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Mirabeau und Marie Antoinette

Quellen: Mémoires biographiques, littér. et polit. de Mirabeau, écr. par lui-même, par son père, s. oncle et s. fils adopt. 8 vols. Paris 1834-1836. – Souvenirs sur Mirabeau, par E. Dumont. Paris 1832. – Correspondance entre le comte Mirabeau et le comte de la Marck. 8 vols. Paris 1851. Mémoires s. l. vie privée de Marie Antoinette, par Madame Campan. 3 vols. Paris 1823. Mémoires de la Fayette, publ. p. s. famille. 4 vols. Bruxelles 1837. Mémoires de Barère. 4 vols. Paris 1842-1843. Mémoires secrets, par le comte d'Allonville. 5 vols. Paris 1838. Mad. de Staël, Considérations. 4 vols. Paris 1818. Mémoires de Weber, concern. Marie Antoinette. 2 vols. Paris 1822. Marie Antoinette, Joseph II. und Leopold II.; ihr Briefwechsel, herausgegeben von A. v. Arneth. Leipzig 1866 usw.

Ach! Alle Welt war Gottes Zorn verfallen,
Und er, dem Fug und Macht zur Strafe war,
Fand aus Vermittlung.

Shakespeare, Maß für Maß II, 2.

1.
Genie und Geld.

Eines Morgens im September 1789 wurde heftig an die Tür des Grafen de la Marck geklopft, eines brabantischen Edelmanns, der in Paris lebte, in französischen Bergwerken spekulierte und zu den Hofkreisen in vertrauten Beziehungen stand. Der Graf hatte noch nicht Zeit gehabt, sein »Herein!« auszusprechen, als schon die Tür aufging und ein lässig-elegant gekleideter Mann von Mittelgröße, athletischem Knochenbau und einem starken Ansatz von Beleibtheit hastig eintrat, flüchtig grüßte und mit einer Metallstimme, deren Umfang, Klangfülle und Geschmeidigkeit jedes Wort verriet, die Äußerung vorbrachte: »Mein Freund, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.« – »Was für einen?« – »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht … Ich besitze nicht einen einzigen Taler … Leihen Sie mir ein Stück Geld.« – Ich gab ihm, erzählt La Marck, eine Rolle mit fünfzig Louisdor, mehr hatte ich nicht zur Hand. Er dankte lebhaft und sagte: »Ich weiß nicht, wann ich Ihnen das Geld werde zurückgeben können. Ich konnte mich um den Nachlaß meines Vaters noch gar nicht bekümmern.«

Der Brabanter mochte sich über die Zahlungsfähigkeit seines Schuldners, der einer gewissen Jungfer Anne Pottevin seit siebzehn Jahren seinen Hochzeitsrock schuldig war, eigene Gedanken machen. Sie liefen darauf hinaus, aus der dargeliehenen Geldrolle einen starken Faden zu spinnen, der den Altersgenossen Goethes, den Gabriel Honoré Riquetti, Graf von Mirabeau – damals, im September 1789, noch als der »Volksgraf« hochgelobt und vielgepriesen –, mit dein Hofe oder wenigstens mit dem Königtum zusammenbinden sollte.

Er hinwiederum, der Blatternarbige, mit seinem vor lauter Häßlichkeit fast schönen »Eberkopf«, den eine fabelhafte Haarfülle bedeckte, mit seinen unter dichten Brauen groß und flammend hervorblickenden, nach Wunsch und Willen ihres Besitzers jetzt Verführung strahlenden, jetzt Zornblitze schleudernden, immer aber das olivenfarbige, pockenzerrissene Gesicht eigentümlich beleuchtenden Augen, mit seinem etwas schief geschlitzten Mund, aus dem so schüttelnde Donner hervorgebrochen, dessen sinnlich aufgeworfene Lippen so viel geküßt hatten und in dessen Winkeln das Spottlächeln überlegener Ironie eingekerbt war, – er, der Auswürfling des Adels und der Vorkämpfer und Verächter des Volkes, der vom Vater Verfluchte und Verfolgte, aber von Sophie Monnier zu ihrem Abgott Erhobene, er, die Furcht der Männer und das Entzücken der Weiber, Finanzgenie und Bettler, Staatsmann und Zotenbücherschreiber, Gesetzgeber und Wüstling, ein Koloß von Arbeitskraft und von Ausschweifung, Aristokrat und Tribun – er, um alles in ein Wort zusammenzufassen, Mirabeau, dachte vielleicht, das Gefühl der Demütigung, vor einem La Marck als bittender Borger gestanden zu haben, niederwürgend, gerade dasselbe, was er vorzeiten zur Vertröstung der Jungfer Anne Pottevin, als sie die Bezahlung seines Hochzeitsrockes heischte, gesagt hatte: »Bah, ich werde Minister werden. Das ist sicher!«

Nicht etwa nur zur Beschwichtigung von Gläubigern und Gläubigerinnen, die sich unangenehm machten, war das gesprochen. Der Mann glaubte zuversichtlich, daß der Ministerschaftwechsel, den er vor Jahren schon auf die Zukunft gezogen hatte, richtig von dieser eingelöst werden würde. Er fühlte in jedem Nerv und in jedem Muskel, daß er das Zeug in sich habe, der Minister seines Landes zu sein, in der Weise, wie vormals die »rote Eminenz« Richelieu es gewesen war. Und doppelt berechtigt kam sich dieses sein Gefühl vor, seitdem die Revolution ausgebrochen war und der Genius Mirabeaus die ganze Spannweite und Flugkraft seiner Fittiche in der Nationalversammlung erprobt und erwiesen hatte. Und dreifach berechtigt war sein Wunsch, zeigen zu dürfen, was alles unter den Simsonslocken seines Eberkopfes steckte, was er wolle, könne und vermöge, wenn er wohlmeinende Plattköpfe wie Necker und Lafayette ihre kleinen Mittelchen dem Flammenschritt der Riesin Revolution entgegenstellen sah, oder wenn er gar erfahren mußte, daß selbstgefällige Mittelmäßigkeiten wie Lameth, Duport und Barnave des Glaubens lebten, sie seien dazu geboren und bestimmt, das auf den Sturmwogen rollende Staatsschiff zu lenken. Selbstverständlich fürchteten und haßten die genannten und andere Plattköpfe und Mittelmäßigkeiten in Mirabeau die überlegene Genialität und Kraft, während sie sich anstellten, als fürchteten und haßten sie in ihm nur den unzuverlässigen Wüstling und feilen Abenteurer. Unglücklicherweise sorgte Mirabeau allzu sehr dafür, daß dieser Vorwand, ihn von der Macht fernzuhalten, nachmals das ganze Schwergewicht einer Tatsache erhielt.

Er hat einmal schmerzbewegt ausgerufen: »Die Verirrungen meiner Jugend kommen mir teuer zu stehen!« Er hätte später sagen können: »Noch teurer, noch viel teurer kommt es mir und Frankreich zu stehen, daß ich diese jugendlichen Verirrungen mit in mein reiferes Alter herübergeschleppt und nicht aufgehört habe, Roué zu sein, als ich anfing, Staatsmann zu werden.« Freilich suchte er über diesen Stein des Anstoßes dadurch hinwegzukommen, daß er eines Tages in seiner lässig-vornehmen Manier den Satz hinwarf: »Die kleine Moral tötet die große« – allein der selbstgerechte, von sich selbst und von anderen, insbesondere von seiner Tochter, weit überschätzte Necker hatte doch wohl recht, die Wichtigkeit gerade der angeblich »kleinen« Moral dem genialen Eberhäuptigen gegenüber zu betonen und ihm zu sagen: »Sie sind zu geistreich, als daß Sie kein Gefühl für die Notwendigkeit dieser Stütze haben sollten.« … Zu der »kleinen« Moral, Herr Graf von Mirabeau, gehört aber, denken wir, nicht nur, daß man so viel Selbstbeherrschung besitze, die letzten Kräfte eines für das allgemeine Beste kostbaren Lebens nicht in den Armen von »Mesdemoiselles« Hélisberg und Coulomb, Tänzerinnen von der Oper, zu vergeuden; sondern auch, daß man Hände habe, an denen nicht die leiseste Spur von dem Schmutz zu finden ist, der dem Bestechungsgeld anhaftet. »Auch das Genie muß doch vor allem anderen leben.« Jawohl, und das war vielleicht die »große« Moral, von der Mirabeau sprach. Wenn aber das Genie zum Gelde sagt: »Ich will dein getreuer Knecht sein, wenn du mir zu Mesdemoiselles Hélisberg und Coulomb und dergleichen hübschen Dingen mehr verhilfst« – so wäre es für das Genie besser, es lebte gar nicht.

Mirabeau ist bekanntlich ein Hauptgestirn am konstitutionellen Illusionenhimmel, und Leute, die ehrlich und aufrichtig an das Lug- und Trugevangelium des Konstitutionalismus glauben, pflegen von dem Manne nie zu sprechen, ohne bedauernd hinzuzufügen: »Ja, wenn ihm längeres Leben gegönnt gewesen wäre! Er hätte sicherlich die Revolution gebändigt und die Bewegung in das heilsame Geleise der verfassungsmäßig beschränkten Monarchie hineingeleitet.« Die kreuzbraven Philister! Sie wissen nicht, was sie reden. Gewiß, Mirabeau war kein Umsturzmann. Schon darum nicht, weil er ganz entschieden das gewesen, was im Grunde jeder ist, der um eines Hauptes Länge über die Menge emporragt: ein Aristokrat. Und nicht nur ein Aristokrat des Geistes war er, sondern auch seiner Geburtsaristokratie vergaß er niemals. Jedermann weiß ja, daß er gern von der Bartholomäusnacht sprach, weil er dabei Gelegenheit hatte, zu sagen: »Der Admiral Coligny, der, im Vorbeigehen bemerkt, mein Vetter gewesen ist.« Aber Mirabeau war ein Liberaler. Er bekannte sich zu dem als Abstraktion der englischen Verfassung nach dem Festland von Europa importierten Liberalismus, dessen Haupttendenz war und ist, dem begüterten und gebildeten Bürgertum zum Mitgenusse der Vorrechte zu verhelfen, die früher für die Fürsten, den Adel und den Klerus allein bestimmt waren. Um diese Vorrechte nach unten etwas weiter ausdehnen zu können, muß man oben etwas davon wegnehmen, was man im konstitutionellen Jargon »die Krone verfassungsmäßig beschränken« heißt. Mirabeau wußte recht wohl, daß die Bourgeoisie die angedeutete Stellung im Staate verlangte, sowie, daß dieses Verlangen ein unwiderstehliches, und endlich, daß die Bourgeoisie keineswegs willens sei, die Fahne Montesquieus mit der Fahne Rousseaus zu vertauschen, d. h. vom Liberalismus zum Radikalismus, vom Konstitutionalismus zum Demokratismus vorzugehen. Er wollte also ein konstitutioneller Minister oder vielmehr der konstitutionelle Minister par excellence werden, der Richelieu des 18. Jahrhunderts. Um sich aber als solcher auszuweisen, um sich möglich, d. h. notwendig zu machen, mußte er, wie er glaubte und wie in der Tat die Sachen lagen, den Revoluzzer spielen, und da er ein Meister der Revolutions phrase war, so spielte er so meisterhaft, daß viele, sehr viele Leute das Spiel für bare, volle Wahrheit nahmen und in dem »Volksgrafen« den grimmigsten Wauwau, den höllischen Drachen erblickten, den der Abgrund ausgespien, um das Königtum zu verschlingen. Die Königin Marie Antoinette, deren starke Seite bekanntlich Menschenkenntnis nicht gewesen ist, lebte vollständig dieses Glaubens, und sie mag daher, als es schlechterdings nötig schien, » le monstre« (das Ungeheuer), wie sie Mirabeau nannte, zu sehen und zu sprechen, ihm entgegengetreten sein mit einer Empfindung, als gölte es, dem Satan selber standzuhalten.

