so mehr, wenn man erwägt, daß diese Geschichte (sie spielte in den Jahren 1858-1860) in einem Lande sich zutrug, das seit ungefähr vierzig Jahren das umfassendste und bestorganisierte Volksschulwesen besitzt, das auf Erden existiert. Ich brauche wohl kaum zu versichern, daß die Tatsachen meiner Erzählung streng aktenmäßige, gerichtsaktenmäßige sind. Ich habe nicht ein Jota dazu oder davon getan, dagegen aus Rücksichten der Schonung mir erlaubt, die Namen einiger Lokalitäten und die der handelnden Personen zu ändern.

1.

Zu Tannenbach, einem Dorfe in einem der nordöstlichen Kantone schweizerischer Eidgenossenschaft, lebte im Jahre 1858 ein Mann und Familienvater, der Jakob Simplicius hieß. Ein »wohlbeleumdeter«, arbeitsamer, sparsamer Mann, Besitzer eines kleinen »G'werbs«, d. h. eines Bauerngütchens; daneben auch Instruktor bei der Infanterie oder »Dreckstampfer«. Denn mit dem freilich etwas unreinlichen Terminus technicus »Dreckstampfen« bezeichnete er selber die Ausübung seiner amtlichen Pflicht, angehende Enkel Winkelrieds oder, prosaisch zu sprechen, Milizrekruten marschieren und exerzieren zu lehren. Ungeachtet dieser zeitweiligen Beschäftigung mit der edlen Kriegskunst hatte unser Jakobus Simplicius das Pulver nicht erfunden, was übrigens auch gar nicht nötig war. Statt des mangelnden Organs der Erfindungskraft war aber an dem Schädel des Mannes das spezifische Organ des Glaubens so wundervoll vorhanden und entwickelt, daß die Herren Hofräte und Kirchenräte von der strikten Observanz von Rechts wegen eine unbändige Freude daran hätten haben sollen. Auch des Simplicius Ehefrau besaß einen ausreichenden Teil von der Gläubigkeit der »guten, alten, frommen« Zeit. Die gute Frau Jakobäa machte aber trotzdem, wie wir sehen werden, dem schrankenlosen Glaubenseifer ihres Eheherrn mitunter Opposition, – eine Opposition freilich, welche nicht etwa aus dem »heillosen, modernen Unglauben«, sondern vielmehr ebenfalls aus der vielbelobten romantischen Glaubensstärke entsprang.

Zu der Zeit, von der wir handeln, und auch später noch bildete zu Tannenbach, wie im ganzen Lande, einen beliebtesten Gegenstand der Unterhaltungen am häuslichen Ofen der berühmte Herr Oberst Mildherz, ein großer, ein größter Mann, weil der reichste in der Eidgenossenschaft. Der Ruf dieses gewaltigen Fabrikherrn war gerade nicht der feinste; aber es stand fest, daß er sich durch eine Energie sondergleichen zum »Millionenmann« emporgearbeitet hatte. Dies war sein sozusagen offizieller Titel im Volksmund, und zwar mit Recht, da der Kinderlose bei seinem im Jahre 1859 erfolgten Tode etwa dreißig Millionen hinterlassen hat. Der Volksphantasie genügte indessen dieser immerhin leidliche Reichtum keineswegs, sondern sie liebte es, das Vermögen des Herrn Obersten ins Märchenhafte zu steigern. Eine auf die Volksphantasie spekulierende Betriebsamkeit stand auch, wie wir bald erfahren werden, nicht an, dem Millionenmann Eigenschaften anzudichten, welche seinen wirklichen diametral entgegengesetzt waren. Endlich ist noch zu sagen, daß der Volksglaube die Erwerbung der ungeheuren Reichtümer des Fabrikherrn sich in seiner Weise zu erklären suchte. Der Herr Mildherz war nämlich – daran konnte kein Zweifel sein – im Besitze von »Alunen«, die ihm »unmenschliches« Geld »legten«.

Alunen, auch Malunen, heißen mundartlich die Alraunen des germanischen Zauberglaubens. Die Vorstellung von diesen »Heckemännchen« oder »Galgenmännlein« hat aber in den Gegenden, wo unsere Geschichte spielt, eine meines Wissens so eigentümliche Gestalt angenommen, daß sie mir wohl erwähnenswert zu sein scheint. Selbstverständlich ist so ein »Alun« nur mit Hilfe des Teufels zu erlangen; ja, der Alun ist selbst ein Stück Teufel. Der Besitz von einem oder von mehreren Alunen hat also zur unumgänglichen Voraussetzung, daß der Besitzer seine Seele dem Teufel verschreiben mußte. Nach der, wenn mir recht ist, am weitesten verbreiteten Ansicht wird der Alraun, auch Mandragora genannt, aus der Bryoniawurzel bereitet, welche der menschlichen Gestalt ähnelt. An einem Montag, zur Frühlingszeit, bei einer »günstigen« Konstellation des Mondes mit dem Jupiter oder der Venus, gräbt man die Wurzel aus der Erde und beschneidet ihre Ausschößlinge. Dann vergräbt man sie auf dem Kirchhof in dem Grab eines kürzlich verstorbenen Mannes und begießt sie einen Monat lang täglich vor Sonnenaufgang mit Kuhmilchmolken, worin man zuvor drei Fledermäuse ertränkt hat. Die nach Verfluß dieser Zeit wieder ausgegrabene Wurzel ist der menschlichen Gestalt viel ähnlicher als früher. Man trocknet sie hierauf in einem mit Eisenkraut geheizten Ofen und verwahrt sie in einem Stück Linnen, worin ein Toter gehüllt war. Der Besitzer wird in jeder Weise an zeitlichem Wohlstand zunehmen … Anders die Zubereitung der »Alunen« in der Gegend, von der hier die Rede ist. Ein junger Laubfrosch wird beim Vollmond gefangen und unter Anrufung des Teufels, mit Beihilfe eines »Laxner« (Zauberer, Hexenmeister) und unter Zeremonien, deren wichtigste zu schmutzig ist, um beschrieben werden zu können, zum »Alun« gemacht. Das Gesicht des Frosches bekommt durch diese Weihung starke Ähnlichkeit mit einem menschlichen. Der Besitzer setzt den Alun in einem wohlverschlossenen Behälter unter ein Glasgefäß, und hier »legt« das Zaubertier Tag für Tag ein großes Stück Geld. Sowie aber das Auge eines Uneingeweihten den Alraun erblickt, hört dieser nicht nur auf Geld zu legen, sondern der Besitzer muß ihn auch unter Beobachtung gewisser Bräuche schleunigst vergraben, wenn er nicht vorzeitig, das heißt früher als der mit dem Teufel eingegangene Pakt bestimmt, von dem Bösen geholt werden will …

Lächle nicht mitleidig-ungläubig, teurer Leser. Was ich dir da erzähle, ist ein Stück von der wirklichen und wahrhaften Religion des Volkes, ist ein Stück »Volksmündigkeit«, von welcher du in Ständekammern und anderswo schon soviel vernommen hast. Ich fabuliere dir nichts vor. Es sind kaum zwei Monate her, seit an dem Orte Winterthur, 1860., wo ich dieses schreibe, ein Ehescheidungsbegehren statthatte, dessen Grundmotiv der Glaube an Alunen war. Eine Frau verlangte, von ihrem Manne geschieden zu werden, weil er einen der beschriebenen Froschalunen hätte, der ihm täglich einen Fünffrankentaler »legte«. Sie habe eines Tages unversehens das Zaubertier in dem Schranke ihres Mannes gefunden. Der »Froschteufel« habe sie so »grüsli angelugt«, daß sie zum Tode erschrocken sei. Ihr Mann habe sie dieser Störung des Zaubers wegen gemißhandelt und böslich verlassen. Sie wolle von ihm geschieden sein, denn er habe sich »droben im Toggenburg« einen »neuen Alun gemacht«, und sie fürchte durch Fortführung der Ehe mit ihm auch ihre Seele zu gefährden.

