Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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16. »Und befreiet in Flammen Jauchzt in Lüfte der Geist uns auf.«.

Robert hatte den alten Herrn am Gestade des Pfarrgartens gelandet und war dann mit lässigen Ruderschlägen zur Wippoklippe zurückgekehrt.

Nachdem er die Gondel an ihrer Haltkette befestigt hatte, stieg er die Treppe zum Pavillon hinauf, welchen er leer fand. Er warf sich auf die rund um die Balustrade laufende Bank und starrte, in kummervolles Sinnen versunken, teilnahmelos in alle die Schönheit hinaus, womit der Abend vor seinem Übergang in die Nacht die Landschaft überschüttete.

Die glühende Sonnenscheibe war schon am wolkenlosen Westhimmel hinuntergesunken, aber ihre Strahlen wölbten gleichsam durch das tiefe Blau des Himmels eine mattgolden glänzende Brücke bis zu den Zacken und Firnen des Gebirges empor, und aus dieser Brücke fuhren rote Lichter hinter dem Rande des Horizontes herauf, um mit dem prächtigen Farbenspiel des Alpenglühens die Gletscher und Schneefelder zu umhüllen. Das rote Wallen und Wogen da oben warf seinen Widerschein auf die leichtgekräuselten Wasser des Sees, daß sie wie ein ungeheurer Strom geschmolzenen Silbers glänzten und funkelten, scharf sich abschneidend gegen die schon von düsteren Abendschatten angeflogenen Felswände des gegenüberliegenden Ufers. Auf mählich sich zur Ruhe faltenden Schwingen trug der Abendwind das Rauschen des Donnerfalls herüber, und mit den Riesentakten des Katarakts mischte sich der Klang der Betglocke, die drunten im Dorfe den Landleuten das Ende ihrer Tagesmühen verkündigte. Es war die Stunde, deren Stimmung Dante so schon wiedergegeben hat in den Versen:

Die Stunde war es, die zu stillem Weinen
Dem Schiffer zwingt das Herz und still ihn rührt
Am Tag, da er verließ die holden Seinen,
Und wo der Wandrer Sehnsuchtsleid verspürt,
Hört fernherüber er das Glöcklein schallen,
Als weint' es, weil der Tag sich still verliert.

Ein tiefes Weh wahrlich muß das Menschenherz erfüllen, wenn es dem sänftigenden Einfluß einer solchen Stunde an solchem Orte widersteht, oder wenn es gar statt Frieden nur neue Bitterkeit aus der Schönheit ringsum saugt.

Das war heute bei Robert der Fall.

»Auch das alles ist nur Lüge,« murmelte er düster vor sich hin, indem seine Blicke die strahlenden Bergkuppen entlang schweiften. »Ja, nur eine Schminke ist es, welche die alte Kokette Natur sich auflegt. Der Tor, welcher von diesem Farbenspiel geblendet zu den Höhen emporkletterte, würde nur kalten Stein, wüstes Geröll, Eis und Schnee finden. Ist nicht das ganze Leben so? Sein Glanz, seine Verklärung wirkt nur aus der Ferne. Tritt man näher, löst sich all der Beleuchtungstrug in Gemeinheit auf, und hinter dem gleißenden Flitter lauert überall der Tod.«

Die Dämmerung kam. Allmählich verblaßten droben an den Firnen die Lichter, und ein blaßblauer Duft legte sich über Gebirg und See. Aber die Schönheit der Szene wechselte bloß, statt zu schwinden. Aus der tiefen Bläue des Firmaments traten klar und still die Sterne hervor, und hinter der gewaltigen Pyramide des Guggishorn stieg der Mond herauf und warf die milde Flut feines Lichtes in den See herein. Geisterhaft weiß ragten die Bergspitzen in den hellen Nachthimmel empor, und drüben rauschte der Wasserfall leiser, als trüge er Sorge, die heilige Ruhe nicht zu stören. Es war auch keine Störung, es war, als müßte es so sein, als gehörte es notwendig zur Harmonie des Ganzen, daß jetzt hinter der offenstehenden Türe des Turmzimmers zu leisen Harfenklängen die Stimme Theklas sich gesellte.

Robert horchte auf. Traf ihn doch diese Stimme, so oft sie klang, immer von neuem wieder mit wundersamer Magie. Sie ergoß sich jetzt in eine alte schone Volksmelodie, welche die Sängerin einer neueren Ballade angepaßt hatte:

Herr Walter war ein Ritter jung –
Er hatte lang gestritten,
Bis ihm ein scharfer Schwertesschwung
Ins freud'ge Herz geschnitten.