Der Mann also war ein Liberaler nach englischem Zuschnitt und wollte konstitutioneller Premierminister sein. Das war ohne Zweifel sein Recht; denn warum sollte eine solche Kraft nicht berechtigt sein, sich geltend zu machen? Aber hätte er, ans Steuerruder gestellt, das Staatsschiff wirklich über alle die Wirbel und Strudel hinweg und an all den Riffen und Klippen vorüber in das sanfte Fahrwasser des Bourgeoisliberalismus geführt? Hätte er, seine Simsonlocken schüttelnd, den entfesselten Dämonen mit Erfolg sein » Quos ego!« (Ich werde euch …) zugerufen? Hätte er wirklich die soeben zum mänadischen Tanz antretende Bacchantin Revolution gebändigt und zum wohlabgezirkelten konstitutionellen Menuett gezähmt und dressiert? … Warum nicht gar? Das sind ja alles leere Vermutungen! Kann man Kometen reiten? Wird ein Mensch von Aug' und Ohr und Verstand so dumm sein wollen, zur Springflut zu sagen: Bleib stehen! und zu der vor Elektrizität berstenden Wetterwolke: Verschlucke deinen Blitz! Die Revolution ist nur die unausweichliche Schlußfolge ihrer Voraussetzungen gewesen. Sie mußte also sein, wie sie war. Das ist so gewiß wie das Einmaleins.

2.
Die Ministertraube hängt hoch.

La Marck zögerte nicht, seinen Faden zu spinnen. Allein der erste Versuch, das eine Ende desselben der Königin in die Hand zu geben, lief übel ab. Umsonst machte der pfiffige Hofmann darauf aufmerksam, welche Vorteile aus dem Genie, aus den Leidenschaften und aus der Armut Mirabeaus sich ziehen ließen. Marie Antoinette hatte damals, am Vorabend der Oktobertage von Versailles, noch gar keine Ahnung von dem furchtbaren Ernst ihrer Lage. Sie wähnte in ihrem Leichtsinn, das schon tödlich getroffene absolute Königtum könnte und würde zu retten sein durch champagnerbegeisterte Gardeoffiziere, weiße Kokarden, Oh-Richard-oh-mon-roi-Arien und dergleichen Firlefanz mehr. In ihrem denkträgen, so recht lothringisch-habsburgischen Hochmut beantwortete sie die Eröffnung des Grafen mit einem Ausruf der Entrüstung: »Wir werden, denk' ich, niemals so tief sinken, um zu dem Äußersten und Peinlichsten genötigt zu sein, nämlich bei Mirabeau Hilfe zu suchen!«

Man muß jedoch der Königin bezeugen, daß ihr Stolz, obwohl er sich mitunter vor der unwiderstehlichen Gewalt der Umstände beugen mußte, dennoch immer wieder zu seiner ursprünglichen Höhe sich aufrichtete. Noch nach dem 20. Juni 1792, dem furchtbaren Vorspiel zum furchtbareren 10. August, war sie ja die ganze Tochter der Maria Theresia, d. h. vom Scheitel bis zur Sohle vom Bewußtsein des Gottesgnadentums erfüllt, voll unbezähmbaren Hasses und Grolls gegen alle, die ihrer Meinung nach an der Unantastbarkeit monarchischer Allmacht gesündigt hatten. Daher ließ sie denn auch den Lafayette so schnöde abblitzen, als der General, nach dem 20. Juni aus seinem Lager nach Paris geeilt, in die Tuilerien kam, um dem König seine Dienste anzubieten. Sie hatte bei dieser Gelegenheit ihrem armen königlichen Eheknecht seine Lektion gut einstudiert. Ludwig XVI. empfing den General äußerst höflich, aber sehr kalt, und ließ sich nur auf einen Austausch banaler Redensarten ein. Schon nach etlichen Minuten fand es deshalb Lafayette geraten, sich zu entfernen. Als die Tür hinter ihm zufiel, rief Madame Elisabeth, die gute, sanfte Schwester des Königs, aus: »Wir müssen das Vergangene vergessen und uns mit vollem Vertrauen dem Manne in die Arme werfen, der allein imstande ist, den König und seine Familie zu retten!« Wogegen Marie Antoinette von oben herab: »Lieber zugrunde gehen als durch Lafayette und die Konstitutionellen gerettet werden!« Wohl, sie sollte ihren Willen haben; aber zu ihrer Entschuldigung mag gesagt werden, daß der Instinkt des Hasses ihr vielleicht die unzweifelhafte Wahrheit zuflüsterte, Lafayette wäre gar nicht der Mann, Rettung zu bieten …

Mirabeau indes ließ sich nicht entmutigen. Er wollte leben, »rasend gut leben«, wie das der begabte deutsche Schuft Gentz zwanzig Jahre später auch wollte, und außerdem besaß der Franzose, was der Deutsche nicht besaß, einen auf ein großes Ziel gerichteten Ehrgeiz. Er wollte einen tiefen Griff in die Geldkisten des Hofes tun, um mit den Damen von der Oper Orgien feiern zu können; aber er wollte doch zugleich auch Frankreich regieren. So setzte er sich hin, noch im Oktober 1789, um ein »Mémoire« zu verfassen, worin Ludwig XVI. der Rat erteilt wurde, er solle sich mit der königlichen Familie und dem ganzen Apparat des Königtums aus Paris entfernen und nach Rouen begeben, um die Freiheit seines Wollens und Handelns wiederzuerlangen, die er in Paris eingebüßt habe. Dieses Mémoire wurde durch Vermittlung von La Marck dem Grafen von Provence zugestellt, damit er es seinem königlichen Bruder überreiche. Allein Provence wies diesen Auftrag zurück. Der schlaue Prinz wandelte ja gerade damals absonderliche Schleichwege, die ihn an ein Ziel führen sollten, das er erst im Jahre 1814 erreichte, und es lag ihm darum gar nicht am Herzen, die schon im Fallen begriffene Krone wieder auf dem Haupte des Bruders befestigt zu sehen.

Mirabeau muß den Grafen von Provence frühzeitig erraten haben. Denn der Prinz wurde für eine Weile – und zwar dann, als Mirabeau den Herzog von Orléans weggeworfen, nachdem er erkannt hatte, er sei »feig wie ein Lakai« – eine Trumpfkarte in dem Ministersehnsuchtsspiel des »Volksgrafen«. Eine Trumpfkarte freilich, von der bald offenbar werden sollte, daß sie in Wirklichkeit nicht »stach«. Solidere Hoffnungen waren am Ende doch immer noch auf den Versuch einer Vereinbarung mit den Mitbewerbern um die Macht zu gründen. In erster Linie standen da Lafayette und das »Triumvirat« Lameth, Duport und Barnave. Der General, das Triumvirat und der Volksgraf verabscheuten sich freilich gegenseitig. Aber was tut das? Man schließt ein Kompromiß, einander zu helfen; mit dem stillen Vorbehalt, später einander zu vernichten. Es kam aber nur zu einem Versuch der Vereinbarung, und zwar im Hause einer Nichte Mirabeaus, der Frau Marquise d'Aragon, wo sich die Fünf zusammenfanden. Mirabeau muß jedoch aus dieser Zusammenkunft einige Hoffnung geschöpft haben, daß wenigstens Lafayette seinen Plan fördern würde. Denn nur hieraus erklärt es sich, daß jener etliche Tage darauf die Rednerbühne der Nationalversammlung bestieg, um eine pompöse Lobrede auf Lafayette zu halten, dem er sonst die lächerlichsten Spottnamen beilegte.

Zur gleichen Zeit suchte er auch andere Leitern an die, ach, so steile und spröde Felswand der Machthöhe anzulegen. Am 17. Oktober ließ er sich durch La Marck dem Minister Montmorin vorstellen und bot geraden Weges seine Dienste an, indem er sagte: »Die Nationalversammlung ist ein störrischer Esel, den man nur mit großer Vorsicht besteigen und reiten kann.« Montmorin war aber harthörig. Er sprach von dem Gesandtschaftsposten in Konstantinopel, worauf der Eberkopf nachlässig etwas von dem Gesandtschaftsposten in London hinwarf, im Tone eines Mannes, der mehr wollte. Das Ergebnis dieser Unterredung war, daß der Minister den, der es gern gewesen wäre, wissen ließ, der König sei bereit, ihm zur Bezahlung seiner Schulden zu verhelfen.

Mirabeau besann sich doch noch eine Weile, den Köder zu verschlucken. Alles ursprünglich Edle in seiner Natur sträubte sich gegen den qualvoll demütigenden Gedanken, ein Erkaufter des Hofes zu sein. Denn wie sehr auch charakterlose Schönfärber von sogenannten Historikern sich bemüht haben, den Schmutz des ganzen Handels zu überfirnissen, der Schmutz ist doch für jedes Auge, das sehen will, unter der beschönigenden Firniskruste sichtbar, sehr deutlich sichtbar. Mirabeau war kein Gekaufter, sagten und sagen Leute, welche selber jahraus, jahrein gierig nach der Ehre zappeln, gekauft zu werden; er ließ sich nur vom Könige für die guten Dienste bezahlen, die er dem Königtum leistete, und da diese Dienste mit seinen Grundsätzen übereinstimmten, so war er kein feiler Überläufer, sondern nur ein nach Verdienst belohnter Diener. Diese Hofratslogik wäre recht schön, wenn ihre Voraussetzungen wahr wären. Die Wahrheit ist aber diese: Mirabeau nahm Geld vom Hofe, bevor er ihm Dienste geleistet hatte, und bis zur Stunde, wo er sich kaufen ließ, hatte er seine ganze Kraft aufgeboten, das Königtum dem klaffenden Abgrunde der Revolution näher zu schieben. Doch er hatte dies ja, wie auch oben angedeutet worden, nur getan, um sich in der entscheidenden Stunde als Retter der Monarchie zwischen diese und den Abgrund zu stellen, nicht? Freilich, freilich. Aber wäscht ihm etwa die Lüge, im Dienste des Königs zu handeln, während er nur in dem seines Ehrgeizes handelte, den Bestechungsgeldschmutz von den Händen? Daß er selber, um den Stachel des peinigenden Gefühls, ein Verkaufter zu sein, zu stumpfen, sich die Spitzfindigkeit vorgaukelte, er habe, indem er sich kaufen ließ, keineswegs sich verkauft, ist bei einem Manne, dessen ursprünglicher Stolz seinem Genie gleichkam, sehr begreiflich und auch sehr verzeihlich.

La Marck spannte jetzt alle Nerven an, den Handel richtig zu machen. »Nehmen Sie doch an!« schrieb er an Mirabeau. »Sie sollten gar nicht mehr von gemeinen Dingen bedrängt werden. Erst dann, wenn Sie von derartigen Sorgen ganz frei sind, vermögen Sie sich als der zu zeigen, der Sie sind, nämlich als der allen Überlegene.« Der geschäftige Graf gab sich übrigens die größte Mühe, Mirabeau nicht nur zu einem Verkauften, sondern auch zum Minister zu machen. Er war gescheit genug, zu begreifen, daß man dem Manne Geld und Macht geben müßte, um ihn zufriedenzustellen. In dem Erzbischof von Bordeaux, Champion de Cicé, sowie in Talon hatte der Graf eifrige Mitarbeiter, und Ende Oktober schienen die Sachen so weit gediehen zu sein, daß Mirabeau eine Ministerliste entwerfen konnte, der zufolge der oberste Rat der Krone also zusammengesetzt werden sollte: Necker (Premierminister, »weil man ihn ebenso machtlos machen muß, wie er unfähig ist, und dennoch seine Popularität dem Könige erhalten soll«), der Erzbischof von Bordeaux, der Herzog von Liancourt, der Herzog von La Rochefoucauld, Lafayette, Talleyrand, Mirabeau, die Grafen von La Marck, Montmorin und Ségur. Man sieht, diese Ministerliste war aristokratisch genug: mit Ausnahme des zu einer glänzenden Nullität verdammten Bankiers aus Genf lauter Herzoge, Marquis und Grafen. Schade nur, daß Gilles-Cäsar oder Cromwell-Grandison, wie Lafayette von Mirabeau spöttisch genannt wurde, nicht mit in diesem Ministerium sein wollte. Der General hatte allerdings so ungefähr dasselbe Staatsideal wie der eberköpfige Graf; denn auch Lafayette wähnte das Glück Frankreichs davon abhängig, daß man das Land mit einer nach der englischen Verfassungsschablone zugeschnittenen Konstitution beschenkte. Mit andern Worten, das Königtum sollte zu einem Figuranten herabgesetzt und die Macht im Staate der parlamentarisch organisierten Aristokratie und Bourgeoisie übertragen werden. Daß er selbst, Lafayette, bei dieser Veranstaltung die bedeutendste Figur machen würde, war für den Oberkommandanten der Nationalgarde, der sich damals auf der Zenithöhe seiner Vergötterung befand, selbstverständlich. Es sollte aber dabei alles anständig, reinlich und »moralisch« hergehen. Darum konnte er sich nicht entschließen, dem verrufenen, von Gläubigern gehetzten Mädchenverführer und Weiberentführer Mirabeau eine Stelle neben sich einzuräumen, und natürlich mußte ihn der Neid, womit seine Mittelmäßigkeit auf die Genialität des Nebenbuhlers blickte, in diesem Widerwillen noch bestärken.

