Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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17. In seliger Verschollenheit.

In den Stimmungen des Menschen finden oft so jähe Übergänge statt, daß die Psychologie sich begnügen muß, sie zu registrieren, statt ihren Prozeß darzulegen. Wir kennen zwar jetzt die Mechanik des menschlichen Organismus ziemlich genau, wenigstens den einzelnen Stücken und Teilen nach, allein das Ineinandergreifen der Räder hält der Vermutung noch immer ein weites Feld offen.

Nicht eben wunderbar jedoch ist die Folge von Stimmungen, welche wir Robert bis zu dem zuletzt geschilderten Ausbruch unbändiger Leidenschaft auf der Wippoklippe durchlaufen sahen.

Von Natur ernst und nachdenklich, war er durch die Erziehung, die ihm von feiten eines trefflichen Mannes zuteil wurde, schon als Knabe über die zwecklose und schale Existenz, in welcher so viele seiner Standesgenossen befangen bleiben, hinweggehoben worden. Die Grundsätze, welche er als Jüngling aus dem Wippoltsteiner Pfarrhaus in die Militärakademie, später auf Reisen und in den Soldatenstand mitgenommen, hatten ihn vor einer Vergeudung seiner Jugendkraft bewahrt, wie sie der Jugend des Privilegiums zu einer selten vermiedenen Klippe wird. Er war in der Tat, wie der Brief der Fürstin Hedwig an Thekla angegeben, aus der italischen Kampagne im Besitz einer jünglingshaften Frische heimgekehrt. Aber gerade in der ungeschwächten Kraft seiner Gefühle lag eine Gefahr, welcher er nicht entgehen sollte. Er hatte nie mit dem Feuer der Leidenschaft getändelt, und nur um so gewaltiger und verzehrender brach jetzt die Glut aus seinem Herzen hervor, als ihm in der Person Theklas zum erstenmal ein wahrhaft wahlverwandtes Wesen entgegentrat. Er fühlte von der ersten Minute ihrer Bekanntschaft an den mächtigen Zauber, aber dennoch wäre derselbe vielleicht nie imstande gewesen, ihn die furchtbare Schranke, die sich zwischen ihm und der Geliebten erhob, überspringen zu machen, hätte nicht ein finsteres Geschick ihn mit dem Manne zusammengeführt, dessen schreckliche Enthüllungen das Band entzweischnitten, welches ihn mit seinem Vater verknüpfte. In Wahrheit, es war keine leere Phrase, wenn sich Robert seiner Pflichten gegen den Grafen für entbunden erklärte. Sein in der innersten Fiber verwundeter Stolz empörte sich gegen den Gedanken, mit einem heimtückischen Verbrecher Gemeinschaft zu haben. Bei dem furchtbaren Stoß, welchen sein ganzes Wesen durch das Unerhörte erhalten, war seine Verzweiflung eine echte, sein Wunsch, zu sterben, ein aufrichtiger gewesen. Sein Leben erschien ihm als ein so vergiftetes, daß ihm das Wegwerfen desselben nur wie eine notwendige Schlußfolgerung vorkam. Daß hierbei seine aristokratische Denkweise einen großen Einfluß übte, braucht kaum gesagt zu werden. Ein beflecktes Wappenschild durchs Leben zu schleppen, einen geschändeten Namen zu tragen, gleichsam als Dieb in den Reihen seiner Standesgenossen zu stehen, abhängig von der Mitwissenschaft und Verschwiegenheit von zwei plebejischen Schurken – das zu ertragen, wie sollte es ihm, möglich sein? Es ist daher schwerlich zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß der Morgen, welcher der verhängnisvollen Abendstunde auf der Wippoklippe folgte, den jungen Mann kaum mehr unter den Lebenden gefunden haben würde, hätte nicht die plötzliche Erscheinung Theklas im Pavillon schicksalsmächtig eingegriffen. Die Erklärung, welche zwischen den Liebenden stattgefunden, warf sie auf eine Bahn, für deren Abschüssigkeit sie kein Gefühl mehr hatten. Ein neues Leben war ihnen aufgegangen, und der Rausch eines unermeßlichen Entzückens versetzte sie in jene Atmosphäre der Leidenschaft, wo eine tropische Glut die Erinnerung an die Vergangenheit vertilgt und kein Bangen vor der Zukunft aufkommen läßt.