2.

Zur Herbstzeit von 1858 machte sich unser Jakob Simplicius eines Tages auf, um seine Schwester zu besuchen, welche in der Umgebung der Hauptstadt des Kantons an den Bauer Ezechiel Schäfli verheiratet war. Es kann nicht verschwiegen werden, daß das Ehepaar Schäfli, was seine geistigen Gaben und religiösen Vorstellungen betraf, in die Rubrik »Polizeiwidrige Dummheit« einzureihen war. Im übrigen ziemlich gutmütige Leute, namentlich dann, wenn ihre Habgier gehörig gekitzelt wurde.

Im Hause seines Schwagers traf Jakob eine ihm bislang unbekannte Frau, welche »wehwerte und grochzte«, das heißt sehr leidend sich anstellte und eine große Geschichte erzählte, daß sie lange im Kantonsspital erfolglos gelegen und überhaupt kein Arzt ihr zu helfen vermöge. Freilich sah die Leidende keineswegs kränklich aus; im Gegenteil, sie hatte energische Züge und war glatt und wohlgenährt, ja sogar korpulent. Aber warum hätte sie nicht wie Sir John Falstaff sagen oder wenigstens denken sollen: »Schmerzen und Sorgen blasen den Menschen auf.« Frau Schäfli teilte ihrem Bruder auf Befragen mit, die Wehwernde und Grochzende sei eine Frau Sibylle Gimmelig und von seiten der Armenpflege der Gemeinde bei ihnen, den Schäfli, »vertischgeldet«. Weiter hat sich der gute Jakob bei dieser Gelegenheit um die interessante Kranke nicht bekümmert.

Es wäre sehr gut für ihn gewesen, wenn auch er ihr kein tieferes Interesse eingeflößt hätte. Allein wie immer es zugegangen sein mag, Frau Sibylle hatte scharfäugig das Organ der Gläubigkeit an dem ehrenwerten Instruktor wahrgenommen, und sie war ganz dazu gemacht, derartige Wahrnehmungen auszunützen. Sie war eine Menschenkennerin im allgemeinen und im besonderen eine Kennerin der Männer, deren sie gegenwärtig bereits den dritten hatte. Im Jahre 1854 hatte sie sich nämlich zum drittenmal verheiratet mit dem Bonifaz Gimmelig, der früher ein ziemlich bedeutendes Vermögen besaß, es aber liederlich durchgebracht hatte und zur Zeit seiner Verehelichung mit Sibylle ein armer Teufel von Tagelöhner war.

Die würdigen Eheleute hatten sich gegenseitig angeschwindelt, indem jedes vorgegeben, es besäße Geld. Als nach der Hochzeit dieser Schwindel zerrann, wurde die Ehe alsbald eine sehr unglückliche, und statt, wie früher, einander etwas vorzulügen, trat an die Stelle der Vermögensdichtungen die Wirklichkeit gegenseitiger Zärtlichkeiten durch Fingernägel und Fäuste, bei welchen Bezeigungen der arme Tropf von Mann den kürzern zog. Er war überhaupt nur der Sklave seines Weibes. Beide waren – entschieden arbeitsscheu und genußsüchtig – zur Zeit unserer Geschichte der Armenpflege der Gemeinde zur Last gefallen.

Allein Frau Gimmelig war nicht gewillt, mit dem sich zu begnügen, was ihr auf Kosten der Gemeinde im Hause des Ezechiel Schäfli gereicht wurde. Unter dem Vorwand einer rätselhaften Krankheit, aus welcher kein Arzt klug werden konnte, hatte sie sich manche Zubuße zu verschaffen gewußt, und als diese Quelle versiegen gegangen, sann ihr erfinderischer Geist auf die Eröffnung anderweitiger. Sie wollte nicht nur leben, sondern flott leben. Und warum nicht? War sie doch erst achtunddreißig Jahre alt, eine nicht übel konservierte Frau mit noch sehr jugendlichen Neigungen und Leidenschaften. Wenn Shakespeares Fähndrich Pistol zufolge die Welt eine Auster ist, warum sollte Frau Sibylle sie nicht zu öffnen versuchen? Freilich besaß sie kein Schwert wie besagter Pistol, dagegen aber eine höchst zweckmäßig geschliffene Zunge.

Zunächst übte sie diese an ihren Kostgebern, bei denen sie sich in bedeutenden Respekt zu setzen wußte. Insbesondere dadurch, daß sie dunkle Andeutungen fallen ließ von einer glänzenden Zukunft, die ihr noch bevorstände. In diesen Andeutungen spielte der Herr Oberst und Millionenmann Mildherz eine große Rolle. Sie habe, erzählte Frau Sibylle treuherzig, aus ihrer ersten Ehe eine Tochter, welche den »fürnehmen« Namen Sophie führe. Nicht ohne Grund, denn Sophie hätte keinen geringeren Mann zum »Götti« (Paten) als den Herrn Oberst Mildherz, der für das junge Mädchen, das auf seine Kosten beim Herrn Gemeindeammann Hintz in Bern erzogen würde, bereits 10 000 Gulden »in eine Kasse« gelegt habe. Weiter wurden mysteriöse Winke hingeworfen, aus denen zu schließen war, das Verhältnis des Millionenmanns zu der jungen Sophie sei eigentlich noch ein viel innigeres. Natürlich mußte sich die Gnade des Herrn Mildherz auch auf die Mutter des Mädchens erstrecken. Aber gewisser »Verumständigungen« halber konnte sich diese Gnade an ihr, der Frau Sibylle, »dermalen« nicht offenbaren. In der Zukunft jedoch, ja, da werde es sich schon zeigen, was sie eigentlich für einen Stand bei dem Millionenmann habe. Da werde sie auch »in der Lage sein«, die Pflege und Freundschaft, der sie bei den Schäfli genieße, an diesen selbst und an ihren Verwandten »aufs schönste« zu vergelten. Nach diesen Präludien kamen Schlag auf Schlag bestimmte Versprechungen von bestimmten Geldsummen, prächtigen Kleidern, kostbaren Möbeln, Betten usw.

Ezechiel Schäfli und seine Frau glaubten und waren selig, denn der Glaube macht ja bekanntlich selig. Als Jakob Simplicius zur Fastnacht 1859 seine Schwester wieder besuchte, war diese der ihrer Familie bevorstehenden Herrlichkeiten voll und zählte dem Bruder an den Fingern her, was alles sie durch Vermittlung der liebwerten Frau Sibylle von dem teuren Herrn Oberst zu erwarten hätten.