Die stürmische Leidenschaftlichkeit, womit Mirabeau nach der Ministerschaft gierte, hatte inzwischen im Schoße der Nationalversammlung das Mißtrauen aller Gegner, Neider und Hasser des Mannes zu bitterem Argwohn gesteigert. Diesem Argwohn entsprang jener bekannte, durch Lanjuinais eingebrachte und durch Blin unterstützte Antrag, die Versammlung möge beschließen, daß während der Dauer ihrer Sitzungen und noch binnen drei Jahren nachher keines ihrer Mitglieder ins Ministerium berufen werden dürfe. Umsonst schüttete Mirabeau einen Zornwolkenbruch von der Rednerbühne herab; umsonst rief er mit bitterer Ironie aus, man sollte doch lieber geradezu beschließen, daß er, der Herr von Mirabeau, Deputierter von Aix, nicht Minister werden dürfe: die Versammlung erhob die Motion Lanjuinais-Blin zum Beschluß. Der Pfeil saß tief und fest in Mirabeaus Brust. »Ich fühle mich im Abend meines Lebens«, schrieb er an seine Schwester. »Entmutigt zwar bin ich noch nicht, wohl aber müde. Die Umstände haben mich isoliert. Ich sehne mich nach Ruhe. Könnte ich sie nur mit Ehre und Sicherheit finden! Falls ich dazu noch ausreichendes Vermögen hätte, würde ich versuchen, glücklich zu sein, und wär' es auch, daß ich meine Zeit mit Kegelschieben hinbrächte.«

Der Traum, auf parlamentarischem Wege zur Rolle eines modernen Richelieu zu gelangen, war also ausgeträumt.

3.
Die Ware und ihr Preis.

Vor dem in der Straße Faubourg Saint-Honoré gelegenen Hôtel Charost, das der Graf La Marck bewohnte, hielt an einem der ersten Apriltage von 1790 ein Wagen, aus dem der Graf von Mercy stieg, Botschafter Österreichs am französischen Hofe. Während dieser Diplomat zum Hausherrn hinaufging, näherte sich von den Champs-Elysées her mit tief in die Stirn gedrücktem Hut ein Mann der Mauer des Gartens, der nach jener Richtung hin das genannte Hôtel einfaßte. Der Ankömmling – es war Mirabeau – öffnete mit einem Schlüssel, den er bei sich trug, die kleine in die Gartenmauer eingelassene Tür, durchstrich eilends den Garten, betrat das Haus, huschte die Treppe hinauf und gelangte, ohne von jemand wahrgenommen worden zu sein, in das Kabinett, wo Mercy und La Marck ihn erwarteten: der Kauflustige und der Makler der Ware.

Es handelte sich, da der »Volksgraf« nicht der öffentliche Minister der Krone sein konnte, darum, ihn zum geheimen, zum vertrauten Ratgeber, so recht zum Geheimrat und Einbläser des Königtums zu kaufen. Der Herr Graf Mercy handelte dabei als Käufer im Namen und Auftrage des Hofes. Die Ware, d. h. Mirabeau mit seinen Talenten, seiner Redemacht und seinem Einfluß, war sehr willig, sich kaufen zu lassen. An diesem Tage jedoch kam der Handel noch nicht zu völligem Abschluß, sondern wurden nur die gegenseitigen Bedingungen mehr oder weniger deutlich festgestellt; denn die drei gräflichen Herren haben sich ohne Zweifel durch Winke und halbe Worte leicht untereinander verständigt, und gewiß ist das »Geschäft« in den alleranständigsten Formen eingeleitet und abgewickelt worden, wie dies ja die höhere Privat- und Staatsgaunerei in der Übung hat.

Aber es fehlte eben noch der Punkt auf dem i, ohne den bekanntlich das i gar keins ist. Nämlich Ludwig XVI. hatte sich unschwer durch Mercy überreden lassen, wie vorteilhaft es sei, Mirabeau zu kaufen; allein des Königs souveräne Königin widerstrebte bislang dem Handel, und ohne Marie Antoinettes Zustimmung durfte und konnte natürlich der arme gute Hampelmann von Kronenträger nichts tun. Die Umstände wurden jedoch von Tag zu Tag drängender und drohender, und La Marck und Mercy waren unermüdlich, den Widerstand der Königin zu brechen und ihren Abscheu gegen Mirabeau wenigstens zu einem nur passiven herabzustimmen. Sie gab endlich nach und – der »Volksgraf« mietete ein ganzes Haus für sich allein in der Chaussée d'Antin, nicht minder ein Landhaus bei Argenteuil, schaffte sich eine Equipage an, einen Kammerdiener, Lakaien, kurz das ganze Zubehör der Grandseigneurschaft, und stürzte sich, er, der vor kurzem bekannt hatte, daß er sich »müde und im Abend seines Lebens fühle«, gleich einem von Jugendkraft Strotzenden in Luxus und Lustgenuß.

Kauf und Verkauf waren also richtig zustande gekommen. La Marck eröffnete dem »Freunde«, daß der König dessen Schulden im Betrage von 208 000 Livres bezahlen, ferner ihm eine geheime monatliche Pension von 6000 Livres geben und endlich eine Million in Gestalt von vier Bankbilletten in La Marcks Hände niederlegen wolle, welche Million der Verkaufte erhalten sollte, sobald die Sitzungen der Nationalversammlung zu Ende wären. Als Mirabeau diese Gewährungen vernahm, muß er sich vor Freude ganz toll gebärdet haben. Denn La Marck schreibt: »Sein Vergnügen ging bis zum Exzeß und machte mich erstaunen. Indessen erklärt sich diese Trunkenheit sehr natürlich aus der Genugtuung, endlich einmal dem bedrängnisvollen und abenteuerlichen Leben zu entfliehen, das er bislang geführt hat.« Der Gekaufte setzte sich über die Demütigung weg, daß man dem Mohren den Hauptpreis erst dann ausbezahlen wollte, wenn der Mohr seine Dienste getan hätte; sowie über die weitere, daß man die zur Bezahlung seiner Schulden bestimmte Summe ihm nicht selber anvertraute, sondern dem Erzbischof von Toulouse, Herrn von Fontanges. Vielleicht tröstete sich Mirabeau über den letztem Umstand mit der traurigen Wahrheit, daß ja, solange die Welt steht, niemals ein recht schmutziger Handel richtig gemacht wurde, ohne daß ein Pfaffe die Hand mit darin gehabt hätte. Übrigens schien der Hof nicht bloß Geld geben zu wollen. Es muß als sicher angenommen werden, daß die beiden Unterhändler La Marck und Mercy schlau und geschickt genug waren, das verblaßte Traumbild einer künftigen Premierministerschaft wieder aufgefrischt den Augen Mirabeaus vorzugaukeln. Warum auch sollten ein dankbarer König und, was mehr zu bedeuten hat, eine dankbare Königin ihrem Geheimrat nicht gewähren, was zu erlangen eine neidische und undankbare Nationalversammlung ihn verhindern wollte? Der Exvolksgraf glaubte an das Phantasma oder log sich wenigstens selber vor, daß er daran glaubte.

Der Hof seinerseits mußte natürlich begierig sein, zu erfahren, ob das auf Mirabeaus Genie eingetragene Kapital wohlangelegt und zinstragend sei. Eine Gelegenheit hierzu fand sich bald. Die Nationalversammlung hatte nämlich bei der Möglichkeit, daß Frankreich infolge des »bourbonischen Familienvertrags« durch den zwischen England und Spanien entbrannten Nootka-Sundzank als Alliierter der letzteren Macht in einen Krieg verwickelt werden könnte, ausreichende Veranlassung, zur Erörterung der Frage zu schreiten, ob die Nation dem Könige das Recht zugestehen sollte, über Kriegführung und Friedensschließung zu bestimmen. Am 16. Mai begann die Debatte und füllte, mehr und mehr sich erhitzend, acht Sitzungen aus. Soll der König das Recht haben, nach seinem Wohlmeinen Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, d. h. in oberster Instanz über Gut und Blut, Wohlfahrt und Verderben der Nation souverän zu verfügen? Der Hauptkämpe für die Bejahung der Frage war Mirabeau, der Hauptkämpe für die Verneinung Barnave, dessen Entgegnung auf des Eberköpfigen royalistisches Plaidoyer ihn auf den Gipfelpunkt seines Rednerrufs stellte. An diesem seinem großen Ruhm- und Glückstage wurde Barnave nach beendigter Sitzung im Triumph weggetragen, möglicherweise auf denselben Armen, welche später, am 29. November 1793, auf dem Revolutionsplatze sich erhoben, um dem Citoyen Sanson Beifall zu klatschen, als er das vom Guillotinemesser abgeschnittene Haupt des Triumphators von 1790 aus dem Korbe nahm, um es dem Volke zu zeigen. Was Mirabeau betraf, so hörte er an jenem Maitag von 1790 – im Verlaufe der Debatten nannte Robespierre den König schlechtweg den Kommis der Nation (» le roi est le commis de la nation«) – sozusagen offiziell auf, der »Volksgraf« zu sein. Patrioten von der Farbe Marats und Patriotinnen, die stark nach dem Fischmarkt rochen, zeichneten auf der Terrasse der Feuillans den Baum an, an welchem der »Verräter« aufgehenkt werden sollte, und als er sich am folgenden Tage, am 22. Mai, von seiner Wohnung nach der Manege begab, hörte er auf den Straßen ein Pamphlet ausschreien mit dem Titel »Hochverrat des Grafen von Mirabeau!«