Der alte Andres, der weder ein Psycholog war, noch von den erschütternden Gemütsbewegungen wußte, zwischen welchen sein Herr in letzter Zeit hin und her geworfen worden, hatte sich über das abwechselnd trübe und gereizte Wesen, welches Robert an den Tag legte, allerlei Gedanken gemacht. Er war an seinem Herrn eine gewisse gleichmäßig vornehme Ruhe gewohnt gewesen, und so hatte ihn besonders in den zwei letzten Tagen die tiefe Schwermut, welche dann wieder zeitweilig in peinliche Unrast umgesprungen, nicht wenig gestört und bekümmert. Seiner Vorrechte als »treuer alter Diener« wohl bewußt, hatte er sich vorgenommen, am heutigen morgen alles Ernstes zu »rekognoszieren«, das heißt, frischweg zu fragen, was denn wohl dem Herrn Rittmeister so zusetzte. Wie erstaunt war er daher, als er bei seinem Eintritt in Roberts Zimmer von diesem, der an seinem Schreibtische mit Kuvertieren und Siegeln mehrerer Briefe beschäftigt war, mit ganz Heller, munterer Stimme, ja sogar mit einem Scherzwort begrüßt wurde. Das war ihm schon lange nicht mehr vorgekommen, und der gute Alte glaubte in seiner Freude auch zu bemerken, daß das Aussehen seines Herrn ein so gutes und frisches sei, wie es in letzter Zeit nie gewesen. Er sollte auch sogleich erfahren, daß der Herr Rittmeister heute mitteilsamer war, als es sonst überhaupt in seiner Art lag.

»Andres,« sagte Robert, »ich fürchte, du wirst es mit Leidwesen hören, daß du dein dermaliges Quartier, welches dir nicht übel zu behagen scheint, für eine Weile verlassen sollst.«

»Ei, Sapperlost, Euer Gnaden, ein alter Husar und Wachtmeister weiß, daß er Order parieren muß und daß es für einen Soldaten, solange er auf der Erde geht oder reitet, kein bleibend Quartier gibt. Marschieren wir, Herr Rittmeister?«

»Wir nicht, sondern zunächst du allein.«

»Ah, ich glaubte schon, ich dürfte zum Satteln blasen lassen.«

»Weder vom Satteln noch vom Blasen ist die Rede, Alter; denn erstlich wirst du im Postwagen fahren, und zweitens wirst du ohne allen Lärm und ganz in der Stille abreisen. Verstanden?«

»Sehr wohl. Aber wohin?«

»Nach der Residenz. Du wirst dort ein Geldgeschäft für mich besorgen.«

»Ein Geldgeschäft? Oh, alle Wetter, Herr Rittmeister, bedenken S', davon versteh' ich justement so viel wie ein Rekrut, der zum erstenmal in die Manege kommt, vom Voltigieren.«

»Tut nichts. Ich brauche nur einen vertrauten Mann dazu, der Augen im und Ohren am Kopfe hat.«

»Nun, damit könnt' ich ja dienen und, bitt' um Pardon, Herr Rittmeister, glaube auch von dem alten Andres sagen zu dürfen, daß er außerdem etwelche Grütze unter der Hirnschale und ein ganz passables Mundstück hat, nicht zu vergessen einen guten Merker.« »Richtig. Hör also. Du weißt, wie ich glaube, daß mir ein Vetter meiner seligen Mutter vor einiger Zeit ganz unerwartet eine bedeutende Summe testamentarisch hinterlassen hat.«

»Weiß es. Ist eine noble Sache um derartige Vettern, alle Wetter!«

»Wohl. Die Gelder find bei zwei Bankhäusern der Residenz angelegt, und der Rechtskonsulent Muglich ist mein Bevollmächtigter in der ganzen Sache. Ich habe nun Gründe, über die Gelder anderweitig zu verfügen, da sie mein persönliches Eigentum sind. Du wirst diesen Brief und diese Papiere da an Muglich überbringen. Er wird ohne Zweifel imstande sein, die betreffenden Gelder in kürzester Frist flüssig zu machen, und wird sie dir zum kleineren Teile in Gold, zum größeren in Wechseln einhändigen. Dann machst du dich sogleich damit auf den Rückweg nach Wippoltstein. Ist die Order klar?«

»Klar wie Wasser.«

»Muglich kennt dich persönlich, da ich dich ja letzten Winter öfter zu ihm geschickt. Das wird die ganze Sache bedeutend abkürzen. Aber du mußt noch heute reisen.«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister. Will sogleich den Mantelsack packen.«

»Tue das. Und höre, sei kein Narr und laß dir nichts abgehen auf deiner Reise. In der Residenz aber halte gegen jedermann reinen Mund über dein Geschäft, und wenn du die Gelder in Händen hast, so sei weniger offenherzig als mißtrauisch und gucke nicht zu tief ins Glas.«

Der alte Soldat räusperte sich mächtig, um über diese Mahnung eine gewichtige Bemerkung zu machen, schlug aber vor dem wohlwollenden Lächeln seines Herrn die Augen nieder, und da bei dieser Gelegenheit sein Blick auf die intensive Purpurfarbe seiner Nasenspitze fiel, so ließ er es beim Räuspern bewenden. »Da ist Geld zur Reise,« sagte Robert. »Leb wohl, mache deine Sache gescheit und komm baldmöglichst wieder.«

Andres salutierte, machte Kehrt und verließ das Zimmer, kam aber sogleich zurück und meldete, daß der Müller Veit im Vorzimmer sei und den gnädigen Herrn Rittmeister um Gehör bitte.

Robert sprang mit so einem heftigen Fluche, wie ihn der alte Soldat noch nie von ihm gehört, von seinem Stuhl auf, eilte zur Türe und riß sie auf, so daß er sanft mit dem Müller zusammenstieß, der ihm mit tiefen Bücklingen entgegentrat.