Jakob verwunderte sich höchlich, biß aber an, »gläubete« ebenfalls und ging heim, seiner Jakobäa von diesen Wunderdingen zu erzählen.

3.

Eines Sonntags im Mai 1859 war Frau Jakobäa in die Kirche gegangen. Bei ihrer Rückkehr traf sie ein »fürnehmes« Gefährt vor dem Hause stehen, worüber sie »erschrak«. Man möchte sagen, über die arme Frau sei bei diesem Anblick eine Ahnung gekommen, daß eine unheimliche Macht in ihr friedliches Dasein zerstörerisch einzugreifen im Begriffe wäre. Ein schulmeisterlicher Logiker würde diese Ahnung in den Syllogismus auflösen: Die Landleute sind gewohnt, alles Herrenmäßige als etwas Bedrohliches mit Mißtrauen anzusehen; eine Kutsche sieht herrenmäßig aus, folglich schwante der Frau Jakobäa beim Anblick der vor ihrem Hause haltenden Kutsche nichts Gutes. So wäre der Gemütsvorgang, der nachmals in der Verhandlung vor dem Schwurgericht zur Sprache kam, psychologisch erklärt, und wir können nun der Jakobäa ins Haus folgen, wo sie bei ihrem Jakob unerwartete Gäste fand.

Nämlich den Schwager und die Schwägerin Schäfli nebst der liebenswürdigen Frau Sibylle Gimmelig, die zusammen in die Provinz herausgefahren waren, einzig und allein in der Absicht, dem guten Jakob Simplicius ein großes Glück anzukündigen. Frau Schäfli sprudelte nach Begrüßung der Schwägerin in heiligem Freudeneifer nur so heraus, daß der Herr Oberst Mildherz willens sei, ihrem guten Bruder Jakob ein schönes Geschenk zu machen, und zwar solle es bestehen in einem hübschen »G'werb«, der »wenigstens 15 000 Gulden kosten müsse«. Das war schon etwas. Indessen schien der Jakob die Sache doch nicht für ganz geheuer anzusehen. Es war doch gar zu wunderlich, daß er von einem Herrn, zu dem er nicht in entferntester Beziehung stand, Knall und Fall ein so außerordentliches Geschenk erhalten sollte. Schön wär's freilich, »kaibisch schön«, ja, ja … aber … »Was meinst, Frau?« Worauf Jakobäa kopfschüttelnd: »Ich glaub's nicht.«

Die ungläubige Thomasin hatte jedoch zunächst keine Zeit, ihren Unglauben zu begründen. Sie mußte in die Küche, um für ihre Gäste »ebbis z'Imbiß« zu bereiten. Aber nachdem, homerisch zu reden, die Begierde nach Speise und Trank gestillt war, nahm Frau Sibylle Gimmelig die Tagesordnung wieder auf, indem sie den ehrenwerten Instruktor sive Dreckstampfer fragte, ob er in der Umgegend keinen Bauerng'werb kenne, der ihm gefiele und feil sei. Der Herr Oberst Mildherz, ihrer Tochter … ja, das dürfe sie jetzt noch nicht sagen … kurzum, der Herr Oberst werde ohne weiteres mit besagten 15 000 Gulden herausrücken, weil selbiger Oberst seine Wohltaten auch dem Bruder der Frau zuwenden wolle, von welcher sie, die Sprecherin, so gut verpflegt werde. Sie sage nichts als die Wahrheit, die purste Wahrheit. Ja, »eidli bym Eid«, so tue sie.

Fiel dessenungeachtet die hartnäckige Jakobäa ein: »Pipperlipap und Bierestiel', 's ist neime nüd mit dem G'schenk und G'werb! Der Millionema ist ja der ärg'st Gythund (Geizhund) uff der Welt, der sich selber 's essen nit mag gonnen. Wie kam' der dazu, mir nüd dir nüd mym Man so ein grüsli großes Geld z'schenke?«

Arme Jakobäa, deine parlamentarische Opposition hatte das gewöhnliche Schicksal aller parlamentarischen Oppositionen. Dein Einwurf war wohlbegründet, deine Logik untadelhaft, aber wann haben Vernunft und Logik gegen Lüge und die »germanische Tugend des Vertrauens« aufkommen können?

Setzte nämlich Frau Gimmelig ihre sibyllinische Zunge in Bewegung, mindestens so süß wie Zucker und nicht viel langsamer als das hin und her schießende Schifflein eines mechanischen Webstuhls, und wurde von dieser Zunge die zweifelnde Jakobäa zu Boden geredet, unwiderstehlich, erbarmungslos. Da sei, eidli bym Eid, »nüd Ungerades« an der Sache! Der Herr Oberst sei »persönlich« geizig, ja freilich, nicht zu leugnen das! Herentgegen sei er auch »Präsident der Freimaurer und Wohltäter« und im Auftrage besagter Gesellschaft habe er große Summen an brave Leute, »die es brauchen können und dessen würdig sind«, zu verteilen. Erst vor kurzem hätten die Freimaurer zu solchen Zwecken eine ungeheure Summe erhalten. Woher wohl? Woher sonst als aus Paris? Mehr als 2000 Millionen, eidli bym Eid! Was da so ein »Schlötterlig« von 15 000 Gulden zu sagen habe? Nicht der Rede wert. Aber freilich, Beweise oblegen müsse man, insonderheit durch Freigebigkeit, daß man der Wohltaten der Freimaurer würdig sei.

Dem guten Jakob Simplicius ging bei solcher Beredsamkeit mehr und mehr das Licht, nein, eine wahrhafte Fackel des Glaubens auf. Um so mehr, da Schwester und Schwager Schäfli die Orakelsprüche der Frau Sibylle vollkommen bestätigten, und zwar mit einer Begeisterung, die Jakobum überzeugten, die beiden müßten die ihnen in Aussicht gestellten »Geschenke« bereits empfangen haben. Und warum sollte er diese Überzeugung nicht haben? Waren doch – wunderbar zu sagen! – die Schäfli selber überzeugt, die ihnen von seiten der Frau Gimmelig gemachten Versprechungen seien bereits erfüllt. Angesichts dieser aktenmäßig feststehenden Tatsache dürften selbst die Jeremiasse der Wiener und Berliner Kirchenzeitungen zugeben, daß in Israel noch immer eine erkleckliche Portion Glauben zu finden sei.

Frau Jakobäa zwar gab ihren Widerstand gegen die Bestrickung ihres Mannes durch die »Schlangengosche« – wie sie Frau Gimmeligs beredsames Mundstück rücksichtslosdrastisch bezeichnte – noch nicht auf, aber sie wurde überstimmt. Dem Jakob ging der zu erwartende, »mindestens« 15 000 Gulden werte »G'werb« wie ein Mühlrad im Kopf herum, dessen nie besonders gut bestellt gewesene Regierung dadurch in völlige Anarchie aufgelöst wurde. Frau Sibylle konnte unschwer bemerken, daß der Zweck ihrer Fahrt nach Tannenbach vollständig erreicht worden sei: das ausersehene Opfer hielt lammfromm sein Fell zum Scheren hin. Warum sollte jene zögern, die Schere anzusetzen?

4.