Allein der Mann mit dem Eberkopf müßte nicht der Verfasser des Schandbüchertriumvirats » Ma conversion«, » Rubicon« und » Erotica-Biblion« gewesen sein, wenn noch eine leiseste Regung von Scham sich in ihm fühlbar gemacht hätte. »Der große Verrat des Grafen von Mirabeau?« sagte er, in den Sitzungssaal tretend. »Bah! Man wird mich heute im Triumph aus der Versammlung wegtragen oder aber in Fetzen ( on m'emportera de l'assemblée triomphant ou en lambeaux)« … Der gute Louis Blanc, der die Ausdauer besaß, dreizehn Bände hindurch die Geschichte der Französischen Revolution beharrlich durch rosenrote Brillengläser anzusehen, schlug bei dieser Stelle besagter Geschichte ganz verblüfft die Hände über dem Kopfe zusammen und rief aus: »Oh, Schmerz! Oh, Mitleid! Oh, Rätsel von unergründlicher Tiefe! Dieser Mann, der so gut wußte, daß der Argwohn des Volkes diesmal auf der richtigen Fährte war, dieser Mann, der vielleicht das am selben Morgen vom Hofe empfangene Gold in seiner Tasche trug, er nahm die Haltung der verleumdeten Tugend an, er entlehnte ihre Inspiration, er redete ihre Sprache!« Als ob das so verwunderlich wäre! Wenn ein Mensch vom Schlage Mirabeaus einmal angefangen hat, sich selber zu belügen, so tut er es eben à la Mirabeau, d. h. im großen Stil, und Stil, Form, Färbung, Lack sind oder bedeuten wenigstens bekanntlich auf dieser unserer lieben Erde alles. Große Worte sind daher nur allzuhäufig der Schild, hinter welchem die menschliche Kleinheit sich birgt. »Vor etlichen Tagen wollte man mir einen Triumphzug bereiten, und heute schreit man in den Straßen den Hochverrat des Grafen Mirabeau aus«, sagte der berühmte Redner auf der Tribüne, »allein ich bedurfte dieser Lektion nicht, um zu wissen, daß es vom Kapitol nicht weit ist bis zum tarpejischen Felsen« … Wenn Herr Schufterle die gehörige Menge Talent und Unverschämtheit hat, so wird er auch Erfolg haben: das ist der Lauf der Welt. Mirabeau jedoch wurde an diesem 22. Mai zwar nicht vom tarpejischen Felsen gestürzt, gelangte aber auch nicht ganz zum Kapitol hinauf. Denn es ist ja gar nicht wahr, daß die durch ihn beantragte Formulierung des die Tagesfrage erledigenden Gesetzes – » le droit de faire la guerre et la paix appartient à la nation; l'exercice de ce droit sera délégué concurrement au pouvoir législatif et au pouvoir exécutif Das Recht, über Krieg und Frieden zu bestimmen, gehört der Nation; mit der Ausübung dieses Rechts wird abwechselnd die gesetzgebende Macht und die ausübende Macht beauftragt sein.)« – von der Nationalversammlung angenommen und beschlossen wurde, sondern vielmehr die durch Alexander Lameth vorgeschlagene Formulierung ( le droit de la paix et de la guerre appartient à la nation; la guerre ne pourra être décidée que par un décret de l'assemblée nationale qui sera rendu sur la proposition formelle et nécessaire du roi et qui sera consenti par lui Das Recht des Friedens und des Krieges gehört der Nation; der Krieg wird nur beschlossen werden können durch einen Beschluß der Nationalversammlung, der auf den formalen und notwendigen Antrag des Königs übergeben und von diesem gebilligt ist.«). Der wesentliche Unterschied dieser beiden Formeln springt sofort in die Augen. Der Lamethsche Antrag legte das Recht des Königs, über Krieg und Frieden zu beschließen, vollständig lahm, – also gerade das Prärogativ, das Mirabeau der Krone hatte sichern wollen. Sobald er aber merkte, daß die Strömung gegen ihn sei, war er gescheit genug, sich zu beeilen, seinem halben Erfolge den Anschein eines ganzen zu geben, indem er erklärte, seine Meinung stimme mit der Meinung Lameths ganz überein.

Aber er täuschte damit im Grunde niemand als vielleicht sich selbst. Sein Ruf freilich war ein zu laut schallender und zu weithin hallender, als daß er plötzlich hätte verstummen können. Allein der Argwohn war wach von diesem Maitag an und heftete sich an des Gekauften Fersen. Schon schnellte der »Grazienschlingel« des wachsenden Jakobinismus, Camille Desmoulins, seine klingenden Witzpfeile auf den Exvolksgrafen und sprach von einem neuen Äschines, der durch »das Gold Philipps« erkauft worden sei. Der bissige Fréron seinerseits knurrte nach Bulldoggenart: »Mirabeau, Mirabeau, weniger Talent und mehr Rechtschaffenheit, oder nimm dich in acht vor dem Laternenpfahl!«

4.
Der Handkuß zu Saint-Cloud.

Es heißt unbillig sein, wenn man den Erdengöttern zumutet, sie sollten ohne weiteres von ihrem Olymp herabsteigen. Gar süß ist es, an der Bankettafel des Daseins zu sitzen und lustig mitzuschmausen; so süß, daß nur strohhirnige Phantasten der närrischen Ansicht sein können, die Bankettgenossen und Festgenossinnen sollten, wenn die hungernd und dürstend Draußenstehenden hereinkommen und sagen: »So, jetzt macht uns mal Platz!« ohne Umstände aufstehen und antworten: »Mit Vergnügen, liebe Brüder und Schwestern.« Soweit wird es das nur leidlich gezähmte Tier, genannt Mensch, niemals im Christentum bringen.

Kein verständiger und menschenkundiger Mann wird es der stolzen Tochter Maria Theresias übelnehmen, daß sie, die an der Bankettafel unbedingt den ersten Platz einnahm, nicht aus freien Stücken aufstehen oder auch nur etwas weniger breit sich hinsetzen wollte – welches letztere man »konstitutionell regieren« heißt –, als der französischen Bourgeoisie es eingefallen war, einen Platz im Staatssaal und an der Festtafel für sich in Anspruch zu nehmen. Fest entschlossen, dieses freche Begehren der »Roture« abzuweisen, hinter der – schauderhaft zu sagen! – ja auch schon die »Canaille«, das Volk, gierig herandrängte, wäre Marie Antoinette zweifellos in ihrem Recht gewesen und geblieben, wenn ihr nicht die Macht versagt hätte. Diese Fatalität änderte freilich die ganze Sachlage gewaltig, und schon der Oktoberschrecken von 1789 hatte der Königin das unverwindbare Gefühl dieser Änderung eingedonnert. Hierzu kam, daß ein weit feiner als der ihrige organisierter Kopf die Königin fortwährend darauf hinwies, man könnte, wie die Dinge in Frankreich nun einmal lägen, schlechterdings nicht mehr in der guten alten frommen Lettres-de-Cachet- und sonstigen Despotenmanier weiterregieren. Der gemeinte fein organisierte Kopf saß auf den Schultern des Kaisers Leopold, der brieflich und mündlich (durch seinen Gesandten Mercy) seiner Schwester ernstlich riet, sich in Gottesnamen etwas weniger breit hinzusetzen, d. h. in den Konstitutionalismus sich zu finden und zu schicken.

Unter solchen Einwirkungen zwang sich Marie Antoinette mit großer Selbstüberwindung den Entschluß ab, so zu tun, als wäre sie überzeugt, daß man der »Canaille« nur sich erwehren könnte, indem man die von der »Roture« angebotene Allianz annähme. Und wer allein wäre imstande, diese von der Not des Augenblicks gebotene und selbstverständlich später bei erster günstiger Gelegenheit wieder aufzuhebende Allianz zwischen Hof und Bourgeoisie zustande zu bringen? Natürlich Mirabeau, der sich ja seinerseits gerade zu dieser Zeit abmühte, seinem Käufer die Vortrefflichkeit der Ware darzutun. Und doch ist, die Wahrheit zu sagen, die Ware zu dieser Zeit schon nicht mehr viel wert gewesen. Man erstaunt geradezu über die Banalität, Hohlheit und Unfruchtbarkeit der Ratschläge, die Mirabeau dem Hofe zur Beschwörung der herandrohenden Krisis zukommen ließ. Die Nemesis war augenscheinlich schon hinter dem Verkauften her: das Gold der Bestechung verstopfte die Quelle seines Genies. Er stand nicht mehr an der Spitze der Bewegung, er lief nur noch nebenher und suchte jene vergeblich auf Seitenwege und auf solchen allmählich nach rückwärts zu lenken. Wie er in der unsterblichen Opfernacht vom 4. August 1789, in der schönsten Stunde der Geschichte Frankreichs, nicht mitdabeigewesen war, so war er auch am 19. Juni 1790, als es sich um Abschaffung des Junkertums handelte, nicht mitdabei, indem er, obwohl diesmal in der Nationalversammlung anwesend, ein mißbilligendes Schweigen beobachtete. Sowie aber die Versammlung den Schlag gegen den Adel geführt hatte, setzte er sich hin, um eine Denkschrift für den König zu verfassen, in der er die Throngefahrtrommel auf das heftigste rührte, den gefaßten Beschluß als die »Brandfackel des Bürgerkriegs« verklagte und Lafayette als den Hauptschuldigen angab, sei es, daß er aus Dummheit oder aus Tücke (» ou bêtement ou perfidement«) gehandelt habe.

Mirabeaus Wut gegen den »General der Bourgeoisie« war grenzenlos; allein wohl merkend, daß er nicht imstande, diesen Stein des Anstoßes zu beseitigen, versuchte er immer wieder, ihn in einen Aufsteigestein für sich zu verwandeln. In einer seiner für den Hof bestimmten Noten verlangte er die Vermittlung der Königin. Diese sollte in Gegenwart des Königs dem General geradezu befehlen, sich mit Mirabeau zu verbünden, und zwar offen, öffentlich, offiziell. Als hieraus nichts wurde, begann er wiederum den Kleinkrieg der Sarkasmen gegen seinen Gegner, der darauf hochmütig trocken bemerkte: »Ich habe den König von England in seiner Macht besiegt, den König von Frankreich in seiner Gewalt, das französische Volk in seiner Wut; wie sollte mir also beikommen, dem Herrn von Mirabeau zu weichen?« Der Eberkopf machte auch über diese Auslassung plattköpfiger Selbstgefälligkeit ganz vortreffliche Witze; aber er konnte es sich doch nicht verhehlen, daß ihn der General habe abfahren lassen, und zwar so entschieden, daß es nach dieser Seite hin hieß: » Lasciate ogni speranza!« (Laßt alle Hoffnung fahren!)

Aber wie, sollte der gemeinsame Haß, den die Königin und der Exvolksgraf gegen Lafayette hegten, nicht zu einem Vereinigungspunkt für die beiden werden können? Mirabeau ergreift diesen Gedanken. Die Idee der Premierministerschaft ist unter seiner Schädeldecke zu einer fixen geworden: sie muß um jeden Preis verwirklicht werden, und sie kann es nur mittels der Beihilfe der Königin. Demnach stimmt Mirabeau in betreff Marie Antoinettes sein Sprachinstrument auf eine Tonart, die von der früheren ganz verschieden ist. Einem Gekauften und Verkauften gehen ja solche Umstimmungen sehr leicht von der Hand. »Der König hat nur einen Mann, und das ist seine Frau.« Oder: »Vielleicht muß man bald versuchen, was eine Mutter und ihr Kind zu Pferde vermögen.« Der Honigseim derartiger Schmeicheleien tut in den Tuilerien oder vielmehr in Saint-Cloud, wo sich damals, d. h. zur Sommerzeit von 1790, der Hof befindet, seine Wirkung. Die Tochter Maria Theresias willigt in das Begehren des »Ungeheuers«, sie zu sehen und zu sprechen. Die Briefe der Königin aus dieser Zeit – die echten nämlich – geben uns einige flüchtige Winke über das Abenteuer. So schrieb sie am 12. Juni an den Grafen Mercy: »Die Unterhandlung mit Mirabeau ist im vollen Gange ( se suit toujours), und wenn er es ehrlich meint ( s'il est sincère), habe ich alle Ursache, zufrieden zu sein.« In demselben Briefe äußerte sich Marie Antoinette zustimmend über Mirabeaus Vorschlag, Preußen und Österreich zu einer gemeinsamen Intervention zu bewegen, welche nicht in der Absicht einer Gegenrevolution (» non pour faire une contrerévolution«), sondern – was natürlich tatsächlich das gleiche bedeutete – unter dem Vorwand, als Garanten aller auf Lothringen und Elsaß bezüglichen Verträge auftreten zu müssen, unternommen werden sollte. Am 29. Juni schrieb die Königin wiederum an Mercy: »Wir zählen darauf, am Freitagabend Mirabeau zu sehen. Ich habe einen Platz ausfindig gemacht, der freilich nicht sehr bequem, aber doch sehr passend gelegen ist, ihn zu empfangen ( j'ai trouvé un endroit, non pas commode, mais suffisant pour le voir). Sie sollten ihn dann möglichst bald sehen. Es würde mir angenehm sein ( je ne serais pas fâchée), wenn es schon am Samstag geschehen könnte, damit ich erführe, welche Wirkung die Zusammenkunft auf ihn hervorgebracht habe ( pour savoir l'effet, qu'aura produit sur lui la visite de la veilleBriefwechsel Marie Antoinettes mit Josef II. und Leopold II., herausgegeben von Arneth, S. 129 und 133..