»Was soll's?« fragte der junge Mann mit stolzer Kälte.

Etwas verblüfft durch diesen barschen Empfang zwischen Tür und Angel, verbeugte sich der Müller abermals und sagte dann:

»Der gnädige Herr Rittmeister scheinen pressiert –«

»Allerdings. Was soll's?«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung –-«

Robert machte eine verachtungsvolle Bewegung mit der Hand und sagte ungeduldig:

»Spart die Schnörkel. Zur Sache!« »Ich komme, um untertänigst Euer Gnaden Vermittelung in einer Geschäftssache in Anspruch zu nehmen. Seine Erlaucht der Herr Graf, welcher mir stets ein gütiger Herr gewesen, hatte vor seiner Abreise die Gnade, das sogenannte Ermshölzle, welches zwischen den Wiesen der Donnerfallmühle liegt, verkaufsweise an mich abzutreten. Nun macht mir der Herr Oberrentner in betreff der Vollziehung des Kaufkontrakts Schwierigkeiten, die ich einzig und allein Intrigen von seiten des Oberförsters, der mir übel will, zuschreiben kann. Wenn nun der gnädige Herr Rittmeister als Stellvertreter Seiner Erlaucht ein entscheidend Wort sprechen wollte, um mir zu meinem Rechte zu verhelfen, würde er mich zu treu-untertänigstem Danke verpflichten. Es kostet Euer Gnaden nur ein Wort –«

»Ich habe für Euch kein Wort,« entgegnete Robert mit niederschmetternder Verachtung, »nicht eines Wortes hundertsten Teil, hört Ihr? Geht und untersteht Euch nicht, mich irgendwie wieder zu belästigen. Ich habe nichts mit Euch gemein, gar nichts.«

Der Müller richtete sich aus seiner untertänigen Stellung auf, seine Mundwinkel zuckten, und aus seinen gekniffenen Augen kam ein Blick giftiger Wut. Er wollte sprechen, aber die Miene Roberts war so unzweideutig drohend, daß er seine Worte verschluckte, seinen Ingrimm nur in der Form einer tiefen Verbeugung zu äußern wagte und ohne Zögern seinen Rückzug antrat.

Der kleine Mohr Berdoa begegnete ihm unter der Türe und lachte herzlich mit, als der alte Andres lachend sagte:

»Na, Sapperlost, der geht davon wie ein begossener Hund. Geschieht dem Kerl ganz recht, und war's auch nur für die Frechheit, die schöne braune Stute zwischen seine Spindelbeine genommen zu haben.«

Berdoa hopste wie ein Affe zu Robert heran und sagte:

»Die gnädige Frau läßt dem Herrn Rittmeister melden, daß sie und die Gondel zur Abfahrt bereit seien.«

»Gut, Monsieur Joko. Melde deiner Herrin meinen Morgengruß und daß ich mir sogleich die Ehre geben würde, sie abzuholen.«

Als der Müller Veit die große Avenue hinabging und spähende Blicke auf Schloß und See zurückwarf, sah er die Barke der Gräfin von der Wippoklippe weggleiten. Mit schwellendem Segel und flatterndem Wimpel fuhr sie, ihren Kiel dem südlichen Ufer zu gerichtet in das Wasser hinaus. Eine weibliche Gestalt stand im Bug, eine männliche hielt das Steuer. »Fahre nur zu, du schmuckes Pärchen!« brummte der Müller mit höhnisch verzogenen Mundwinkeln. »Der Wind bläst lustig in das Segel deines Boots, und alles ist eitel Lust und Freude. Müßte mich verteufelt irren, wenn sich eurer Fahrt nicht eine Klippe in den Weg schieben ließe. Dieses Weib, dessen Schönheit wahnsinnerregend ist, hat mich stets wie einen Hund behandelt. Wollen doch sehen, ob wir die Übermütige nicht noch dahin bringen können, den Hund zu liebkosen. Und dieser Knabe von Rittmeister, der auftritt wie ein Kaiser, weil er ein paar lumpige Bataillen mitgemacht. Als ob das nicht jeder Poppel könnte! Mich so zu traktieren, mich, dem der Bursche im Grunde seine ganze flitterige Existenz verdankt! – Ob sie wohl zu der hochmütigen alten Metze, der Lore, hinüber wollen? Sollte mich nicht wundern. Die weiß ja Rat in Liebesnöten. In solchen sind sie, tausend Eide wollt' ich drauf schwören. Und was hat es zu bedeuten, daß der stolze Narr von Junker mit dem infamen Twerenbold verkehrt? Daß er mit ihm verkehrt, weiß ich. Aufgepaßt, Veit! 's ist nicht alles, wie's sein sollte, und ich muß all diesem auf den Grund kommen. Will man mich um das verfluchte Ermshölzle prellen, oder ist gar noch Schlimmeres im Werke? Aber, wartet nur, den Grafen hab' ich am Bändel, der ist mir sicher, und euch allen will ich noch den Meister zeigen, so wahr ich Veit heiße. Einstweilen wünsch' ich, der See täte mir den kleinen Gefallen, den Kahn dort mit dem, was drauf ist, zu verschlingen.«