In der Tat, sie zögerte nicht lange. Schon vier Tage nach ihrem ersten Besuch in Tannenbach kam sie abermals angefahren, und zwar ohne Begleitung. Frau Jakobäa war allein zu Hause, und es steht zu vermuten, daß sie der über die Maßen zutulichen Besucherin nicht eben den freundlichsten Willkomm geboten habe. Aber soll sich ein fühlend Herz, das am Wohltun seine Freude findet, durch derartige Inkonvenienzen von seinen hohen Zwecken abbringen lassen? Bewahre!

»Maul' du, wie du willst,« dachte Frau Sibylle und zog mit großartigen Gebärden einen Brief aus der Tasche, welchen, sagte sie, der Herr Oberst Mildherz an der »Marktgasse« der Hauptstadt an seinen guten Freund Jakob Simplicius geschrieben. Diese Epistel lautete nicht anders, als von einem Präsidenten der »Wohltäter« zu erwarten war. Der Herr Oberst kündigte Simplicio an, er »wollte für 70 000 Franken sorgen«, welche Simplicius demnächst erhalten werde. Er, der Herr Oberst, lebe der Erwartung, daß Jakob »sein Glück nicht mit Füßen treten würde«. Als Moral der Fabel kam hintennach der erste Zwick mit der Schere: Frau Gimmelig forderte von der Jakobäa 60 oder 100 Franken, natürlich nicht etwa für sich, sondern für »höhere Zwecke«. Frau Jakobäa erklärte rundweg, sie könnte sich auf so etwas nicht einlassen. Da kam aber der Jakob nach Hause, und nun nahm die Sache eine günstigere Wendung. Die Siebenzigtausendfrankenepistel wurde vorgebracht, und ihr Inhalt gefiel dem Manne höchlich. Weniger allerdings gefiel ihm, daß er, statt Geld zu bekommen, vorderhand welches geben sollte. »Wenn Sie das Geld nicht hergeben, so ist alles nichts. Sie müssen dadurch dem Herrn Oberst beweisen, daß Sie freigebig sind. Wer das nicht ist, von dem zieht der Präsident der Freimaurer alsbald seine Hand ab.« – »Aber wozu ist denn das Geld, was ich hergeben soll, bestimmt?« – »Das darf ich nicht sagen.«

Mit diesem Bescheide begnügt sich Jakobus. Er holt aus der Kammer 50 Franken, er geht zu einem Nachbar, um von ihm weitere 50 Franken zu entlehnen. Als er die 100 Franken an Frau Sibylle übergibt, sagt er so beiläufig etwas von einem ihm auszustellenden Schuldschein. Sie aber schnell und hochherab: » Das darf nicht sein, sonst ist alles umsonst! Das Geld muß nur so anvertraut sein, und Sie dürfen von dem ganzen Handel keinem Menschen etwas sagen.«

Sprach's, die »Schlangengosche«, und verschwand mit ihrer Beute. Abermals jedoch ließ sie nur vier Tage verstreichen, bis sie wiederum in Tannenbach erschien. Wiederum mit einem Brief an den »wertgeschätzten Herrn« Simplicius ausgerüstet, worin der Herr Oberst für die empfangenen 100 Franken »ehrerbietigst« dankte, seinem freigebigen Freunde zu den mehrerwähnten 70 000 Franken hin noch ein »schönes Heimwesen« versprach – Simplicius sollte sich ein ihm zusagendes nur ungeniert in der Umgebung der Hauptstadt aussuchen – schließlich jedoch abermalen 50 »Fränkli« oder »mehr« verlangte.

Wer konnte einem solchen »Präsidenten der Wohltäter« etwas abschlagen? Jakobus gab die 50 Fränkli und fuhr mit der Frau Gimmelig nach der Stadt, um sich in der Nachbarschaft derselben ein »Heimwesen« auszusuchen. Er fand auch wirklich eins, das ihm ganz besonders gefiel »von wegen dem Baumgarten«. Bei Gelegenheit dieser Auskundschaftung zeigte Frau Sibylle unserm Simplicius ein schönes Haus, welches, sagte sie, der Herr Oberst um die Summe von 23 000 Gulden angekauft und ihr geschenkt hätte. Schwager und Schwester Schäfli, bei denen Jakob einsprach, bestätigten eifrig dieses und alles andere Mögliche und Unmögliche. Sie redeten Simplicio zu, er sollte nur Geld hergeben, soviel er auftreiben könnte: es werde ihm ja doch hundert- und hunderttausendfach ersetzt. Darauf gab der Glaubenseifrige an jenem Tage, soviel er noch bei sich hatte, nämlich 35 Franken, gab sie um so bereitwilliger, als Frau Gimmelig sich herabließ, ihm zu sagen, wozu das Geld bestimmt sei. Der Herr Oberst Mildherz habe nämlich eine Tochter, für welche er große Zärtlichkeit hege. Diese liege schwer krank zu Morgenthal im Kanton Bern. Auf ihre Heilung müsse das Geld eines »braven« Mannes verwendet werden, so eines Mannes vom Schlage Jakobi Simplicii, »ehrlich erworbenes Geld«.

Schon am 2. Juni war Frau Sibylle wiederum in Tannenbach, kläglich vorstellend, die 35 Franken hätten nicht gewirkt und es sei mit der Tochter des Herrn Oberst »nicht besser worden«, weil »Frau Schäfli das Geld gesehen hat«. Jakobus durfte natürlich nicht anstehen, der kranken Tochter seines Wohltäters nach Kräften beizuspringen, und übergab daher seiner Freundin Gimmelig 150 Franken. Fünf Tage darauf beglückte sie ihn bereits wieder mit ihrer Gegenwart. Ach, du lieber Himmel, auch die 150 Franken hatten keine Wirkung getan! Es sei gewiß kein »gutes« Geld gewesen und müsse daher »anderes« geschafft werden. Diese Pille war aber gehörig überzuckert. Denn, sagte die süße Frau Gimmelig, der liebe Herr Oberst habe das bewußte Heimwesen in aller Stille schon für den wackern Jakob angekauft; aber dieser solle beileibe ja noch keine Silbe von der Sache verlauten lassen.

Gehorsam schwieg Simplicius und gab 250 Franken her, wofür ihm die Empfängerin von seiten des Herrn Oberst noch gütigst mitteilte, dieser wünschte, daß Jakob sein Amt als Rekrutendriller aufgäbe, weil er ja doch »die Anstrengung nicht verleiden (ertragen) möge und das Dreckstampfen fürder auch gar nicht nötig habe«. Der gute Mann kam dem aus so zarter Rücksicht für seine Gesundheit geflossenen Wunsche getreulich nach, indem er bei der ersten Gelegenheit seinem Vorgesetzten technisch-drastisch erklärte, »er wolle keinen Dreck mehr stampfen« …

Und weiter und weiter ging die Komödie, in ihrem Vorschritt von Szene zu Szene so lächerlich absurd sich gestaltend, daß es rein unmöglich wird, den Mann zu bemitleiden, der sich durch eine so abgeschmackt plumpe Gaukelei betrügen ließ. Der Wohnsitz des Herrn Mildherz war kaum eine halbe Tagereise von dem unseres Simplicius entfernt. Warum fiel ihm nie ein, einmal hinzugehen, um sich von dem »Präsidenten der Wohltäter« Aufschluß zu erbitten? Aber freilich, er stand so willenlos unter dem Einfluß der Betrügerin, daß er schlechterdings nicht wagte, ohne Wissen und Willen derselben irgend etwas zu sagen oder zu tun. Sie ihrerseits sorgte schon dafür, den Verstrickten gar nicht mehr zu Atem kommen zu lassen.

