Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14. Eine Dorfgeschichte beim Sonnenschein.

Nach einer Pause, welche Twerenbold dazu benutzte, seines Kautabaks sich zu entledigen und dafür eine Zigarre anzubrennen, fuhr er zu erzählen fort:

»Habe die Notion, kann mit Fug und Recht sagen, daß ich nie einen Schlag empfangen, ohne denselben redlich und mit Zinsen zurückzugeben. Ist das, rechne ich, ein solider Grundsatz, verschafft einem Respekt bei den Leuten. War also fest entschlossen, meine Kreuzigung nicht mit Lammesgeduld hinzunehmen, und war der Mann dazu, solchen Entschluß ins Werk zu setzen. Fehlte auch nicht an Stachelung dazu, denn war am andern Tag die verdammte Geschichte nicht nur im ganzen Dorfe, sondern auch überall in der Umgegend bekannt. War ein Hauptspaß für die Canaille, den Doktor so abgeschmiert zu wissen. Warum den Leuten das so besonderen Spaß machte, weiß ich eigentlich nicht zu sagen, denn ich hatte mich bis dahin stets pflichttreu, hilfebereit und gegen die Armen nobel benommen. War, rechne ich, der schadenfrohe Kitzel, welchen der Bauer empfindet, wenn einem ›Herren‹ was Schlimmes passiert. Verdroß mich aber das am meisten, daß ich erfuhr, auch das Lizele habe ganze Schollen gelacht, als sie hörte, welches Ende meine Heimführung genommen. Der Grasaff'! War damit meine rabiate Absicht, der Forstlore zum Possen des Forellenwirts Töchterlein zu freien, fertig und zu Ende. War aber dies Abspringen, kalkulier ich, 'ne rechte Eselei von mir. Hätte das Lizele, wenn es auch über meine Kreuzigung in jener Nacht lachen mußte, zweifelsohne eine brave Frau abgegeben. Hatte mich aufrichtig lieb. Hat es mir erst gestern drüben in Guggisried gesagt. Erkannte mich auf der Stelle wieder. Ist aber jetzt 'ne alte verhutzelte Jungfer geworden, hat keinen Mann nach ihrem Geschmacke finden können. Hätten sicher ein recht gemächliches, alltägliches Philisterleben mitsammen geführt. Ist aber, kalkulier ich, so 'ne philisterhafte Existenz in der Regel die glücklichste; gehört nur ein Kleines dazu, die Philisternatur. Die gerade freilich fehlte mir, rechne ich. Wohl, ließ mich also auslachen, lachte selber mit und legte mich unter der Hand auf Kundschaft. Hatte auch bald ergattert, wer meine Kreuziger gewesen. Waren der infame Jägerbursch und seine Gesellen nur die Werkzeuge, und ging die Teufelei von dem Hund von Veit aus, der wiederum von dem Grafen Nepomuk die Anregung dazu empfangen hatte. Wußte der Graf, wie hochmütig die Lore sei, wollte mich in ihren Augen lächerlich machen, und gelang ihm das auch vollständig. Hatte seine Absicht dabei, der Graf, wie sich bald zeigen wird. War nun aber auch der Kopf des miserablen Komplotts zunächst zu hoch für meine Hand, so mocht' ich doch den Armen beikommen und hatten dieselben zu fühlen, daß es nicht klug gehandelt war, einen Mann, wie der Twerenbold war, zu kreuzigen, und zwar noch dazu bei so exquisit hellem Mondschein. Ging auch hier nach dem Vers des alten Lateiners: ›Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi‹ – zu deutsch: Die kleinen Schelme hängt man, die großen läßt man laufen. Doch genug von diesem Kapitel.