Der See schien jedoch nicht geneigt, diesem frommen Wunsche nachzukommen. Ein frischer Biswind trieb die leichte Barke über die bewegte Fläche, daß der Schaum unter dem Buge aufspritzte. Sie hielt zuerst gerade auf die Einsiedelei von Sankt-Georg zu, in der Nähe des gegenüberliegenden Ufers angelangt, drehte sie sich jedoch, dem Drucke des Steuerruders gehorchend, in graziöser Wendung dwarsab, glitt backbordwärts außerhalb des Bereichs der heftig an die senkrechten Kalksteinwände schlagenden Brandung hinauf, legte in dieser Richtung rasch noch eine Viertelstunde zurück und kehrte dann mit einer abermaligen Wendung ihren Bug einer schmalen Bucht zu, die sich zwischen hohen Felswänden dem Ufer zuschlängelte. Das Segel fiel, indem Robert das Halttau löste. Er griff zur Stoßstange und trieb mittels derselben die Gondel in die Bucht hinein, in deren Hintergrund die Landung bewerkstelligt werden sollte.

Bald streifte der Kiel den knirschenden Uferkies. Thekla sprang leicht und gewandt ans Land, Robert folgte und zog die Gondel zur Hälfte aufs Ufer.

Sie standen am Eingang einer tief und weit in das Felsenlabyrinth gesprengten Schlucht, welche über und über von dem üppigen Grün der Buchen und Ahorne erfüllt war. Darunter hervor rauschte der Bucht zu der Gluribach, sein grünes Wasser an dem Steingeschiebe seines Bettes zu weißem Schaum schlagend.

Robert nahm aus dem Boot eine wohlgefüllte Weidtasche, die er sich umhing; ferner zwei Alpenstöcke, deren einen er Thekla reichte, und sagte:

»So, jetzt frisch voran!«

Sie wandte sich der Schlucht zu, aber bevor sie den Fuß hob, haschte er noch einen Kuß von ihren Lippen, den sie ihm mit über die Schulter gewandtem Kopf zu bieten schien.

Nun gingen sie, und er freute sich des anmutigen Ganges, womit die Geliebte in ihrem »Berghabit« vor ihm herschritt. Unter ihrem geschürzten Kleid hervor fielen Leinwandpantalons auf die derbbesohlten Bergstiefelchen nieder, welche die feinen Umrisse der Knöchel allerliebst hervortreten ließen. Die langschößige grüne Jacke, die sie als Oberkleid trug, bauschte im Winde, jetzt die schönen Formen ihrer Gestalt zeigend, dann wieder verhüllend. Auf dem Haupte hatte sie einen flachen, breitrandigen Strohhut, unter welchem sich die Fülle goldglänzenden Haares überall hervordrängte, und auf der linken Schulter trug sie ein zusammengerolltes Plaid zum Schutz gegen Wind und Wetter.

Dem jungen Mann drängte sich die Poesie, welche in ihrer ganzen Erscheinung lag, so mächtig auf, daß er mit naiver Bewunderung ausrief:

»Thekla, wie bist du schön!«

»Hast du diese Entdeckung jetzt erst gemacht?« versetzte sie lachend.

»Ich mache sie immer wieder von neuem.«

»Desto besser, und da du es so andächtig sagst, muß ich es wohl glauben.«

»Glaube es nur.«

»Das tu' ich. Wer wird seinem Schatz diesen Gefallen nicht tun? – Doch sieh, wie herrlich! Wie rein blaut der Himmel ob der Schlucht! Sieh, wie dort links durch den gewaltigen Riß in der Felswand die Silberspitze des Glurihorns hereinfunkelt und wie dort rechts der finstere Basaltkegel des Klakenstocks gigantisch sich in die Höhe gipfelt! Und wie lustig rauscht der Bach unter uns! Und horch, wie zwitschern und singen dort im Gehege die Zaunkönige und Goldhähnchen! Die lieben sich auch, nicht wahr?«

Und in tiefster Seele leicht und froh wie ein Vogel, erhob auch sie ihre Stimme und sang im Gehen das Berglied:

»In die Berge hinein, in das liebe Land,
In der Berge dunkelschattige Wand!

In die Berge hinein, in die schwarze Schlucht,
Wo der Waldbach tost in wilder Flucht!

Hinauf zu der Matten warmduftigem Grün,
Wo sie blühn,
Die roten Alpenrosen.«

Wie das frisch in den Morgen hineinklang und wie gerne der glückliche Robert ihr jeden Ton von den Lippen geküßt hätte!

»Mir ist zumute,« sagte er, »als wären wir plötzlich mitten in eine Eichendorffsche Novelle hineingezaubert. Alles ringsum rauscht und funkelt, singt und klingt von Glück. Mir ist unendlich wohl, so leicht, als könnte ich fliegen und hätte alle Not und Gemeinheit des Lebens für immer von den Flügeln geschüttelt. Es ist ein märchenhaftes Glück!«

»Ja, Robert,« entgegnete sie und blieb stehen, um ihn anzulächeln und den Strahl seiner Augen zu trinken, »ich bin sehr glücklich.«

»Aber ich erst!«

Und nun stritten sie nach Art der Liebenden, welches von beiden das Glücklichste sei, und beendigten den süßen Streit mit süßeren Küssen.