Nur wenige Tage nach ihrem letzten Beutezug nach Tannenbach kam Frau Gimmelig wieder, tat sehr ängstlich und sagte, der Herr Oberst selbst sei schwer erkrankt. Seine Herstellung erfordere »viel und lauter reines Geld«, sowie einen »Vierling Zwetschgen, keine mehr und keine weniger«. Jakob schaffte Zwetschgen und Geld, von letzterem in immer kürzeren Zwischenräumen immer größere Summen, 400, dann 600, dann 1000, dann 1800, dann 2000 Franken und so weiter. Die sibyllinischen Forderungen wuchsen lawinenmäßig. Um aber den armen Simplicius bei guter Laune zu erhalten, variierte Frau Gimmelig ihr Thema mannigfach. Bald kündigte sie dem Jakob den Besuch seines Wohltäters an, bald »böserte«, bald »besserte« es wieder mit dem Millionenmann. In der ersten Hälfte des Juli schrieb sie nach Tannenbach, so viele hundert Franken der Jakob schicke, so viele Jahre würde der Herr Oberst noch leben. Simplicius trieb 3000 Franken auf und schickte ihr die ganze Summe. Als Antwort schrieb sie: »O welche Freude! O, welche entzückende Freude! Aber auch welches Erstaunen! Der Herr Oberst kann jetzt noch dreißig Jahre leben. Herzlichen Dank vom Herrn Oberst und der ganzen Familie!« Etliche Tage darauf schickte der unermüdliche Jakob abermals 600 Franken und empfing zum Dank einen Brief, worin Frau Sibylle meldete: »Ich habe gestern abend sechs Uhr die 600 Franken erhalten. Um halb sieben Uhr bin ich beim Herrn Oberst gewesen und hab' ihm das Geld in die Hand gedrückt. Alsbald hat der kranke Mann wieder reden gekonnt und hat gesagt: ›O, du lieber Simplicius!‹ und dabei sind ihm die Freudentränen aus den Augen gelaufen.«

Ein Faden in diesem unerhört dreisten Lügengewebe war Wahrheit. Der Herr Oberst Mildherz nämlich war wirklich erkrankt, und zwar rettungslos. Zu Anfang August starb er. Bei der Stellung, welche der Millionenmann eingenommen, war sein Tod ein öffentliches Ereignis, dessen Kunde mit Blitzesschnelle durch das Land ging. In das simplicische Haus zu Tannenbach muß sie so recht wie Blitz und Donner geschlagen haben.

Es kam aber alsbald Trost und Stärkung in Gestalt eines Sendschreibens der treuen Frau Gimmelig. Denn kaum hatte diese vernommen, daß der Herr Oberst hingegangen, »wo kein Licht mehr scheinet«, als sie sich mit dem ganzen Heroismus des Humbugs hinsetzte und an Jakob Simplicius also schrieb: »Oh, welch trauriger Bericht! Unser Wohltäter ist entschlafen. Wenn Ihr aber noch etwas tun könnet, so wird er wieder lebendig! Es müssen aber wenigstens 600 Franken sein.« Frau Sibylle ließ es beim Schreiben nicht bewenden, sie sandte noch die Frau Schäfli als Trostbotin nach Tannenbach, wo sich die Gute vernehmen ließ, »der Herr Oberst sei tot, allweg; aber es sei nur ein Nervenschlag, und der Tote könne wieder gerettet werden: 1. weil er ein Geist sei, 2. weil er als Freimaurer das Gebot nie übertreten habe und 3. weil er die Macht eines Apostels habe, wieder aufzustehn«.

Und siehe, Jakobus Simplicius gläubete!

Laß dir, teurer Leser, darob nicht etwa den Verstand stillstehen. Es ist schon genug, daß er Jakobo stillgestanden, – ach, und wie!

Gläubete also, der arme Jakob, und tat einen letzten Ruck, machte eine übermäßige Anstrengung, um den hohen Wohltäter wieder von den Ufern des Acheron zurückzurufen, und brachte erst die verlangten 600, dann auf abermaliges Verlangen noch 1000 Franken zusammen und schickte die Gelder dahin, wohin er schon so viele geschickt hatte. Am 14. September empfing er mit der Bescheinigung richtigen Empfangs zugleich die frohe Botschaft, daß am nächsten Montag »ihr Wohltäter ihnen wieder werde geschenkt werden«, und etliche Tage später die noch frohere, »der Herr Oberst sei wirklich wieder vom Todesschlaf erwacht; es bedürfte jedoch zu seiner völligen Wiederherstellung noch etzlichen Geldes«.

Und siehe, Jakobus gläubete und mühte sich in seinem Glauben verzweiflungsvoll, neue Gelder aufzutreiben. Denn sein Wille war stark, aber sein Kredit war futsch …

Der Unglückliche hatte nicht Rast noch Ruhe mehr. Nach schlaflosen Nächten verbrachte er die Tage mit neuen Versuchen, Geld herbeizuschaffen. Sein Wahn hatte mählich die Gestalt einer fixen Idee angenommen. Er glaubte, daß er sich »schwer versündigte«, wenn er den Herrn Oberst nicht rettete, und doch vermochte er es nicht. Gepeinigt einerseits durch die ewigen Forderungen der Frau Gimmelig, gequält andererseits durch die Unmöglichkeit, diese Forderungen ferner zu befriedigen, wurde der Arme in unablässiger Seelenangst umgetrieben.

Seine Frau Jakobäa nicht minder. War es für sie schon eine unerträgliche Pein, ihres Mannes Geheimnis vor aller Welt verbergen zu müssen, so wurde die Qual ihrer Lage noch dadurch erhöht, daß sie trotz des felsenfesten Glaubens ihrer Familie dennoch immer wieder das wahre Wesen der Frau Sibylle erkannte. Freilich auch nur auf Augenblicke. Die gute Jakobäa litt aber noch unter einem andern Motiv der Beängstigung. Ihr Mann sollte für das, was er gab, so unmenschlich viel Geld zurückerhalten? Konnte das »mit rechten Dingen« zugehen? Nein! Das Geld sollte von dem Herrn Oberst Mildherz kommen. Woher hatte dieser seinen ungeheuren Reichtum? Von den »Alunen«, wie jedermann wußte. Also darauf wollte das Ding hinaus? Ihr Jakob sollte in das Teufelszeug hineingezogen werden? Er mußte gewiß »etwas unterschreiben« oder, gerade herausgesagt, »seine Seele dem Teufel verschreiben«, ja, ja! … Ob wohl die Prediger der »Umkehr zur kindlichen Gläubigkeit der guten alten Zeit« – wir meinen die ehrlich-dummen – noch so fest darauf beständen, wenn sie sich mal das Elend klar machten, welches unter das Dach des Jakob Simplicius eingezogen war?