Aber, Herr, jene verdammte Kirmesnacht hat einen widerwärtigen Einfluß auf mein Leben geübt. Die Lore war für mich verloren, das war klar. Ging mir das näher zum Herzen, als ich mir selber gestehen mochte. War damit, parabolisch zu sprechen, der Anker zum Teufel gegangen, welcher mein Lebensschiff gehalten. Begann auch dasselbe sofort, wild auf den Wogen zu schwanken. Griff zum Wein, um in den Fluten desselben meinen Liebesgram zu ersäufen. Ist das 'ne desperate Kur, bei Jove! Begann mein Lebenswandel erst unsolid, dann dissolut zu werden, und war das Schlimmste dabei, daß mir nach und nach auch die Freude an meiner Wissenschaft abhanden kam. Gewährten mir selbst meine botanischen Forschungen und chemischen Versuche, in welchen beiden ich es zu Tüchtigem gebracht hatte, keine rechte Befriedigung mehr. Trieb meinen Beruf bald nur noch mechanisch, wie ein Handwerk, das mich nähren mußte. Verlor auch das Handwerk, weil nachlässig betrieben, allmählich seinen goldenen Boden.

Die Lore also war für mich verloren, und damit ging mein Idealismus flöten. Ist, rechne ich, ein wunderlich Ding um die Ideale. Muß aber doch, kalkulier ich, jeder Mensch so 'ne Art von Ideal haben, und wär's auch nur ein identisch angestrichenes Steckenpferd, wenn die Bestie in ihm nicht über ihn Herr werden soll. Wohl dem zwar, welcher nie einen Blick in die idealen Regionen getan hat! Er lebt seine bestialische Existenz so hin und kann dabei in seiner Art ein ganz guter Untertan und braver Familienvater sein. Bedenklich jedoch ist's, das gelobte Land vom Sinai der Bildung herab geschaut zu haben und dann wieder in die Wüste der Prosa des Lebens zurückgeschleudert zu werden.

Wohl, so ungefähr erging es mir. Ging aber auch die Forstlore ihres Idealismus verlustig, verlor sich selbst. Sollte es bald erfahren, daß mir nicht allein jene Kirmesnacht verhängnisvoll geworden. Sah, rechne ich, derselbe Mond, der meine lächerliche Situation beschienen, in dem Zimmer der Lore im Schlosse noch etwas Schlimmeres. War eine heiße Nacht, und war die Lore bei all ihrem Stolz ein heißes Mädchen. Trat da eines schönen Wintermorgens der Lump, der Veit, zu mir in die Stube, und dachte ich gleich, daß sein Kommen was Besonderes zu bedeuten haben müßte, denn ich hatte dem Kerl seine Kirmesrechnung in sehr fühlbarer Münze bezahlt, und hatte er sich seither wohl gehütet, mir wieder nahe zu kommen. Der Schuft machte mir ein langes Brimborium vor, dessen Resultat war, daß er von mir den Freundschaftsdienst forderte – den Freundschaftsdienst? der Hund! – ich sollte was Geschehenes ungeschehen machen. Es belustigte mich halb, den Schubiak mit Katzentritten um den Topf herumschleichen zu sehen, bis er endlich den Deckel abhob und mir die Suppe zeigte, welche er eingebrockt haben wollte.