Im Hintergrunde der Schlucht begann der schmale, kaum wahrnehmbare Pfad steil anzusteigen. Wie man gewöhnlich bei bedeutenden Verknotigungen des Hochgebirgs wahrnimmt, daß die Kalksteinmassen, welche die äußere Umwallung bilden, sehr jäh, oft senkrecht wandartig gegen das Tiefland zu abstürzen, so war es auch hier. Die beiden hatten länger als drei Stunden eine Steigung zu überwinden, durch welche sich gradaus und zickzack ihr Weg hinaufwand, durch hundert trotzige und pittoreske Felsformen hindurch. Stets war der Gluribach ihr Begleiter und auch ihr Wegweiser, denn der Pfad war offenbar nur sehr selten von Menschenfüßen betreten und ging auf dem harten Gestein oft ganz aus.

Unter tausend Scherzen klommen sie aufwärts, Thekla stets voran, mit der Sicherheit und Schnellkraft einer Gemse, den Freund da und dort auf eine seltene Blume, auf einen überraschenden Durchblick, auf eine bizarre Gruppierung der Steinkegel aufmerksam machend. Hingerissen von dem Reiz ihrer Schönheit und ihres anmutigen Geplauders, stand er dann wohl still, um, in seiner Seligkeit von einem plötzlichen Bangen angefaßt, auszurufen:

»Kann das wohl dauern?«

»Kleinmütiger!« schalt sie. »Auch das Glück will geglaubt sein. Du hast keinen Glauben.«

»Oh doch! Ich glaube an dich.«

»Schmeichler! Seht doch, er will mir gewiß weismachen, daß er allen Ernstes im Sinn hat, mir da oben irgendwo einen Altar zu errichten, wie der Behauptung des guten Pfarrers zufolge vorzeiten der Holda oder Hludana solche in diesen Bergen errichtet worden. Aber nichts weiter von Mythologie und Fiktion, liebes Herz. Ist dieses Tages Wirklichkeit nicht Poesie genug, höchste Poesie? Laß uns nur erst droben sein auf meiner Glurialm, selig verschollen in der wundersamen Bergeinsamkeit.«

Sie entstiegen jetzt allmählich der unteren Bergregion, um in die Alpenregion einzutreten. Das Laubholz blieb hinter ihnen zurück, Rottannen, Arven und Kiefern stiegen rechts und links aus den Schluchten auf und hafteten mit ihren trotzigen Wurzeln selbst an den schroffsten Gehängen. Das Bett des zu ihren Füßen weißschäumenden Baches wurde öder und felsiger; ungeheure, halb übermooste Felsblöcke schienen nach allen Seiten hin den Durchpaß zu sperren; die Schlucht wurde düster und düsterer, denn die kolossalen Felswände rückten naher und immer näher zusammen, so daß oben nur noch ein schmaler tiefblauer Strich Luft sichtbar blieb; der Singsang der Vögel, welche die niedriger gelegenen Berghänge zu bewohnen pflegen, war längst verstummt und das eintönige Brausen der stürzenden Wasser füllte mit betäubender Macht den schwarzen Kessel.

Um einen Felsvorsprung biegend, der die Schlucht zu schließen schien, war Thekla Roberts Augen für einen Moment verschwunden. Im nächsten hörte er sie über seinem Kopfe rufen:

»Durch Nacht zum Licht! Viktoria, hier ist Kanaan!«

Er eilte ihr nach, ein Lichtstrom fiel von oben auf ihn, linker Hand spannte sich der Bach in einem donnernden Bogen in die Felskluft hinab, und rechts da oben stand Thekla und winkte ihm zu. Im Nu war er oben und an ihrer Seite.

»Ist das nicht schön?« fragte sie, mit ihrem Alpstock vor sich hindeutend.

Es war schön, groß zugleich und lieblich, Erhabenheit und Anmut in wundersamer Harmonie, eine Überraschung, wie sie nur dem Wanderer in den Alpen begegnen kann, der so oft aus finsteren, todestraurigen Schluchten in Szenerien voll lachender Heiterkeit plötzlich hinübertritt. Dieser häufige und unerwartete Wechsel des Charakters der Landschaft ist eins der auszeichnenden Merkmale der Alpenregion. Wir werden davon berührt, wie wenn Milton in seinem großen Gedicht hart neben die Schrecknisse seiner Dämonenwelt die von Lieblichkeit überquellende Schilderung von Adams und Evas Liebeleben in Eden hinstellt.