Herr Walter glitt in den blutigen Sand,
Sein Roß stob in die Winde;
Sie trugen ihn aus dem Sonnenbrand
Unter die breite Linde.

Sie rissen entzwei den Fahnensaum,
Zu stillen das Blut dem Degen;
Auf den Sterbenden vom Lindenbaum
Fiel reicher Blütenregen.

Das war des Königs Töchterlein,
Ihr Aug' in Tränen glühte;
Sie hielt ihm einen Becher Wein
An des Mundes welkende Blüte.

Das war des Königs Töchterlein,
Sie kniete zu ihm nieder,
Da drang ein schneller Rosenschein
Durch die sinkenden Augenlider,

Es ging ein Schauer durch sein Mark,
Ein Schauer jäher Wonne;
Er sah sie an, so voll und stark
Wie der sterbende' Aar die Sonne,

Die Binden riß er, die er trug:
»Nun rinne, mein Blut, o rinne!«
Er trank den Becher auf einen Zug: –
»Nun grüße dich Gott, Frau Minne!«

Robert atmete hoch auf, als das Lied zu Ende und das Nachspiel auf der Harfe mit einem fast jubelnden Aufklang jäh verstummte,

»Nun grüße dich Gott, Frau Minne!« sprach er träumerisch vor sich hin. »Oh, wer lieben könnte, so recht mit seines Herzens Vollgewalt! Wer lieben dürfte! Glücklicher Walter! Warum hat mich keine Lombardenkugel gefällt, damals beim Rückzug aus Mailand? Warum schlug mich bei Novara oder Custozza kein Sardensäbel zu Boden, auf Nimmeraufstehen? Freilich, kein liebend Königstöchterlein, keine Gestalt mit ihren Augen, ihren Haaren, ihrem entzückenden Mund hätte sich zu mir niedergebeugt, meinen letzten Odemzug zu empfangen, aber dennoch wohl mir, wäre es so gekommen. Ich hätte diesen Ort nicht wiedergesehen, diese Bäume, dieses Wasser, diese Berge, die mir jetzt ein Gefühl verursachen, als müßte ich mich vor ihnen schämen; ich wäre nicht hierher gekommen, um diese Schmach zu erfahren. Ich hätte es auch nicht empfunden, daß es ein Feuer gibt, welches einem die Seele verzehrt, ohne daß man zu entscheiden wagte, ob es dem Himmel, ob es der Hölle entstamme. Himmel oder Hölle? Als ob vor diesem allmächtigen Zauber, als ob vor dieser Wonne- und wehvollen Raserei noch derartige Unterschiede beständen! Als ob man sich nicht mit einem Schrei des Entzückens in diesen Wirbel weisen möchte, gleichviel, ob er einen zu ewiger, wütender Pein hinunterraffte.«

Der laue Nachthauch schlug schmeichelnd an seine Wangen. Sein Herz löste sich und wurde weich. Bilder des Glücks zogen an seinem inneren Auge vorüber, wie schimmernde Visionen eines verlorenen oder verbotenen Paradieses, und als der strahlenwerfende Mittelpunkt derselben kehrte immer wieder die eine göttliche Gestalt, welche all sein Sehnen und Denken an sich zog wie der Magnet das Eisen.

Er faßte mit der Hand an die Brust, als wollte er die Finger in das Fleisch eingraben, stieß halb zornig die Worte aus: »Nein, nicht länger trag' ich diese Marter so allein!« durchschritt rasch den Pavillon und setzte den Fuß auf den Steg.

Aber sogleich hielt er wieder inne, wie angewurzelt, und kehrte dann langsam an die Brustwehr des Pavillons zurück,

»Oh,« murmelte er, »ich bin recht elend, ganz schlecht geworden, denn Feigheit bewältigt und lähmt mich.«

Er stützte die Arme auf die Balustrade und sah starren Auges in das Wasser hinab, welches leise an dem Fuß der Klippe Plätscherte, wie im Traume schwatzend.

»Da unten ist's kühl und still,« dachte er, und eine dämonische Regung durchfuhr ihn.

Plötzlich fühlte er einen süßen Odem seine linke Wange streifen.

Er schrak empor.

»Robert,« sagte die seelenvolle Stimme Theklas neben ihm, »Robert, Sie leiden!«

Halb angewandt entgegnete er leise:

»Ich wollte, ich läge tief da unten.«

»Und was würde dann aus mir?«

Das Wort war heraus, es ließ sich nicht wieder zurücknehmen. Und in diesem Fragwort, so ganz aufrichtig aus Herzensgrund gesprochen, lag ein Schicksal.

Dieses einfache Wort zerbrach eine Kette, fest wie Diamant, alt und heilig wie die Gesellschaft selbst.