Die 37. Nummer von Frérons Journal » L'orateur du peuple« brachte eine vom 4. Juli datierte Zuschrift an den Schriftleiter, worin die öffentliche Meinung benachrichtigt wurde, daß am Tage zuvor Riquetti der Ältere (Mirabeau) in geheimnisvoller Weise sich nach Saint-Cloud begeben und dort eine mehrstündige geheime Konferenz gehabt habe, der die Königin (» une très-grande dame«), der Erzbischof von Bordeaux und zuletzt auch der König (» le pouvoir exécutif«) anwohnten. Die öffentliche Meinung, gegen ihre verhätschelten Lieblinge nicht weniger nachsichtig als alberne Mütter gegen ihre verwöhnten Kinder, schüttelte ungläubig den Kopf: es konnte ja unmöglich wahr sein, daß der große Führer der Revolution zum Hofe übergelaufen wäre. Und doch war es so und hatte Frérons Journal in der Hauptsache durchaus die Wahrheit gesagt; der vermeintliche Retter und Heiland des Königtums, der an dem Drachen der Revolution zum Ritter Sankt Georg werden sollte und wollte, hatte zu Saint-Cloud die Gnade erfahren, Ihrer Majestät der Königin die Hand küssen zu dürfen.

Die Einzelheiten dieses Abenteuers sind bis zur Stunde noch nicht mit völliger Sicherheit ermittelt und werden es vielleicht nie sein. Man kann nicht einmal mit Gewißheit angeben, ob Ludwig XVI. der Zusammenkunft seiner Frau mit Mirabeau beigewohnt habe oder nicht Die » Correspondance inédite de Marie Antoinette«, veröffentlicht von dem Grafen von Hunolstein, enthält freilich einen vom 7. Juli 1790 datierten Brief der Königin an ihren Bruder Leopold, worin sie diesem über ihre Zusammenkunft mit Mirabeau Bericht erstattet und ausdrücklich sagt: » Le roy étoit auprès de moi« (Der König war bei mir). Allein dieses Zeugnis ist ganz wertlos, weil sich die ganze erwähnte » Correspondance« im Schmelztiegel der historischen Kritik bekanntlich als eine – gelinde gesagt – Mystifikation darstellte, aus scheinbar Echtem und handgreiflich Falschem wunderlich gemischt.. Was wir wissen, beruht auf den Zeugnissen von Mirabeaus Neffen Du Saillant, ferner der Madame Campan und des Herrn Weber, des Milchbruders von Marie Antoinette, eines ziemlich einfältigen Menschen, der seinen zweibändigen Hymnus auf die königliche Milchschwester »Mémoiren« betitelt und im übrigen die französische Staatsumwälzung gewissenhaft vom Standpunkt eines Milchbruders angesehen hat.

Am 3. Juli 1790 machte sich also Mirabeau nach Saint-Cloud auf, wo der Hof zum letztenmal der Sommerfrische genoß. Augenscheinlich war der Verkaufte voll der Unruhe des bösen Gewissens. Die Fahrt nach dem Lustschlosse der Königin ist wie eine Diebsfahrt gewesen. Der Neffe Mirabeaus, Du Saillant, mußte den Kutscher machen, und als er die Kalesche so verstohlen wie möglich vor ein Pförtchen des Schloßgartens gebracht hatte, übergab ihm der Oheim beim Heraussteigen einen an den Kommandanten der Nationalgarde von Paris adressierten Brief mit den Worten: »Ich weiß nicht, ob man loyal mit mir verhandeln oder ob man mich ermorden lassen will. Falls ich binnen einer Stunde nicht wieder hier bin, so fahre verhängten Zügels zur Stadt, bestelle diesen Brief an seine Adresse, laß die Sturmglocke läuten und verkündige dem Volke die Falschheit des Hofes.« Fast scheint es, das Jahr 1588 sei vor dem Mann aufgestiegen als ein drohendes Gespenst. Dachte er daran, wie der letzte Valois und meineidige Sodomiter, Heinrich III., seinen gewaltigen Gegner, den Duc de Guise, »Le Balafré«, an jenem 23. Dezember im Schlosse zu Bolis in sein Schlafgemach lockte, um sich vertraulich mit ihm zu unterreden, d. h. ihn wehrlos den Meuchelmördern zu überliefern, an welche Se. »allerchristlichste« Majestät zuvor die Mordwaffen allerhöchsthändig ausgeteilt hatte? Möglich, daß Mirabeau an diese Blutgeschichte dachte. Gewiß aber ist, daß er bei seinem Eintritt in den Garten von Saint-Cloud an nichts weniger dachte als an die Worte des hellenischen Tragikers:

»Weh' dem, der sich des Königs Schwelle naht!
Ein Sklave tritt er über sie und bleibt es.« Freilich etwas freier übersetzt als billig: –
Ὅστις γὰρ ὡς τύσαννον ἐμπορεύεται,
Κείνου στὶ δούλος, κἄν ἐλεὐθερος μόλῃ
Bekanntlich soll der arme Pompejus diese sophokleischen Verse zitiert haben, als er vom Borde seiner Galeere in das Boot hinabstieg, das ihn an die mörderische Küste von Ägypten brachte. Für die tiefe Weisheit und Wahrheit des Spruches haben übrigens, wie jedermann weiß, Anno 1848 die Herren »Märzminister« und seither so viele andere liberale Gaukler tatsächliche Beweise und Belege in Hülle und Fülle geliefert.

In dem sogenannten Privatgarten (» jardin particulier«) der Königin im Parke zu Saint-Cloud befand sich an der höchstgelegenen Stelle ein Rondell. Hier erwartete die Tochter Maria Theresias, und zwar allein, das »Ungeheuer«. Wer den Ankömmling an der Gartentür empfangen und zu dem Rondell geleitet hat, ist nicht zu erkunden. Auch in betreff der Einzelheiten des Gesprächs zwischen den beiden wissen wir eigentlich nur, was Oberzofe Campan aus dem Munde Marie Antoinettes darüber gemeldet hat. Gewiß ist, daß Mirabeau das ganze Brillantfeuer seines Geistes leuchten und schimmern ließ und daß die Königin ihren ganzen Vorrat von Liebenswürdigkeit aufbot: jener, um den Wert der Ware ins rechte Licht zu rücken; diese, um zu zeigen, daß man mit dem gemachten Handel zufrieden sei und vieles oder gar alles von ihm erwarte. So ist denn, was im Rondell des Gartens von Saint-Cloud vorging, eine vortrefflich gespielte Szene aus einem historischen Intrigenspiel höchsten Stils gewesen.

»Einem gewöhnlichen Gegner gegenüber«, also begrüßte Antoinette den Verführer und Entführer der armen Sophie Monnier, »gegenüber einem Manne, welcher das Verderben der Monarchie geschworen hätte, ohne den Nutzen, den diese für ein großes Volk darbietet, werten zu können oder zu wollen, einem solchen Gegner gegenüber wäre der Schritt, den ich tue, sicherlich sehr unpassend. Allein gegenüber einem Mirabeau …« Die Königin spielte gut und wußte, daß sie gut spielte. Sie hat, in den Palast zurückgekehrt, sofort zur Campan gesagt: »Das ›gegenüber einem Mirabeau‹ schien ihm unsäglich zu schmeicheln …« Marie Antoinette ging überhaupt mit dem Vorrat ihrer Schmeichelhonigworte keineswegs sparsam um bei dieser Gelegenheit. Nachdem Mirabeau die Lage des Staats und die Verhältnisse der Parteien auseinandergesetzt hatte, sagte die Königin: »Endlich hör' ich einmal wirkliche Politik! Ich kann zwar nicht alle Ihre Anschauungen und Ideen zu den meinigen machen; allein soviel weiß ich jetzt: Sie sind ein echter Staatsmann!« Worauf der Eberköpfige die Antwort gegeben haben will: »Wenigstens, Madame, sollte man, denk' ich, nicht nötig haben, sich jenseits des Rheins darüber Rat zu holen, was man an der Seine zu tun habe.« … Der effektvollen Szene durfte natürlich ein brillanter »Abgang« nicht fehlen. Der von einer stolzen Tochter der Cäsaren, welche den gelungenen Versuch gemacht hatte, dem habsburgischen Hochmut den bourbonischen Übermut beizugesellen, zu Gnaden angenommene weiland Sträfling vom Fort If, vom Fort Joux und vom Fort Vincennes war oder tat begeistert. »Madame«, sagte er beim Abschied, »wenn die Kaiserin, Ihre erhabene Mutter, einem ihrer Untertanen die Gnade ihrer Gegenwart erwies, entließ sie ihn nie, ohne ihm die Hand zum Kusse zu reichen.« Huldvoll und mit der Anmut, die ihrem ganzen Gebaren eigen war (» avec cette grâce qui accompagnait toujours ses moindres gestes«), entsprach Marie Antoinette der Bitte, indem sie ihren Handschuh auszog und dem »Ungeheuer« die Hand zum Kusse darbot. Frohlockend rief der Exvolksgraf im Abgehen aus: » Ce baiser-là sauve la monarchie!« (Dieser Kuß rettet die Monarchie), was, ins Deutsche übersetzt, heißt: »Jetzt bin ich sicher, Minister, Premierminister zu werden!« Der Tor! Wenn er wirklich glaubte, daß »dieser Kuß«, d. h. die ihm von der Königin erwiesene Gnade »die Monarchie retten«, d. h. ihn ans Staatsruder bringen würde, so wäre damit der Beweis fertig, daß Mirabeau entweder zu dieser Zeit die Natur der Revolution schon gar nicht mehr verstand, ja, daß er sie eigentlich nie recht verstanden habe, oder aber, daß er seine eigene Kraft in wahrhaft lächerlicher Weise überschätzte.

Wie dem sei, er ging triumphierend von Saint-Cloud weg. Seinem Neffen, Du Saillant, der mit der Kalesche vor der Gartentür wartete, war, da der Oheim lange über die anberaumte Zeit ausblieb, angst und bange geworden. Der Vorschriften Mirabeaus eingedenk, entschloß er sich in seiner Unruhe endlich, nach Paris zurückzufahren und dort Lärm zu schlagen. Er hatte aber erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als er rückschauend den Oheim hinter dem Wagen einherkeuchen sah. Herangekommen sagte der »Retter der Monarchie« beim Einsteigen: »Ich zitterte, du möchtest schon wegsein. Ich bin zufrieden, alles wird gut gehen. Bewahre das tiefste Schweigen über diese für den Staat unendlich wichtige Fahrt!«

5.
Der 2. April 1791.

Er täuschte sich bitter: der Kuß auf die Hand der Königin im Garten von Saint-Cloud hielt den logischen Gang der Revolution nicht auf, und die geheimnisvolle Fahrt vom 3. Juli wurde keineswegs von »unendlicher Wichtigkeit für den Staat«. Was vermag der Mensch gegen das Schicksal? Was die Korngarbe gegen die Sichel vermag Lord Byron im »Don Juan«, V, 17., gibt einer zur Antwort, dessen Genius strahlend und majestätischen Fittichschwungs über die von Gleisnerei, Bigotterie und Brutalität dampfende Atmosphäre seines Heimatlands sich erhob, wie ein Adler hoch über dem Brodem eines giftigen Sumpfes kreist. Mirabeau, obwohl zu dieser Zeit schon häufig von den Vorwehen des Todes angefröstelt, war viel zu sehr Sanguiniker, um sich jemals lange bei dem – durch einen deutschen Halbbyron formulierten – Gedanken aufzuhalten, daß

»Zerstörend, unerbittlich, Tod
Und Leben, Glück und Unglück an
Einanderkettend, herrscht
Mit alles niederdrückender Gewalt
Das ungeheure Schicksal über unsern Häuptern!
Aus den Orkanen flicht Es seine Geißeln sich zusammen
Und peitscht damit die Rosse seines Wagens durch
Die Zeit und schleppt, wie
Der Reiter an des Pferdes Schweife den
Gefangnen mit sich fortreißt,
Das Weltall hinterdrein!« …

Ob er aber die Tatsache sich klar machen mochte oder nicht; es ging rasch bergab mit ihm. Er wurde nicht einmal Minister. Die letzten Monate seines Daseins zeigen uns ein mitleidwertes Hin- und Herfahren, ein fieberisches Hinüber- und Herübertasten. Er pries, was er früher geschmäht; er empfahl, was er früher verworfen hatte. Vordem hatte er z. B. das Papiergeld eine »zirkulierende Pest« genannt, jetzt sah er in der Vermehrung der »Assignaten« bis zum Betrage von einer Milliarde die »wahrhafte Besiegelung der Revolution«, die, orakelte er, »vielleicht zwar noch in Anarchie ausarten könne, aber gewiß niemals zugunsten des Despotismus rückwärtsschreiten werde«. Neun Jahre nach diesem Orakelspruch war ein korsischer Abenteurer der Despot Frankreichs.