Eine tiefe Einsattelung zog sich sanftgeneigt etwa eine Wegstunde weit aufwärts und bildete ein tiefgrünes Hochtal, an dessen beiden Seiten die Berge in anmutigen Wellenschwingungen aufwärts stiegen, um sich dann höher droben in den kühnsten und pittoreskesten Formen in den Himmel hineinzugipfeln. Die Halden links und rechts waren mit Tannengehölz und bemoosten Felsblöcken malerisch geschmückt. Links im Hintergrunde ragte in pyramidaler Regelmäßigkeit die starre Nadel des Glurihorns in schwindelnde Höhe, rechts wuchtete der kolossale Klakenstock mit steil abstürzenden Wänden und breitem First. Zwischen diesen beiden Riesen dehnten sich die schimmernden Eismassen des Glurigletschers, welcher das kleine Tal abschloß. Da, wo er die Sohle desselben berührte, kam aus seinen Höhlungen der Gluribach hervor. In munteren Sätzen, da und dort eine Kaskade bildend, eilte er das Tal herab, bis er in seinem Laufe auf ein Hindernis stieß. Ein ungeheurer Granitblock, vielleicht aus der vorhistorischen Zeit stammend, wo der Gletscher die ganze Einsattelung bedeckt hatte, ragte mitten in derselben empor und teilte den Bach in zwei Arme, so daß, weil dieselben, sobald sie konnten, wieder zusammenflössen, eine kleine Insel gebildet wurde. Auf diesem Inselchen waren im Schütze des Felsens eine Arve und eine Zirbelkiefer zu majestätischer Höhe aufgeschossen, und zwischen ihren Stämmen stand, mit dem Rücken an den Stein gelehnt, eine aus Balken aufgeblockte Hütte.

Über der ganzen Szene schwebte jener unbeschreibliche Zauber der Wildnis und Einsamkeit, welcher die Seele weitet und dem Menschen das unsägliche wohlige Gefühl des Alleinseins mit der Natur gibt.

War aber das Ganze mit seinen in einsamer Majestät in den wolkenlosen Himmel aufragenden Firnen und Zacken, mit seiner durch das klingende Getön der stürzenden Wasser melodisch unterbrochenen Stille schon groß und schön, so konnte es durch Beachtung von einzelnen Schönheiten nur noch gewinnen. Dort rechts flatterte von einer mächtigen senkrechten Felswand eine in Staub aufgelöste Kaskade herab, vom Wind hin und her bewegt, wie ein silberner Schleier in der Sonne wehend. Da links an der Halde brach aus einer bizarr zusammengewürfelten Gruppe von Nagelfluhstöcken ein starker, kristallklarer Quell hervor. Weiterhin blinkte aus einem Seitentälchen der Spiegel eines jener rätselhaften Hochseelein, die, von unterirdischen Quellen genährt, keinen sichtbaren Zu- und Abfluß haben, und in deren dunkelgrüner Klarheit sich die schneeigen Gipfel geisterhaft spiegeln. Der saftgrüne Rasen der Trift leuchtete von der Pracht der Alpenflora. Die prächtige Genziane hob ihre purpurblauen Blütenglocken millionenfältig aus dem dunkeln Grün. Das zierliche lilafarbene Alpenglöcklein, hochgelbe Aurikeln, rosenrote Silenen, weiße Alsineen, blauer Alpenaster, bunte Orchideen, Ranunkeln, Anemonen, Nigritellen, Dryas, Thymian und Aglei waren in blühender Buntheit weithin verbreitet, hauchten balsamischen Duft und zeigten, daß die alpine Flora an Intensivität der Farben fast mit den Blumen der Tropen wetteifern kann. Aber das Schönste des Blütenreichs waren doch die üppigen Büschel der Alpenrosen, die wie purpurne Girlanden überall die felsigen Abhänge überhingen. Auch an animalischem Leben fehlte es nicht. In dem Blumen- und Gräserrevier freute sich die reiche Insektenwelt ihres tausendfach wimmelnden Lebens, in dem kleinen See zog die Alpenforelle ihre graziösen Kreise, Schmetterlinge gaukelten umher, die Bergeidechse sonnte sich auf den Felsen, und in den Haldengehölzen und am Ufer des Baches nisteten und zwitscherten die Vögel der Alpenregion, die Frühlerche, die Ringamsel, die graue Bachstelze, der Zitronfink, die Felsenschwalbe und der Alpensegler.

Lange schauten die Liebenden mit stiller Freude in all die Pracht hinein.

Endlich sagte Robert:

»Wie schön ist's hier! Wie heilig still und einsam!« »Ja,« erwiderte Thekla, »und doch ist's ein verrufener Ort, den die Hirten und sogar die Jäger vermeiden. Vor Jahren hat hier ein verrufener Gemsjäger, namens Cyriak, gewöhnlich der Gluricyriak geheißen, einsam in der Hütte dort gehaust. Du hast früher gewiß von ihm gehört, man erzählt sich allerhand Unheimliches von ihm. Er wußte sich so in Respekt zu setzen, daß niemand sein Revier zu betreten wagte. Endlich verschwand er spurlos; wahrscheinlich ist er in den unzugänglichen Gletscheröden verunglückt, aber die Bergbewohner glauben fest, der Teufel, mit welchem er einen Pakt gehabt, hätte ihn geholt und sein Geist spuke schauerlich in dem Gluritälchen, welches darum nach wie vor jeder meidet. Siehst du, das kommt uns nun zugute. Ich habe im vorigen Sommer den prächtigen Ort sozusagen erst wiederentdeckt, nur durch einen Zufall. Die Hütte war zerfallen, der zu ihr führende Weg weggeschwemmt. Ich beschloß, den Ort zu meiner Sommerfrische zu machen, wie sie in Innsbruck sagen, und ließ daher einen Steg nach dem Inselchen legen und die Hütte neu instand setzen. Dann hab' ich mit der misanthropischen Jungfer Gertrud und dem närrischen Berdoa mehrmals halbe Wochen hier zugebracht. Zuletzt noch einige Tage am Ende Septembers.«