Den beiden war, als hörten sie die Ringe der Kette klirrend zu Boden fallen.

Rascher – das schöne Bild des irischen Dichters zu gebrauchen –

Rascher, als Kometen rollen,
Nie die Sonne küssen wollen –

übersprangen ihre Seelen die ungeheure Kluft, welche Sitte und Gesetz schwarz und drohend zwischen ihnen aufgetan.

Er sah sie an.

Im vollen Mondlicht, welches zu den aufgezogenen Rouleaus an der Ostseite des Pavillons hereinkam, stand sie vor ihm im ganzen Liebreiz ihrer Vollkommenheit, die edlen Züge blaß vor unsäglicher Spannung, der Busen steigend und fallend in bebender Erwartung, aber die großen und dunklen Augen strahlend von einer Glut, welche sie so wenig Verhalten mochten als der blühende Mund sein beseligendes Lächeln.

Seiner nicht mehr mächtig, streckte Robert die Arme gegen sie aus und sagte mit halberstickter Stimme:

»Thekla, verwünschen Sie mich, töten Sie mich, nur sagen Sie mir, daß Sie mich nicht hassen!«

»Hassen? Dich hassen, Robert?« versetzte sie, zu ihm aufblickend. »Dich hassen? Und wenn ich wollte, könnte ich es? Ich – liebe dich, Robert!«

Purpurglut überzog ihr Antlitz, als sie zitternd dieses Bekenntnis hervorhauchte. Dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals, weinte an seiner Brust und duldete und erwiderte seine Küsse.

Ein alter Reisender in den Tropengegenden von Amerika erzählt uns von einem Vulkan, in dessen Krater die zum Übelschwellen bereite Lava durch die Einwirkung eines plötzlichen und furchtbaren Regengusses wieder momentan zurückgestaut worden sei.

So fiel in die aufkochende Lava von Roberts Entzücken ein tödlich kalter Gedanke.

Er wand sich aus Theklas Armen, er stieß sie fast zurück und wandte sich mit einer Gebärde des Schauders von ihr. Sie erriet, was ihn so furchtbar angefaßt hatte, sie erriet es mit dem Instinkt der Liebe.

»Robert,« sagte sie sanft und fest, »ich bin nicht das Weib deines Vaters, schon lange nicht mehr.«

»Oh, Dank für dieses Wort, Thekla!« erwiderte er, in seines Herzens Jubel mit dieser Sophistik der Liebe jeden Zweifel betäubend. »Meines Vaters Weib? Nein, du bist es nicht, warst es nie, konntest es nicht sein! – Meines Vaters? Seit gestern hab' ich keinen mehr. Er hat sich von mir geschieden durch eine namenlose Tat, durch ein Ungeheures, welches alle Bande des Blutes und der Sitte bricht. Oh, jetzt sei sie gesegnet, die entsetzliche Stunde, die ich gestern in der geschändeten Gruft meiner Ahnen verlebte. Sie machte mich frei und ledig aller Pflichten. Wir sind frei, Thekla, wir dürfen glücklich sein! Oh, noch einmal, noch einmal laß mich das süßeste Wort hören, welches mein Ohr jemals getrunken. Noch einmal sage mir, daß das alles kein Traum, daß ich dich halte an meiner Brust, um nie, nie wieder dich zu lassen!«

»Ja,« flüsterte sie in seinen Armen, »ja, Robert, ich liebe dich. Ich liebte dich von jenem Augenblicke an, wo du zuerst vor mich tratest. Damals schlug die himmlische Flamme, bis dahin mir unbekannt und ungeahnt, zündend durch alle meine Pulse. Und, oh, was hab' ich diese Zeit her gelitten um dich! Doch das alles liegt nun weit hinter mir. Jetzt erst lebe ich, jetzt fühle ich frohlockend die Wollust des Daseins. Oh,« fuhr sie fort, hingerissen von der Ekstase der Leidenschaft, »ich mühete meine Lippen mit alltäglichem Gebrauche ab, jetzt will ich sie mit den deinigen verschmelzen – auf ewig. Ich will nur sprechen mit dem Klopfen des Herzens, mit Seufzern und Küssen, und so spreche ich Stunden, Tage, Jahre bis ans Ende der Zeiten. Laß die Sterne dort oben vom Himmel fallen, laß Sonne und Mond sich verfinstern, laß die Berge ins Meer stürzen und den Boden unter uns in Trümmer gehen, ich habe und halte dich und mich in dir, und so will ich leben fortan und jauchzen, in Wonnetrunkenheit verloren, denn ich liebe und bin geliebt!«


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