Das ungewöhnliche Talent Mirabeaus flammte mitunter noch blendend auf; aber hörende Ohren merkten aus seinen Reden in der Nationalversammlung deutlich heraus, daß dem Manne abhanden gekommen, was dem Riesen Antäus die Mutter Erde gewesen ist: das Prinzip. Auf dem Treibsande der »Opportunität« erbaut man keine großartige staatsmännische Tätigkeit. Mirabeau bewältigte dann und wann noch durch einen genialen Blitzwurf die Nationalversammlung und die öffentliche Meinung; allein er stand doch in der Luft. Der Hof bezahlte ihn zwar, traute ihm aber kaum halbwegs, die Konstitutionellen beargwöhnten, die Demokraten haßten ihn. Leute, die mit ihm nichts gemeinhaben als die Käuflichkeit, haben in unsern Tagen noch die staatsmännischen Taten, die der verkaufte Exvolksgraf in seinem letzten Lebensjahre vollbrachte, überschwenglich gepriesen. Zieht aber ein parteiloser Rechner die Summe dieser Tätigkeit, so gewinnt er ein Ergebnis, das einer Null zum Verwechseln ähnlich sieht.

Ohne Zweifel hatte der mehr und mehr sinkende Mann zuweilen das überwältigende Gefühl seiner Lage. »Ich möchte nicht allein für eine große Zerstörung gearbeitet haben«, hatte er beim Beginn seiner Beziehungen zum Hofe in einem für den König bestimmten Schreiben sich geäußert. Jetzt aber mußte sich ihm, wenn er allein war mit seiner Seele, die Erkenntnis aufdrängen, daß er ohnmächtig sei zu schaffen. Das war Verzweiflung, und um ihr zu entgehen, suchte er, altgewohnte Wege wandelnd, bei der Ausschweifung, was der Ehrgeiz ihm versagte. Allein die Strafe kam diesmal nicht schleichend, sondern galoppierend. Am Abend des 28. März 1791 erkrankte Mirabeau tödlich. Man munkelte von Vergiftung, als man aber später laut davon sprach, schrieb Brissot (» Mémoires«, t. III, ch. 18): »Etliche Tage vor seiner Erkrankung hatte er eine Nacht in den Armen der beiden Operntänzerinnen Hélisberg und Coulomb verbracht. Diese Mesdemoiselles haben ihn umgebracht ( voilà celles qui l'ont tué); man braucht sonst niemand seinen Tod schuld zu geben.«

Am Morgen vom 2. April war der Zustand des Kranken hoffnungslos. Wie unser Schiller auf seinem Sterbebett verlangte auch der sterbende Mirabeau die Sonne zu sehen. Als das Tagesgestirn seine Strahlen durch das geöffnete Fenster warf, sagte er: »Wenn das nicht Gott ist, so ist es wenigstens ein Vetter von ihm.« Den Tag über litt er heftig und seufzte nach Opium. Um 8½ Uhr abends litt er nicht mehr, weil er aus dem schmerzlichen Traume des Lebens zum Tode erwacht war. Die Teilnahme für den Sterbenden hatte sich allgemein und rührend kundgegeben. Der Volksinstinkt, für eine Weile mit zärtlicher Besorgnis zu dem weiland »Volksgrafen« zurückkehrend, ahnte, daß der verschwindende Koloß eine ungeheure Lücke hinter sich zurücklassen würde. Dem Toten wurde, wie jedermann weiß, eine förmliche Vergötterung zuteil; aber seine Gebeine ruhten nicht lange im Pantheon. Sie wurden hinausgeworfen, im November 1793, nachdem der eiserne Schrank (»l'armoire de fer«) seine schmutzigen Geheimnisse und unter diesen auch das vom Kauf und Verkaufe Mirabeaus ausgespien hatte …

Mirabeau war das liederliche Genie des 18. Jahrhunderts in seiner höchsten Erscheinungsform. Diese eigentümliche Art der Gattung Mensch ist nachgerade ausgestorben. Schwächliche Epigonen gibt es freilich noch in unseren Tagen genug und übergenug: Halbtalente, welche sich einbilden, genial zu sein, weil sie liederlich sind; Leute mit heißen Köpfen und kalten Herzen, die, wenn man ihnen die Freiheits- oder Kunstphrase, womit sie sich drapieren, vom Leibe reißt, in der ganzen Blöße ihrer Nichtswürdigkeit dastehen. Dann sieht man, daß sie nur einen Grundsatz, nur ein Ziel kennen und haben, das schuftgentzische »Rasendgutleben«. In der Treibhausluft der romantischen Schule ist dieses Ungeziefer in Fülle ausgebrütet worden und hat seither fortgewuchert. Publizistik, Belletristik und Musik sind die Lieblingsstätten dieser genialtuenden Wanzeriche, die sich da bei einem wahlverwandten Fürsten einzunisten, dort einem für die »Bildung« schwärmenden Bankier anzuschwindeln wissen. Eines ihrer Hauptkennzeichen ist, daß sie, solange sie jung sind oder wenigstens für jung sich ausgeben können, alles daransetzen, mit »vornehmen« Weibern herumzuvagabundieren. Ihr Kommen verkündigt die Reklame, ihr Gehen begleitet der Skandal. Was sie mitbringen, sind auf die Zukunft ausgestellte Selbst- oder Kameradschaftsruhmwechsel; was sie zurücklassen, sind Stänkereien und Schulden. Werden sie alt, so bekehren sie sich à la Zacharias Werner und Friedrich Schlegel, nehmen die Weihen oder gehen unter die Mucker; sei es, um nach Verbrauchung aller andern Mittel, sich »interessant« zu machen, auch dieses noch auszunützen; sei es, weil die angeborene Geistesroheit schließlich hinter der Maske der Genialität wieder hervorbricht.

Wie aber die urteilslose Menge, der vornehme und niedrige Pöbel, zu jeder Zeit der Wahrheit die Lüge und dem Sein den Schein vorzog und vorzieht, so hat diese Menge und dieser Pöbel durch die Pseudogenies den Mythus von der Dieselbigkeit des Genius und der Liederlichkeit gern sich aufbinden lassen, und es springt und haseliert demnach diese Ratte unter der Decke des ungeheuren Hohlschädels Publici noch immer lustig herum. Die Wahrheit ist, daß Männer von echtem Genius, die schaffenden und bauenden Lehrer und Führer, Seher und Propheten, Bildner, Helfer und Tröster der Menschheit keine Tagediebe und Taugenichtse, keine Schlemmer, Säufer, Unzüchtlinge und Schuldenmacher gewesen sind, sondern ihr ganzes Leben lang treufleißige und mühselige Arbeiter an dem ungeheuren Werke der Vermenschlichung des armen und erbarmungswürdigen Geschöpfes Mensch. Dabei haben, wie selbstverständlich, diese Echten und Rechten neben dem einen Hauptkennzeichen des wahren Genies, neben der Arbeitslust, auch das zweite, die Fruchtbarkeit, glänzend betätigt. So waren die Sophokles, Phidias, Platon und Aristoteles, die Michelangelo und Raffael, die Shakespeare und Milton, die Voltaire und Rousseau, die Kepler und Newton, die Lessing und Kant, die Watt und Fulton, die Goethe und Schiller, Herder und Pestalozzi, Mozart und Beethoven …

Mirabeau ist ein Genie von Gnaden Ihrer hochheiligen Majestät Natur gewesen. Wie von den erlauchtesten Geistern seines Jahrhunderts, so durfte und mußte auch von ihm gesagt werden, daß die große Mutter:

» Os homini sublime dedit, coelumque tueri
Jussit et erectos ad sidera tollere vultus
Dem Manne einen erhabenen Mund gegeben und ihm befohlen hat, den Himmel zu schützen und das Haupt zu den Gestirnen zu erheben.

Aber wenn so einem Ritter vom Geiste viel gegeben ist, so wird auch viel von ihm gefordert. Vor allem und unbedingt, daß er reine Hände habe und nicht mit beschmutzten, durch Bestechlichkeit beschmutzten eine heilige Fahne zu tragen sich erfreche. Sodann, daß er aus der Ätherhöhe seiner geistigen Aristokratie voll Erbarmen zu den Armen, Schwachen und Unterdrückten sich herniederneige. Gerade hiervon aber trifft man bei Mirabeau kaum eine Spur; denn er hat nicht mit dem Herzen, sondern nur mit dem Kopfe gedacht, und die Mission eines Befreiers war ihm nur das Piedestal der zügellosen Wünsche seiner Selbstsucht. Ferner, wenn man auch so gerecht ist und sein muß, zu berücksichtigen, was die Verhältnisse, die ungünstigen nämlich, aus dem Manne gemacht haben, wenn man ihn ansieht und nimmt, wie er war, diesen von Genialität quillenden, von Sinnlichkeit strotzenden, von Leidenschaften lodernden, von einem närrischen Vater verkehrt erzogenen, von den Weibern verzogenen, jetzt dem Hunger gegenübergestellten, dann wieder in allen Lüsten sich badenden, bald durch Schande der Verzweiflung zugejagten, bald durch Ruhm ganz und gar berauschten Menschen, so würde man dennoch, falls man mit juvenalischer Härte und Herbigkeit urteilen wollte, sich versucht fühlen, mit parodierender Anwendung eines Shakespeareschen Wortes das Fazit zu ziehen –

»Sagt alles nur in allem:
Er war ein Lump!«

Jedenfalls aber verwehrt, mildestens gesprochen, der Schmutzschimmer von Gemeinheit, der der Gestalt Mirabeaus unverwischbar anhaftet, dieser den Zutritt in die allerdings nicht sehr geräumige Walhalla der Weltgeschichte, wo die hehrsten Helden und höchsten Heiligen der Menschheit ihrer Unsterblichkeit genießen. Voltaire hat freilich gesagt: » C'est le privilège du vrai génie, et surtout du génie qui ouvre une carrière, de faire impunément de grandes fautes« (Es ist das Vorrecht des wahren Genies und überhaupt des Genies, das eine Laufbahn eröffnet, ungestraft große Fehler zu machen). Allein dies war gar nicht im moralischen, sondern nur im intellektuellen Sinne gemeint, kann demnach nicht etwa als milderndes Argument zugunsten von Mirabeaus Verfehlungen geltend gemacht werden. Wohl aber darf und soll gegen ihn geltend gemacht werden, daß ein wahrhaft großer Mann zugleich ein guter sein muß, weil er eben sonst kein großer sein kann. Marie Josef Chénier war also vollständig in seinem Recht, als er am 27. November 1793 im Konvent den Antrag, die Überreste Mirabeaus aus dem Pantheon zu entfernen, mit dem Satze begründete: »In Erwägung, daß es ohne Tugend keinen großen Mann gibt« … Die Lumpe mögen immerhin bei Lebzeiten florieren und ihre Schmach mit dem bequemen Mantel des sogenannten »Opportunismus« bedecken, da ja die Mitwelt allzeit betrogen sein will; aber sie sollen sich darum nicht einbilden, auch noch die Nachwelt beschwindeln zu können.

6.
Der 16. Oktober 1793.

Sechs Wochen vor dem Tage, an dem das schuldig sprechende Totengerichtsverdikt über Mirabeau erging, hatte die Tragödie »Marie Antoinette« ihren Schlußakt gefunden.