»Müßten wir den Ort nie wieder verlassen!« »Warum sich beim Kommen schon Gedanken wegen des Gehens machen? Warum der rosenwangigen Gegenwart, Shakespearesch zu reden, der Zukunftsbangigkeit Blässe ankränkeln? Wie heißt doch das lateinische Wort, welches ich dir zu beherzigen geben möchte?«

»Carpe diem!« »Ja, pflücke den Tag! Es steckt Weisheit darin. – Aber sieh da den Adler, der dort an den Zinnen des Klakenstocks herüberschwebte und sich jetzt mit ausgebreiteten Schwingen über dem Gletscher wiegt.«

»Sei er uns ein gutes Omen!«

»Amen von Herzen. Und jetzt komm, damit wir wie Philemon und Baucis von unserer Hütte Besitz nehmen und wenn auch nicht der Welt – was geht uns die an! – doch uns selber den Beweis liefern, daß auch noch im neunzehnten Jahrhundert ein Idyll möglich sei.«

Sie fanden in der Hütte alles so, wie Thekla es im vorigen Herbst verlassen. Keine neugierige oder diebische Hand hatte das Schloß der Türe zu sprengen versucht, und sehr wahrscheinlich hatte kein menschlicher Fuß das Tal betreten, seit Thekla zum letztenmal hier gewesen. Noch hing in dem Vorraum, der als Küche und Wohngemach diente, über dem in der Mitte stehenden Herd der eiserne Kessel an seinem Haken, und von dem Gestell an der Wand blinkte die Teemaschine und allerlei Eßgeschirr.

»Ist es nicht heimlich und idyllisch hier?« sagte Thekla. »Aber nun heißt es: Arbeitet, daß ihr esset! Denn ich denke, liebes Herz, der Morgengang hat dir nicht minder als mir den Appetit geschärft, und die Alpenluft wird schon dafür sorgen, daß wir uns nicht ganz in Romantik verflüchtigen.– Da, nimm den großen Krug und fülle ihn an der Quelle; es ist ein köstliches Wasser. Auch Holz mußt du mitbringen; es gibt im Tannicht dürre Äste und Reiser die Fülle. Ich will inzwischen die Weidtasche auspacken und sehen, ob Gertrud gut für uns gesorgt hat.« Als Robert mit seinem Reisigbündel und dem gefüllten Krug zurückkam, harrte seiner eine neue Überraschung. Aus einer Türe im Hintergründe des Gemachs schlüpfte Thekla in der reizenden Tracht des Gebirges. Der kurze schwarze Rock mit der breiten Bordüre von Seidenstickerei über den Zwickelstrümpfen, das rote Mieder und weiße Koller kleideten sie allerliebst. In zwei schweren Zöpfen fielen ihre schönen Haare bis zur Kniekehle hinab, und aus den weiten kurzen Hemdärmeln leuchteten verführerisch die herrlich gerundeten Arme.

»Siehst du,« sagte sie dem freudig Verwunderten, »ich habe Bergtoilette gemacht, und jetzt will ich die Köchin machen, so gut es gehen mag.«

Es ging ganz gut, denn auch Robert zeigte, daß er sich in den Beiwachten so nebenbei einige Ideen von der edlen Kochkunst angeeignet. Mit Hilfe des Inhalts der Weidtasche, sowie mit Hilfe des Kessels und der Teemaschine stand nach kurzer Weile ein ganz erträglicher Imbiß auf dem im Schatten vor der Hütte gedeckten Tisch. Es fehlte dem Mahl auch nicht an einer Flasche Wein, welche Thekla wie durch Zauber aus einem Winkel der Hütte herbeigeschafft, welchen die alte Gertrud, die ein Gläschen liebte, vorigen Sommer zu ihrem Keller erkoren hatte. Unter tausend reizenden Neckereien wurde die Mahlzeit eingenommen, und am Schlusse derselben holte Thekla dem Geliebten ein großes Paket Glimmstengel herbei, welches sie in ihr Plaid gewickelt mit herausgebracht. Er mußte ihr die willkommene Gabe mit Küssen bezahlen, ein Handel, bei welchem das Objekt eigentlich ganz vergessen wurde.