Bis zum November 1859 spielte das aberwitzige Stück vom toten und wiedererstandenen Millionenmann. Dann hörte es auf, denn Jakob war jetzt ein Bettler. Das Schaf war nicht nur völlig kahl geschoren, es hatte sogar eine beträchtliche Partie fremder Wolle der eigenen nachgeworfen. Ohne Bild, Jakob Simplicius hatte sich von der Sibylle Gimmelig nach und nach die Summe von 14 000 Franken ablügen lassen, eine Summe, die so weit über sein eigenes Vermögen ging, daß seine Gläubiger, bei denen er unter allerlei Vorwänden Geld aufgenommen hatte, Anstalt trafen, ihn wegen Betrugs zu belangen. Das machte endlich die ganze Schwindelblase platzen.

5.

Falls dem absoluten Blödsinn überhaupt Tragik innewohnen könnte, so würde ich sagen, daß mit Vorstehendem die tragische Seite dieser Geschichte erledigt sei. Jedenfalls kommen wir jetzt zur komischen, die ich unsern stoffhungrigen Komödienschreibern hiermit zu geneigter Berücksichtigung empfohlen haben will.

Frau Sibylle Gimmelig wohnte, seitdem die simplicischen Gelder flüssig geworden, nicht mehr bei den Schäfli, sondern zuerst in der Stadt, dann in einer »Außengemeinde« derselben. Sie hatte sich auf großartigem Fuß eingerichtet und warf das Geld etliche Monate lang mit vollen Händen weg. Sie hatte auch ihren Tropf von Mann zu sich genommen, aber er war nur ihr erster Bedienter, dessen sie sich bei ihren Schwindeleien als eines Schreibers bediente. Er mußte ihr unbedingt zu Willen sein; denn, wie er nachmals vor Gericht angab, »sonst hätte sie ihn verzehrt«. Es waltete in diesem Weibe ein dämonischer Hang, zu lügen, zu betrügen, Unfug zu stiften; auch ein gewisser Humor der Schelmerei und nicht minder endlich eine zügellose Sinnlichkeit. Aus dieser entsprang, wie übrigens hier nicht weiter erörtert werden kann, ihre beharrliche Simulation, krank zu sein. Ihr Mann mußte fortwährend nach Ärzten rennen. Sie hatte deren nach und nach nicht weniger als fünfzehn. Zuletzt, vom Juli an, einen jungen angehenden Arzt, Herrn Doktor Habakuk Hoffegut. Diesen behielt sie und machte ihn zum Helden eines Lustspiels, das sie in Szene setzte, wie folgt.

Seine Patientin, in welcher der junge Arzt ihrer ganzen häuslichen Einrichtung zufolge eine sehr wohlhabende Frau sehen mußte, erkor ihn zu ihrem Vertrauten. Sie schilderte ihm ihre Vermögensumstände und erzählte ihm auch von ihrer Tochter Babette, welche beim Herrn Gemeindeammann Hintz in Bern erzogen werde. (Die zärtliche Mutter hatte also vergessen, daß diese ihre Tochter früher Sophie hieß.) Der Herr Oberst Mildherz sei der Pate des jungen Mädchens und habe ihm bereits kolossale Schenkungen gemacht, nicht weniger als 30 000 000 Franken. Als mein Herr Doktor Hoffegut – er war unlängst zu Basel gedoktert worden – über einen so millionärisch freigebigen Paten die Augen sperrangelweit aufriß, kam zu seiner Vergewisserung hinter einem dünnen Schleier die uns schon bekannte Legende wieder zum Vorschein, daß nämlich der Millionenmann nicht allein der geistliche, sondern auch der leibliche Vater der schönen Babette sei.

Nun wohl, mein Herr Doktor gläubete an die Babette und ihre 30 Millionen Mitgift. Warum auch nicht? Sollte etwa der fürtreffliche junge Mann gegen das Heil des alleinseligmachenden Millionenglaubens unserer Zeit ketzerisch sich verhärten? Mitnichten, und gewiß um so weniger, als ihm ja dieses Heil immer lieblicher und lockender sich darstellte. Nämlich, die hochherzige Frau Sibylle ging nach den erwähnten Präludien mit der Eröffnung heraus, das Dreißigmillionenbabettli sollte den jungen Arzt heiraten, zum Danke dafür, daß er sie, die arme kranke Mutter, so geschickt und treufleißig behandelte.

Meinem jungen Herrn Medizinmann wurde bei der plötzlichen Eröffnung dieser Aussicht in das Zauberland einer märchenhaften »Fortune« etwas schwindlig. Hunderttausende, was sag' ich? Millionen von güldenen Napoleonen tanzten ihm »sinnverwirrend und herzbetörend« vor den Augen herum. Nachdem er sich wiederum einigermaßen gefaßt und erkannt hatte, daß ihm alles Ernstes eine Dreißigmillionenbraut sozusagen auf dem Teller präsentiert werde, griff er als praktischer Schweizer frisch zu. Immer frischer dann, als das Goldbabettli aus freien Stücken von Bern her eine gar anmutige Korrespondenz mit ihm eröffnete. Geschah das zu Anfang September, wo unser praktischer Jüngling einen Schreibebrief erhielt, unterzeichnet »Babette Drollinger« und vermeldend, wie glühend dankbar die Schreiberin gegen den Herrn Doktor gesinnt sei von wegen der fürtrefflichen Behandlung ihrer Frau Mutter durch ihn und wie sehnlich sie wünsche, diesen Dank ihm auch persönlich abzustatten, zu welchem Zwecke sie eine Zusammenkunft im Heinrichsbade bei Herisau vorschlug.

Wer vermöchte solcher Liebenswürdigkeit einer Dreißigmillionenschönen zu widerstehen? Unter Vermittlung der Frau Mutter, durch deren Hände die ganze Korrespondenz ging, drückte unser junger Medizinmann seine wohlstilisierte Rührung aus über des Fräuleins reizendes Entgegenkommen, sowie die Versicherung, daß er im Heinrichsbade nicht fehlen würde. Fehlte auch wirklich nicht daselbst, reiste in Gesellschaft der hochherzigen Frau Mutter hin. Wer aber nicht kam, war das Goldbabettli. Schlimm das, aber begreiflich; denn, hieß es in einem statt der Schönen anlangenden Briefe, ihrem Götti Hintz seien 80 000 Franken gestohlen worden. Mein Herr Doktor begriff, daß einem oder einer eine solche »Familienangelegenheit« wohl die Reiselust vertreiben könne, und tröstete sich mit einer bezaubernden Epistel, welche er bei seiner Nachhausekunft vorfand und worin die Güldene schrieb: »Teuerster Herr Doktor! Legen Sie doch mein Ausbleiben im Heinrichsbad nicht falsch aus. Könnten Sie in mein Inneres sehen, wie es darin glüht von wahrer Freundschaft, die an Liebe grenzt, so würden Sie nicht zweifeln. Nie hab' ich geglaubt, daß die Sehnsucht nach einem teuren Freund mich so quälen könnte.« In der Inbrunst ihrer Gefühle vergaß die junge Briefschreiberin, daß sie eigentlich den »teuersten Herrn Doktor« noch gar nicht gesehen, und schrieb frischweg: »Wiedersehen sind meine süßesten Träume. Verzeihen Sie meine zuvorkommende Gesinnung. Ihre Babette Drollinger.«