Man braucht heutzutage seine Entrüstung über die Barbarei der Prozessierung und Hinrichtung der Königin nicht mehr ausdrücklich kundzugeben, da ja nicht nur für alle fühlenden Herzen, sondern auch für alle denkenden Köpfe die Verdammung dieses brutalen Mißgriffs der Französischen Revolution längst feststeht, man mag von der Schuld oder Unschuld des Opfers halten, was man will. Von dem Brandmal, womit ihr mörderisches Vorgehen gegen die Frauen die Stirnen der großen Revolutionäre bemakelte, kann diese überhaupt nichts, schlechterdings nichts reinigen. Diese Frauenmörderei hat der Sache der Vernunft und Freiheit unberechenbaren Schaden gebracht, tiefer greifenden Schaden als sonst irgendeine der Ausschreitungen der Schreckenszeit. Was die Tötung der Königin insbesondere angeht, so war sie ein ungeheurer politischer Fehler, und die Tochter Neckers hatte recht, wenn sie in ihrer Flugschrift (» Reflexions sur le procès de la reine«) den Revolutionsmännern strafend zurief: »Indem ihr Marie Antoinette opfertet, habt ihr sie heilig gesprochen. Der Tod der Königin hat euch unendlich viel mehr geschadet als jemals ihr Leben.«

Aber in den Geistern, die damals die Geschicke Frankreichs leiteten, war für derartige Rücksichten kein Raum. Nachdem sie den Despoten Europas einen Königskopf als Fehdehandschuh hingeworfen hatten, erschien es ihnen notwendig und wohlgetan, durch Hinzufügung des Hauptes einer Königin, einer Erzherzogin von Österreich, in der sie nur die grimmigste Feindin ihrer Sache sahen, die Herausforderung noch zu verstärken. Falls für diese Tat überhaupt eine Entschuldigung zulässig wäre, so müßte man sie in dem Umstande suchen, daß der fanatische Haß, womit die Demokratie auf Marie Antoinette blickte, nur die natürliche Frucht der ruchlosen Verleumdungen gewesen ist, womit die Aristokratie viele Jahre hindurch den Ruf der Königin systematisch vergiftet hatte.

Am 2. August 1793 wurde die dem Untergang geweihte Tochter Maria Theresias aus dem Temple nach der Conciergerie gebracht, der Zwischenstation auf ihrem Wege von jenem Kerker zu dem Schafott auf dem Revolutionsplatz Der fleißige Archivar Emile Campardon hat in sehr dankenswerter Weise die sämtlichen auf den Prozeß und die Hinrichtung der Königin bezüglichen Originalakten gesammelt und unter dem Titel » Marie Antoinette à la conciergerie« veröffentlicht. Diese Aktensammlung in ihrer zweiten und vermehrten Ausgabe (Paris 1864) dient mir hier als Hauptquelle.. Beim Hinausgehen aus ihrer Zelle im Temple stieß sie von ungefähr mit dem Kopfe gegen den Türpfosten, und einer der anwesenden Gemeindebeamten richtete, von einer mitleidigen Regung angewandelt, an die Gefangene die Frage: »Haben Sie sich weh getan?« Worauf die Unglückliche: »O nein! Was sollte mir jetzt noch wehtun können!« Ein aus tiefster Seele gequollener Schmerzensschrei! In Wahrheit, sie mußte zu dieser Stunde glauben, daß es weiter für sie in der Welt kein Weh mehr geben könnte: sie hatte ja soeben von ihren Kindern Abschied genommen, auf Nimmerwiedersehn … Noch waren aber nach Überführung der Gefangenen in die Conciergerie ihre Freunde für sie tätig, und von Brüssel aus leitete der Graf Mercy-Argenteau verschiedene Versuche, die Königin zu befreien. Er soll sich ihrer Rettung wegen sogar mit Danton in Verbindung gesetzt haben, und es ist nicht ganz unglaubhaft, daß der Chef der Cordeliers seine Mithilfe zugesagt habe. Denn Danton war keineswegs von Haus aus ein Blutmann, und zudem konnten seinem staatsmännischen Blicke die übeln Folgen der Hinopferung Marie Antoinettes nicht entgehen. Wenn er aber wirklich wähnte, für die Rettung der Königin etwas tun zu können, so täuschte er sich gröblich; auch seine Popularität, also seine Macht, war zu dieser Zeit durch den furchtbaren Wirbelsturm der Revolution bereits müdegejagt, und nur fünf Monate nach der Todesfahrt Marie Antoinettes verfiel auch er der tödlichen Umarmung von Guillotins unersättlicher Tochter. Zwar gelang es, wie auch die Duchesse d'Angoulême später bezeugt hat, eine Verbindung zur Befreiung der Königin zu stiften, und im September wußte sich einer der Verbündeten, der Chevalier de Rougeville, Zugang in der Conciergerie, ja sogar im Gefängnisse Marie Antoinettes zu verschaffen. Angesichts der Gefangenen deutete er mit den Augen auf eine Nelke, die er im Knopfloch trug. Die Königin fand die Nelke schön, worauf Rougeville ihr die Blume darbot. In deren Blütenfalten war ein Papierstreifen verborgen, auf dem die Worte geschrieben standen: »Ich habe Leute und Geld zu Ihrer Verfügung.« Allein der wachthabende Gendarm bemerkte das Papier in den Händen der Gefangenen und entriß es ihr. Der Chevalier flüchtete sich mit Not, und es scheint von da ab kein Rettungsversuch mehr stattgefunden zu haben.

Wie kärglich und kümmerlich das Dasein der Gefangenen in der Conciergerie gewesen ist, weiß jedermann. Doch ist auf Grund unanfechtbarer Dokumente zu sagen, daß die Parteisentimentalität über dieses Thema allerhand verlogene Variationen abgeleiert hat. So z. B., Marie Antoinette habe nur drei Hemden besessen; oder, sie habe, als sie sich eines Tages ein Strumpfband stricken wollte, die nötigen Garnfäden aus dem Überzug ihres Bettes herausziehen und statt der mangelnden Stricknadeln zwei Zahnstocher gebrauchen müssen Das Original des Inventars, welches über die Hinterlassenschaft der Königin an Leibwäsche und Kleidern unmittelbar nach ihrer Hinrichtung in der Conciergerie aufgenommen wurde, ist noch im französischen Staatsarchiv vorhanden ( cart. W 534 regist. 11) und jetzt bei Campardon (S. 135-137) gedruckt. Es beweist, daß die Gefangene weder an Weißzeug noch an Kleidern Mangel hatte. Was z. B. die Hemden angeht, so führt das Inventar deren nicht drei auf, sondern » quinze chemises de toile fine, garnies de petite dentelle« (fünfzehn Hemden von feiner Leinwand, eingefaßt mit kleinen Spitzen).. Wohlbezeugt ist dagegen folgendes: Die Herbstnächte wurden kühler, und die Königin bat daher den Gefangenwärter Bault, ihr eine baumwollene Decke zu verschaffen. Bault, der zur Erleichterung der Gefangenen tat, was er konnte, beeilte sich, den Wunsch bei Fouquier-Tinville anzubringen. »Was?« schrie ihn der steinherzige Staatsanwalt an, »du wagst so etwas zu verlangen? Gelüstet dich nach der Guillotine?«

An demselben 3. Oktober, an welchem der Konvent die Überweisung der gefangenen Girondisten an das Revolutionstribunal beschloß, nahm der Sankt Dominikus der Revolution, der düstere Fanatiker Billaud-Varennes, das Wort und sagte: »Es muß noch ein weiterer Beschluß gefaßt werden. Eine Frau, die Schmach der Menschheit und ihres eigenen Geschlechts, die Witwe Capet, soll endlich die von ihr begangenen Frevel auf dem Schafott büßen. Ich verlange, daß das Revolutionstribunal ohne Verzug über ihr Los entscheide.« Und »so geschehe es«, beschloß der Konvent.

Am 14. Oktober erschien demnach die Königin vor jenem Gerichtshof, dessen Name, von einer roten Blutwolke umwittert, mit Donnerschall durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Zukunft hinabtönen wird. Herman präsidierte, und mit ihm bildeten Foucault, Douzé-Verneuil und Lane das Richterkollegium. Als Staatsanwalt fungierte Fouquier-Tinville, der unermüdliche Lieferant von »Gebäcken« für »Dame« Guillotine, als Gerichtsschreiber Fabricius. Auf der Geschworenenbank saßen Gannay (Perückenmacher), Grenier-Trey (Schneider), Antonelle (Exmarquis), Chatelet (Maler), Souberbielle (Chirurg), Picard (Handschuhmacher), Trinchard (Schreiner), Jourdeuil (Exhuissier), Devèse (Zimmermann), Deydier (Schlosser), Gimond (Schneider). So waren also »Gevatter Schneider und Handschuhmacher« berufen, über die Tochter der Cäsaren den Wahrspruch, den Todesspruch zu fällen. Freilich, es ist das nur eine Formalität gewesen; denn der schwarze Todeswürfel für Marie Antoinette war ja schon vorher im Wohlfahrtsausschuß und im Konvent geworfen worden. Aber trotzdem, die Abkömmlingin so vieler Kaiser, die die Krone Karls des Großen getragen hatten, von armen Teufeln von Handwerkern gerichtet – das ist ein Hohngelächter der Nemesis, schmetternd wie Weltgerichtsposaunenton!

Citoyen Antoine Quentin Fouquier-Tinville hatte großen Fleiß auf die Anklageakte verwendet und glücklich ein in seiner Art einziges Aktenstück zuwege gebracht, einen seltenen Mischmasch von Abgeschmacktheit und Roheit. Gleich zum Eingang war darin der Angeklagten vorgeworfen, daß sie »gleich den Messalinen, Brunhilden, Fredegunden und Katharinen (von Medici), welche man vorzeiten Königinnen von Frankreich nannte, von dem ersten Tage ihrer Anwesenheit im Lande an die Geißel und der Blutegel ( le fléau et la sangsue) der Franzosen gewesen sei.« Den untersten Bodensatz der Schändlichkeit schöpfte die Anklage in dem haarsträubenden, durch den verworfenen Hébert veranlaßten Passus aus, worin Marie Antoinette mit der Mutter Neros, der blutschänderischen Agrippina, auf eine Linie gestellt und des namenlosen Greuels bezichtigt wurde, während der Gefangenschaft im Temple ihren unmündigen Sohn zur Blutschande verführt zu haben. Diese Infamie, von dem Präsidenten des Tribunals beim Verhör der Angeklagten mit Stillschweigen übergangen, aber von einem Vieh von Geschworenen in Erinnerung gebracht, entriß den Lippen der gemarterten Königin die allbekannte, in ihrer Kürze wunderbar beredsame und erschütternde »Appellation an alle anwesenden Mütter«. Als denkwürdig verdient das Gebaren von zwei der vorgeladenen Zeugen, Bailly und Graf d'Estaing, erwähnt zu werden. Der redliche Bailly, mit dem einen Fuße schon ebenfalls auf dem Schafott stehend, gab auf die Frage des Präsidenten, ob er die Angeklagte gekannt habe, zur Antwort: »Ja, wohl habe ich sie gekannt« – und verneigte sich dabei ehrerbietig vor der Königin. Der Graf d'Estaing dagegen, als sollte noch an den Schranken des Revolutionstribunals daran erinnert werden, daß aristokratischer Haß der Rache der Demokratie die Wege gezeigt und gebahnt hatte, brachte seine Aussagen, welche sich insbesondere auf die Haltung Marie Antoinettes am 5. Oktober 1789 bezogen, in übelwollendem Tone vor (» avec un ton de malveillance«). Wenn er sich aber dadurch Verzeihung für seinen Besitz eines Wappens zu erkaufen wähnte, sollte er bald seines Irrtums überführt werden: » le rasoir national« auf dem Revolutionsplatze rasierte auch ihn hinweg.