»Weißt du noch,« sagte dann Robert, »wie du mich zum erstenmal mit Zigarren versorgtest?«

»Ja, freilich, und ich muß dir nur sagen, daß ich dich schon damals hätte küssen mögen.« Und nun freute es sie, sich gegenseitig die kurze, aber inhaltsreiche Geschichte ihrer Liebe zu erzählen, wie oft ihre Leidenschaft im Begriffe gewesen, unter der Eisesdecke der Konvenienz hervorzubrechen. Weiter, wie Thekla von der Angst des Wahnsinns angewandelt worden, als sich Robert auf der Brandstätte in das brennende Haus gestürzt, und wie er, seiner Aussage nach, das gefährliche Wagnis doch nur unternommen, weil er die Geliebte am Fenster des Pfarrhauses erblickt; wie sie dann während Roberts Krankheit mehr und mehr sich gefunden, wie sie durch Eingehen eines geschwisterlichen Verhältnisses über die Natur ihrer Gefühle sich zu täuschen gesucht, wie endlich Thekla gestern abend durch einen unwiderstehlichen, geheimnisvollen Zug nochmals aus ihrem Turmzimmer auf die Wippoklippe geführt worden.

Nur eine furchtbare Stelle in ihrer Geschichte berührten sie wie infolge stillschweigender Übereinkunft nicht wieder, das Geheimnis, welches Robert von Twerenbold erfahren. Robert hatte gestern noch der Geliebten das Gräßliche im Umriß angedeutet, und nun war es einstweilen unter ihnen abgetan.

Die Erinnerung an diesen nächtlichen Greuel paßte nicht in die sonnige Existenz des Gluritals, wo die Liebenden die Hochgenüsse der Freiheit und Einsamkeit in vollen Zügen schlürften. Theklas glückliches Naturell entfaltete sich jetzt, im Sonnenschein des Glückes, zur vollsten Blüte. Ihre reizende Natürlichkeit, allem gemachten Pathos entschieden abgewandt, aber von seelenvollster Innigkeit und Glut, würde für Robert ein unerschöpflicher Quell des Entzückens. Ihre bezaubernde Heiterkeit wischte eine Falte des Pessimismus nach der andern aus seiner Seele und von seiner Stirne. Er stimmte mit ein in ihre Lieder und in ihr fröhliches Lachen. Sie entwarfen reizende Pläne für die Zukunft, wie sie übers Meer in fremdes Land ziehen wollten, um sich dort ein durch Arbeit gewürztes neues Leben zu gründen, weit hinter sich all den Wust der alten Welt.

Da neckte ihn wohl Thekla damit, daß er dann feinem Aristokratismus werde entsagen müssen.

»Wenn ich mit dir und für dich leben darf, werde ich auch eine andere Existenz schön finden,« erwiderte er.

Mit den Zukunftsplänen wechselte der heiterste Genuß der Gegenwart. Sie rüsteten mit dem Eifer spielender Kinder ihre einfachen Mahlzeiten, kletterten sich versteckend und suchend an den Halden umher, beobachteten stundenlang die Prachterscheinungen des Tages und der Nacht an den Bergkolossen, hinter welchen sie so süß geborgen waren, schauten dem majestätischen Flug des Adlers und Bartgeiers zu, angelten in dem kleinen See, haschten Schmetterlinge, belauschten den Nestbau der Bachstelze, beschlichen die Höhlenwohnung des Murmeltiers.

Müde von alledem, griffen sie dann wohl auch nach dem kleinen Büchervorrat, welcher von Theklas vorjährigem Aufenthalt her in der Hütte vorhanden war, und auf weiches Moos im Schatten gelagert lasen sie einander vor. So stießen sie in einer dieser Stunden, in Novalis' Fragmenten blätternd, auf die Stelle: »Eine Verbindung, die auch für den Tod geschlossen ist, ist eine Hochzeit, die uns eine Genossin für die Nacht gibt. Im Tode ist die Liebe am süßesten; für die Liebenden ist der Tod eine Brautnacht, ein Geheimnis süßer Mysterien.«

Sie sahen sich lange dabei an, und ein unerklärlich seltsamer, tiefschmerzlicher und doch wollustvoller Schauer überflog ihre Herzen.

Aber die Gegenwart behauptete ihr Recht und ließ kein banges Ahnen aufkommen. Sie hatten auch eine Lektüre, welche sie wundersam anzog und fesselte, des alten Meisters Gottfried von Straßburg Gedicht von Tristan und Isolde, die farbenglühendste, üppigste Blütendolde der Poesie des Mittelalters. Sie konnten nicht müde werden, in dieser herrlichen Dichtung die von Schönheit überfließende Schilderung von dem Liebeleben des in die Wildnis verwiesenen Paares in der Minnengrotte zu lesen. Harmonierte diese von dem Dichter mit den reizendsten Farben ausgemalte Situation doch wundersam mit ihrer eigenen, und gab es da Stellen, die sie wörtlich auf sich beziehen konnten.

Was Wunder, daß ihnen zuletzt Poesie und Wirklichkeit zu einem Strom innigsten Befriedigtseins zusammenrann? Ihre Bergeinsamkeit wurde ihnen zur Glückseligkeitsinsel des Märchens, die, losgelöst von der Erde, im freien Himmelsraume schwelgerisch schwebte, und wie sie die Welt tief zu ihren Füßen vergessen hatten, so konnten sie träumen, daß auch da drunten an ihre selige Verschollenheit geglaubt würde.


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