Die süße Babette! Welche reizende Zuvorkommenheit! Mein Herr Doktor Hoffegut ging herum wie eine bis zum Zerspringen geladene Armstrongkanone, berstend schier vor Zukunftsglückseligkeitshochgefühlen. Nicht auszuhalten, so ein geladener Zustand! »Dichter lieben nicht zu schweigen«, hat ein gewisser Goethe gemeint; aber Verliebte noch weniger und Glückliche am allerwenigsten. Mein der Arznei- und Verheiratungskunst Beflissener hatte einen Herzensfreund. Wer wähnte nicht einen solchen zu haben, solange man jung und dumm? Diesem Bruderherz oder Herzbruder schoß er die Hoffnungsladung seiner Seele ins Gesicht. »Hör' mal, du, im engsten Vertrauen.« – »Natürlich, kannst dich drauf verlassen.« – »Denk' dir, könnt' jetzt eine haben mit 'ner Million.« – »Was? Bist wohl letzköpfig!« – »Bewahre! Wenn ich der Tochter nur halb so gut gefalle wie der Alten, so ist das G'schäftli im reinen.«

Ein merkwürdig eitler und selbstgefälliger Junge, nicht wahr? Behüte, behüte! Er sagte nur die Wahrheit, da er der »Alten« in der Tat höchlich gefiel. Bezeugte doch die hochherzige Frau Sibylle ihr Wohlgefallen an dem jungen Manne nicht allein mit Worten, sondern auch mit Werken, indem sie ihm während der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft nach und nach Geschenke im Betrage von mehr als 1000 Franken machte.

Bei einer späteren Gelegenheit fragte der also Honorierte seinen Freund: »Was meinst, wieviele Millionen hat meine Braut?« – »Wieviele? Hm, ich will sagen drei.« – »Lange nicht genug geraten! Mußt eine Null zu der Ziffer 3 hinzutun.« – »Herrschaft! Dreißig? Famos! Pompös! Pyramidalisch!« – »Ja, es tut's. Sobald ich das Geld habe, bekommst du auch 100 000 Franken.« Man sieht, unser glückseliger Bräutigam war ein generöser Bursche. Schade, verteufelt schade, daß solche generöse Burschen in der Regel keine Millionäre sind. Sein Herzensfreund hielt ihn aber jedenfalls von Stund' an für einen »sehr gelungenen Kerl«, wahrscheinlich sogar für einen großen Mann.

6.

Im September 1859 fuhr eines schönen Morgens unser Herr Doktor in Gesellschaft seiner zukünftigen Schwiegermama in einem Eisenbahnwagen erster Klasse nach der Bundeshauptstadt Bern. Seine Mittel erlaubten ihm das; denn er hatte zu dem Zwecke, den Reisezahlmeister zu machen, eine goldschwere Börse von seiner Patientin und Begleiterin erhalten. Seine Laune war glorios: dampfte er doch der Erfüllung seiner Hoffnungen entgegen. Die süße Babette hatte ihn zu einer Zusammenkunft in das Gasthaus zum Bären in Bern geladen.

Aber es waltet auch über diesem zweiten Zusammenkunftsprojekt ein eigener Unstern. Mein Herr Doktor Hoffegut wartet der Ersehnten im Bären einen Tag, zwei Tage lang. Sie kommt nicht. Seine Sehnsucht wird zum Fieber, seine Geduld ist zu Ende. Er dringt in die verehrte Schwiegermama in spe, ihm doch endlich den Anblick ihrer Tochter zu verschaffen. Frau Sibylle geht aus und kommt nach etlichen Stunden mit der Botschaft zurück, der Herr Götti wolle Babette nicht aus dem Hause lassen, weil ein Herr Soundso aus Niflheim da sei, welcher Absichten auf das Mädchen habe und von dem Herrn Götti begünstigt werde.

Was? Ein Nebenbuhler? Quer das, verteufelt quer! … Ich weiß nicht bestimmt, ob unser Kandidat des Millionarismus bei dieser passenden Gelegenheit sich daran erinnerte, daß ein gewisser Shakespeare mal gesagt hat:

»Was ich nur je in Büchern las und was ich
Erzählen hört' in Märchen und Geschichten,
Bestätigt mir, daß treuer Liebe Weg
Nie führt die Liebenden auf eb'ner Bahn« –

aber was ich bestimmt sagen kann, ist, daß die geneigte Leserin dieser Historie nicht den entferntesten Grund hat, für ihre Nerven bange zu sein. Unser Herr Doktor war viel zu gescheit, den Horribilikribrifax spielen zu wollen, – behüte! Es gab keine tragischen Wutblicke, keine Herausforderung, kein Degenschleifen, kein Pistolenladen. Eine »praktische« Jugend der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist über derartigen romantischen Schnickschnack so ziemlich hinweg. Kurzum, unser vortrefflicher junger Mann ließ den Nebenbuhler Nebenbuhler sein und hob sich von dannen, zu fahren gen Thun, allwohin Frau Sibylle in »möglichster Bälde« mit ihrer Tochter nachzukommen versprach.

Diesmal wartet der treue Schäfer nicht vergebens, nein, beim Jupiter! Wer fährt nach etlichen Tagen vor dem Gasthause zur Krone in Thun vor? Wer anders als die teure Frau Sibylle? Und zwar nicht allein, sondern in Gesellschaft einer »niedli-netten« jungen Dame mit Krinoline, Amazonenhütlein, Schleier und allem sonstigen Zubehör. Das Heil ist erschienen, die Sonne der Erfüllung ist aufgegangen, die Dreißigmillionenbabette ist da!

Und siehe, er sah sie an und sie sah ihn an, und es war akkurat so, wie wenn ein brennendes Schwefelhölzchen in ein Bund Stroh fällt. Wie das brannte und loderte! Man kann es anständigerweise nicht in Prosa beschreiben, man muß Verse zitieren:

»Mein Herz, ich will dich fragen:
Was ist die Liebe? Sag'!«
»Zwei Seelen und kein Gedanke,
Zwei Köpfe und kein Hirn.«

Das reimt sich allerdings nicht, indessen sollen ältere Leute meinen, es sei doch nicht so ganz ungereimt.

Aber zum Henker mit der nach Essig riechenden Weisheit des Alters! Es lebe die Jugend, das Leben, die Liebe! Kellner, Champagner auf den Tisch, damit unser Habakuk mit seiner Babette anklinge!

So geschah's auch, und es war eine »gemütliche«, fröhliche Abendmahlzeit in der Krone zu Thun.

Ich sagte, der hoffnungsvolle Jüngling habe mit seiner Babette angeklungen, und dazu war ich vollauf berechtigt, denn die Vereinigung dieser beiden jungen liebebedürftigen Herzen bewerkstelligte sich, wie in unserer Zeit so vieles, mit Dampf. Nach einer Nacht voll goldener Träume machte nämlich unser Herr Doktor folgenden Tages mit seiner Erwählten eine Landpartie. »Da«, – so gab er nachmals zu den Akten – »da wurden wir einig, denn sie hatte mich gern und ich sie. Es war alles bald abgemacht.«

Doch nicht so ganz alles, du glücklicher Zukunftsmillionär!