Die Pein der Prozedur währte drei Tage und drei Nächte lang; denn das Tribunal saß in Permanenz. Die Königin – niemals verdiente sie so sehr also zu heißen! – benahm sich der furchtbaren Ermüdung trotzend, einfach, vornehm und standhaft. Nachdem ihre von Staats wegen bestellten Verteidiger Tronson-Ducoudray und Chauveau-Lagarde gehört worden waren und der Präsident sein Resümee vorgebracht hatte, zogen sich die Geschworenen zurück. Sie hatten vier Fragen zu beantworten: »1. Ist es erwiesen, daß Machenschaften und Verständigungen mit den auswärtigen Mächten und anderen Feinden der Republik bestanden haben; Machenschaften und Verständigungen, um diesen Feinden mit Geld beizuspringen, ihnen den Einbruch auf französisches Gebiet zu ermöglichen und den Vorschritt ihrer Waffen zu erleichtern? 2. Ist Marie Antoinette von Österreich, die Witwe des Louis Capet, überwiesen, derartige Verständigungen unterhalten und an solchen Machenschaften sich beteiligt zu haben? 3. Ist es erwiesen, daß ein Komplott existierte, das darauf abzielte, Bürger gegen Bürger zu bewaffnen und also im Innern der Republik den Bürgerkrieg anzufachen? 4. Ist die Witwe Capet der Beteiligung an diesem Komplott überführt?« Man sieht, Citoyen Herman verschmähte es, mochte es nun aus Schamgefühl oder aus Politik geschehen, die angeblich messalinischen und agrippinischen Vergehungen in die Schuldfragestellung mitaufzunehmen. Die Geschworenen berieten etwa eine Stunde lang; dann brachten sie ein Ja auf alle vier Fragen zurück.

Es war vier Uhr morgens. Die herabgebrannten Lichter verbreiteten nur eine fahle Helle in dem Saal. Düsteres Schweigen herrschte. Der Präsident ließ, nachdem Fouquier-Tinville die Anwendung der strafgesetzlichen Bestimmungen ( Code pénal, sect. I, art. 4; part. II, sect. II, art. 2) auf die Schuldiggesprochene gefordert hatte, seiner Verkündigung des Urteils die Mahnung an das Publikum vorausgehen, daß »Schuldige, wenn sie einmal von dem Gesetz erreicht seien, nur noch dem Unglück und der Menschlichkeit angehörten ( n'appartiennent plus qu'au malheur et à l'humanité)«. Der Mund der Königin zuckte nicht, als der Todesspruch in ihr Ohr fiel. Sie hatte ja alle diese drei schrecklichen Tage und Nächte hindurch nicht mehr um ihr Leben, sondern nur noch um ihres Namens Ehre gestritten. Stumm, aber festen Trittes wandte sie sich, zu gehen, und um 4½ wieder in ihrem Gefängnis in der Conciergerie angelangt, hat sie sich hingesetzt und jenen Brief an ihre Schwägerin, die Prinzessin Elisabeth, geschrieben, der nicht an seine Adresse gelangte, wohl aber an die der Nachwelt, – das zugleich hochsinnige und rührende Testament einer grausam, viel zu grausam für ihre Verfehlungen bestraften Frau Der Gefängniswärter überlieferte den Brief an Fouquier-Tinville, unter dessen Papieren, nicht, wie es bisher fälschlich hieß, unter den Papieren Robespierres, er durch die Kommissäre gefunden wurde, welche, nachdem die Reaktion vom 9. Thermidor den Ankläger beim Revolutionstribunal »weggewischt« hatte, im Auftrage des Konvents die Hinterlassenschaft desselben untersuchten. Campardon gibt S. 125 fg. einen vollständigen Abdruck des Briefes..

Während die Königin schrieb, wirbelte der Generalmarsch durch die Straßen. Die Volkswehr der achtundvierzig Sektionen von Paris trat unter die Waffen, um dem Spruche des Tribunals ungestörten Vollzug zu sichern. Eine sehr überflüssige Entfaltung von trikoloren Uniformen übrigens; denn der Schrecken der Blutherrschaft wuchtete schon zu dieser Zeit und noch acht Monate lang so bleiern schwer auf der Stadt, daß an einen gewaltsamen Versuch, die Todesfahrt Marie Antoinettes zu ihrer Rettung zu benutzen, gar nicht zu denken war.

Die Königin hatte mittels des Briefes an Madame Elisabeth mit dem Leben abgeschlossen. Sie dachte jetzt nur noch daran, mit Anstand zu sterben. Das Gefühl für das Schickliche, den Frauen an- und eingeboren, regelte durchweg ihr Gebaren angesichts des Todes. Sie rüstete sorgfältig ihre Haube und zog ein weißes Kleid an. Dann richtete sie, auf ihrem Gurtbette sitzend, an die Gendarmen die Frage: »Glaubt ihr, das Volk werde mich auf das Schafott gelangen lassen, ohne mich in Stücke zu reißen?« »Madame«, gab einer der Wächter zur Antwort, »Sie werden auf das Schafott gelangen, ohne daß man Ihnen ein Leid zufügt.« Jetzt kam Sanson, der Oberkämmerer von Dame Guillotine. »Sie kommen zeitig, Monsieur«, sagte die Königin. »Ich vollziehe, was mir befohlen ist, Madame.« Er war so zeitig gekommen, um der Verurteilten die Haare abzuschneiden; allein sie hatte diesen schrecklichen Dienst schon selber verrichtet. Man meldete ihr: »Da ist ein Pfarrer von Paris, welcher fragt, ob Sie beichten wollen.« Die Königin sagte: »Ein Pfarrer von Paris? Es gibt ja keinen mehr.« Der Geistliche, selbstverständlich ein » prêtre constitutionnel«, kam herein, stellte sich vor und fragte: »Wünschen Sie, daß ich Sie begleite, Madame?« Worauf Marie Antoinette: »Wie Sie wollen, Monsieur.«

Schlag elf Uhr öffnete sich das Gittertor des Hofes der Conciergerie, und das Opfer trat heraus. Das Antlitz der Königin war bleich, aber ihr Blick stolz und ihr Gang fest. Die Hände waren ihr auf den Rücken gebunden, und Sanson hielt die Enden des Strickes. Man sah, daß er sich Mühe gab, sie nicht anzustraffen, sondern recht lose zu halten. Vor dem Tore stand der verhängnisvolle Karren, mit schmalem Sitzbrett; vielleicht derselbe, auf welchem drei Wochen später Marie Antoinettes große Feindin, Frau Roland, zur Guillotine fuhr. Beim Anblick dieses Fuhrwerks erbebte die Königin und wankte einen Augenblick. Wenigstens diese Schmach, mochte sie denken, hätte man der Tochter der Cäsaren ersparen können. Aber es mußte auch dieser Kelch geleert werden. Man half der Verurteilten auf den Karrensitz. Der beeidigte Priester nahm neben ihr Platz, hinter dem Sitzbrett ein Gehilfe Sansons, dieser selbst vor der Königin, aber stehend, seinen Dreispitzhut in der Hand. Marie Antoinette trug ein weißes Unterkleid, ein schwarzes Oberkleid und über diesem ein weißes Nachtkamisol mit schwarzen Bandschleifen an den Handgelenken; ferner ein Brusttuch von weißem Musselin und eine weiße Haube mit schwarzem Band.

Der einspännige Karren setzte sich in Bewegung und rollte langsam das Doppelspalier der Volkswehrleute entlang. Die Menge war hinter dem Spalier zahlreich angesammelt, verhielt sich aber schweigend, obgleich ein Lump, der Komödiant Grammont, seinen Dienst als Offizier der Nationalgarde schmählich mißbrauchend, sich in den Steigbügeln erhob und mit seiner Säbelspitze auf die Verurteilte wies, wie um den Pöbel aufzufordern, das Opfer zu beschimpfen. Es geschah aber nicht, sei es aus Gleichgültigkeit, aus Mitleid oder aus Scham. Nur zuweilen brach ein » Vive la république!« aus dem Volkshaufen hervor. Und doch war das Volk die letzten Tage her systematisch zur Wut gegen die Königin aufgestachelt worden, insbesondere durch den schändlichen Guffroy in seinem Journal »Rougyff« (Anagramm von Guffroy), dessen Nr. 8 von gemeinen und gemeinsten Schmähungen der Königin strotzte.

Marie Antoinette ließ während ihrer langen Todesfahrt ihre Blicke gleichgültig über die bewaffnete und die unbewaffnete Menge hinschweifen. Mit dem beeidigten Priester, der im Laienrock ihr zur Seite saß, sprach sie kein Wort. Im Vorüberfahren, am Palais-Royal bemerkte sie die Inschrift: » Palais-Egalité!« und machte unwillkürlich eine Gebärde der Entrüstung. Sie war aber zur Stunde schon an Philipp d'Orléans gerächt; denn für Philipp Egalité war ja der Todeskarren sozusagen auch schon angespannt, und zwanzig Tage später machte er denselben Weg zum Revolutionsplatz. Einen langen Schmerzensblick warf die Königin, angesichts des Schafotts angelangt, über den Tuileriengarten nach dem Palaste hinüber, wo sie vor Jahren als Braut des Dauphins ihren Einzug gehalten hatte, von der Bevölkerung von Paris mit überschwenglichen Huldigungen überschüttet. Und heute? In der unzähligen Menge wagte es nicht ein Mann, grüßend die Hand für sie zu erheben, und wagte es nicht eine Frau, für sie bittend oder betend die Lippen zu regen. Aber getrost! Nur noch ein paar Minuten, und alles ist vorüber …

Sie steigt die Stufen des Schafotts hinan, so gefaßt, daß sie in diesen furchtbaren Augenblicken sogar noch der Gesetze und Formen der Höflichkeit eingedenk bleibt. Sie hat nämlich, beim Hinaufsteigen eine der Stufen verfehlend, dem Scharfrichter Sanson auf den Fuß getreten und unterläßt nicht zu sagen: »Entschuldigen Sie, mein Herr, ich tat es nicht absichtlich.« Um 12¼ Uhr fiel ihr Haupt, und so verwildert war zu dieser Stunde die Revolution, daß Schuft Hébert seinen infamen » Père Duchesne« (Nr. 299) am Schlusse eines wüsten Schmähartikels über die Hinrichtungsszene sagen lassen durfte: »Die … ist bis zuletzt verwegen und frech gewesen. Indessen haben ihr schließlich doch die Beine gezittert. Wahrscheinlich fürchtete sie, nach dem Tode noch ein härteres Urteil zu vernehmen als das, das gerade vollstreckt werden sollte. Ihr verfluchter Kopf wurde endlich von ihrem Kranichhals getrennt, und die Luft hallte wider von den Rufen ›Es lebe die Republik!‹« Dies die Leichenrede, die der Sansculottismus der Tochter Maria Theresias gehalten hat …

Am Tage nach der Hinrichtung der Königin speisten Robespierre, Saint-Just, Barère und einer der Geschworenen, die in dem Prozesse fungiert hatten, bei Venua zu Mittag. Der Geschworene erzählte die Einzelheiten der Prozedur, und als er auf die ruchlose von Hébert gegen die Angeklagte erhobene Beschuldigung zu sprechen kam, rief Robespierre aus: »Dieser Bösewicht (scélérat) Hébert! Es war ihm also nicht genug, eine Messalina aus ihr gemacht zu haben, sondern er mußte sie auch noch zur Agrippina machen?« Die Anwesenden erstaunten. Allein Saint-Just bemerkte in seiner knapp-sentenziösen Weise: »Die Sitten können durch den soeben vollzogenen Akt nationaler Justiz nur gewinnen –« wozu der »Anakreon der Guillotine«, Barère, den Senf gab: »Das Messer der Guillotine hat da einen hübschen Knoten der Diplomatie Europas durchgeschnitten.« Und wieder Robespierre: »Wohl, es ist ein bedeutender Schritt vorwärts auf dem Wege der Revolution; aber die Zahl der Feinde der Republik ist groß.« Worauf Saint-Just: »So guillotiniert und deportiert sie alle miteinander und konfisziert das Vermögen der Verdächtigen!« »Ja«, meinte zum Schlusse Barère-Anakreon, »das Schiff der Revolution kann, wie es scheint, nur auf einem Blutmeer in den Hafen gelangen.«

Das Blutmeer fehlte nicht, aber statt in den Hafen der Freiheit gelangte das Schiff nur auf die Sandbank des Despotismus, und die Tragödie der Revolution verlief in das schuftige Satyrspiel des 18. Brumaire.


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