Die niedli-nette Babette erklärt, sie müßte nach Spindelnheim, dem Wohnsitz des hochseligen Herrn Oberst Mildherz, und zwar »in Erbschaftsangelegenheiten«, werde aber binnen einiger Tage wiederkommen. »Ach was,« sagte Frau Sibylle, »es handelt sich ja nur um 15 000 Franken. Was willst du dich wegen des Bettels verinkommodieren!« Babette ist jedoch anderer Ansicht, und obwohl ihr Bräutigam sie ungern abreisen sieht, so erblickt er in ihrer Sorglichkeit doch eine weitere Bürgschaft seines Glückes. Mutter und Tochter reisen ab, nachdem bestimmt worden, daß mein Herr Doktor sie im Hôtel Ritschard in Interlaken erwarten sollte.

Dort erscheint bei dem Harrenden die Mutter allein, weil, sagt sie, die Tochter »Geschäfte halber« noch in Bern zurückgehalten werde. Der Bräutigam trägt seine Sehnsucht unter den prächtigen Nußbäumen von Interlaken spazieren und ißt im Kursaale Gefrorenes, um seines Herzens Gluten zu dämpfen. Folgenden Tages kommt die Braut, aber leider muß sie – o, die verhenkerte »Erbschaftsangelegenheit!« – sehr bald wieder abreisen.

Zum Troste des jungen Mannes bleibt seine Frau Schwiegermama bei ihm.

Im Berner Oberland auf splendidem Fuße zu reisen kostet aber, wie wohlbekannt, nicht wenig Geld, und demzufolge geschah es, daß die Reisekasse der Reisegesellschaft Sibylle und Habakuk – sie hatte etwas mehr als 1200 Franken enthalten – nach dreiwöchiger Benutzung leer war. Kein Wunder daher, daß gerade zu dieser Zeit der arme Jakob Simplicius in Tannenbach zur gänzlichen Herstellung des aus dem Grabe wiedererstandenen Millionenmanns so nachdrucksam in Anspruch genommen wurde. Die Rückreise wird angetreten. Frau Sibylle bleibt in Aarau zurück, wo sie »Geschäfte hat«, und mein guter Herr Doktor hat die Freude, bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt seines Heimatlandes sofort seine teure Millionenbraut zu treffen.

Aber, um's Himmels willen, was ist denn das? Der An- und Aufzug des jungen Mädchens sieht ja gar nicht millionenmäßig aus! Mein Herr Doktor stutzt, fragt, drängt, inquiriert. Das junge Mädchen bricht in Tränen aus und fleht ihren Bräutigam um Verzeihung an, weil sie eigentlich keine dreißig Millionen schwere Babette Drollinger, sondern eine arme Weißnähterin, namens Kleophea Leichtfuß … Sie hat sich von der Frau Sibylle Gimmelig gewinnen und abrichten lassen, deren Tochter vorzustellen und die Millionenbraut zu spielen.

Spiegelfechterei der Hölle! Ärmster aller Zukunftsmillionäre, halte deinen Hut vors Gesicht, damit wir in diesem schrecklichen Augenblick deine Mimik nicht sehen.

Du gibst jedoch das Spiel noch nicht gänzlich verloren. Das müßte denn doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein junger Mann von wissenschaftlicher Bildung aus dem Schiffbruch so kolossaler Hoffnungen nichts, gar nichts zu retten wüßte.

In drohendem Tone wendet sich mein Herr Doktor an die Exschwiegermutter. Sie bestellt ihn zu einer Zusammenkunft in Aarau. Dort sagen sich die beiden verschiedene umgekehrte Höflichkeiten, und mein junger Medizinmann stellt schließlich Madame das Ultimatum: Entweder eine Entschädigungssumme oder gerichtliche Belangung. Sie: »Wieviel wollen Sie denn zur Entschädigung haben?« – Er: »Zehntausend Franken.« – Sie: »Bah, schreien Sie doch nicht so wegen so eines Lumpengeldes! Sie sollen den Bettel haben.« Und großartig setzt sie sich hin und schreibt dem Doktor einen auf 10 000 Franken lautenden Schuldschein. Froh des Besitzes dieser kostbaren Urkunde, eilt unser Gentleman heim und manifestiert, daß er ein fühlendes Herz in der Brust trage. Denn siehe, er verzeiht nicht nur der Jungfer Kleophea Leichtfuß vollständig, sondern verlobt sich aufs neue feierlich mit ihr, beifügend, er wolle mit ihr nach Amerika auswandern, sobald er das Reisegeld, d. h. die bewußten 10 000 Franken, einkassiert habe.

In dieser unserer Welt, deren bedenkliche Unvollkommenheit, ja gänzliche Nichtigkeit und Verworfenheit lange vor Schopenhauer schon verschiedene Propheten, Heilande und Kirchenväter entdeckt und gepredigt haben, – in dieser unserer Welt, sag' ich, haben leider gerade die edelsten Aufschwünge und großmütigsten Absichten häufig widerwärtigste Hindernisse zu befahren. Zwar führte unser weiland Leibarzt einer hochherzigen Frau Sibylle seine Exmillionenbraut für etliche Tage in die Bäder von Baden im Aargau und stellte sie der dortigen Gesellschaft als sein »liebes Fraueli« vor. Allein nach der Heimkehr von Baden schlug sein hitziges Liebesfieber plötzlich in ein kaltes um. Nicht etwa infolge der Bestandlosigkeit alles Irdischen im allgemeinen, auch nicht infolge jener Unbeständigkeit im besonderen, welche die Männer den Frauen und die Frauen den Männern herkömmlicherweise vorzuwerfen pflegen, sondern rein nur aus nationalökonomischen Gründen. Die Schuldverschreibung der Frau Gimmelig konnte schlechterdings nicht realisiert werden, weil besagte Dame inzwischen von Polizei und Gerichts wegen sehr ungalant behandelt, d. h. als Schwindlerin von Distinktion eingetürmt und angeklagt worden war. Dieses » untoward event« verleidete unserem Medizinmann seine Europamüdigkeit und zugleich seine arme Braut Kleophea, mit welcher er das in den Bädern von Baden begonnene idyllische Dasein im »fernen Westen« hatte fortsetzen wollen.

Ach und krach, das Ideal hatte jetzt überhaupt ein Ende und die Kriminalgeschichte hob an. Als unser hoffnungsvollster aller Doktoren eine Ladung vor das Schwurgericht erhielt, um die Denkwürdigkeiten seiner Erlebnisse als Leibarzt der Frau Sibylle und als Millionenbräutigam zu erzählen, stieg ihm das Blut so zu Kopfe, daß er eine heftige Augenentzündung bekam. Half aber nichts, er mußte heran. Ärmster aller Habakuke und Zukunftsmillionäre! Wir getrösten uns jedoch der Hoffnung, deine unbehagliche Situation als Rhapsode deiner Berner Oberlandsodyssee im Schwurgerichtssaal könnte auf unternehmende Jünglinge, welche nach Millionenbräuten trachten, erbaulich und beschaulich gewirkt haben.

Hiermit: exeunt omnes, und zwar die »niedli-nette« Kleophea-Babette für vier Wochen an den Schatten, Herr Bonifaz Gimmelig für achtzehn Monate, und die sinnreiche Frau Sibylle für zehn Jahre ins Zuchthaus.


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