Meine erste Regung, als ich die saubere Bescherung sah, war die einer Wut, welche mich antrieb, den Kerl bei seinen Spindelbeinen zu fassen und an die Mauer zu schmettern. Er sah mir diese Absicht an den Augen an und retirierte bis zur Türe, um sich nötigenfalls schleunigst davonmachen zu können. Besann mich indessen, sagte ihm, daß er nichts zu befürchten hätte, und ließ mir die Geschichte nochmals erzählen. Glaubte natürlich davon, was ich wollte, und sagte dann, vor allen Dingen müßte ich den wahren Sachverhalt kennen, und er sollte sich nicht unterstehen, mir noch ferner weismachen zu wollen, daß er in eigener Angelegenheit und nicht vielmehr als Unterhändler für einen andern gekommen. Wohl, war dieser Veit von jeher ein verschlagener, schlauer Hund, ein zehnfach destillierter Schurke, ein Hauptgauner, seines Herrn, des Grafen Nepomuk, Faktotum. Hat aber jeder Mensch seine Schwäche, diverse Schwächen sogar, und war, rechne ich, eine von Veits Schwächen die, daß er mich, seit ich von wegen der Kreuzigung Abrechnung mit ihm gehalten, mehr fürchtete als das Höllenfeuer. War daher der Lump, 'ne echte und gerechte Kammerdienernatur, nicht der Mann, mir standzuhalten, da ich ihn mit Blick und Miene und Wort wie mit Beißzangen faßte. ›Macht mir keine Flausen vor, Monsieur Veit,‹ sagt' ich zu ihm; ›Ihr wißt, ich lasse nicht das Michele mit mir spielen. Ihr kommt vom Grafen, Eurem Herrn?‹ – ›Ja,‹ sagt' er, nachdem er sich ein bißchen gewunden und gedreht. ›Und,‹ fuhr ich fort, ›Ihr habt ihm eingeblasen, was er durch Euch von mir verlangt?‹ Der Schuft redete weitschweifig von seiner Anhänglichkeit an seinen Herrn und daß es doch das beste wäre, jeder Möglichkeit eines Skandals vorzubeugen. – ›Schon gut,‹ sagt' ich, ›brauche Euer Palaver nicht. Weiß die Lore etwas von der Art und Weise, wie Ihr und Euer Herr jeder Möglichkeit eines Skandals vorbeugen wollt?‹ – ›Nein,‹ sagte er. – ›Gut,‹ sagt' ich, ›kommt übermorgen wieder; will bis dahin bedenken, was zu machen ist.‹

Anderen Tags sah ich die Herrschaft durch das Dorf talabwärts fahren und ging sogleich nach dem Schlosse, um die Lore allein zu treffen. ›Lore,‹ sagt' ich zu ihr, indem ich sie fest ansah, ›Ihr habt mich in der Kirmesnacht ausgelacht, jetzt könnte ich lachen, wenn es mir beliebte.‹ Sie ward blutrot, denn sie hatte mir sogleich abgemerkt, daß ich ihr Geheimnis kannte. ›Achaz,‹ sagte sie, nachdem sie sich merkwürdig schnell wieder gefaßt, ›ich habe vielleicht unrecht an Euch gehandelt, ich gesteh' es; aber Ihr werdet mich dennoch weder auslachen noch verraten.‹ – ›Nein,‹ sagt' ich, ›das werde ich nicht tun, Lore, obgleich Ihr mir übler mitgespielt habt, als Ihr Euch einfallen laßt. Aber wir haben als Kinder miteinander gespielt, und ich habe der vielen Stücke Brot nicht vergessen, womit Ihr damals den Heißhunger des armen Gänsebuben gestillt. Ich hätte diese Mildtätigkeit Euch gern vergolten durch eine ehrliche und große Liebe, aber es sollte nicht sein.‹ Zum Teufel, Herr, ich wurde ganz weich, als ich das zugrunde gerichtete, offenbar noch von den törichtsten Illusionen befangene Mädchen vor mir sah. ›Nein, es sollte nicht sein,‹ sagte sie, ›und es ist wohl besser so für uns beide.‹ – ›Wohl,‹ sagt' ich, ›das läßt sich nun schon nicht mehr ändern. Aber, Lore, hütet Euch! Der Hund von Veit geht damit um, an Euch geschehene Dinge ungeschehen zu machen. Er hat dazu meine ärztliche Beihilfe verlangt – mit Vorwissen seines Herrn – versteht Ihr mich?‹ – Sie nickte mit dem Kopf, wurde bleich und wankte auf ihren Füßen. Der Schlag war hart. Aber sie verwand ihn, denn sie war von je eine starke Natur. – ›Der Schurke hat gelogen, Achaz. Was er von dem Vorwissen seines Herrn sagte, war eine Lüge, verlaßt Euch darauf. Und im übrigen,‹ setzte sie hinzu, indem sie sich mit energischem Stolz aufrichtete, ›im übrigen besitze ich von dem Grafen ein schriftliches Eheversprechen.‹ Sprach's und wandte sich von mir mit einer Miene, welche deutlich sagte: ›Ich werde Frau Gräfin trotz alledem.‹

So wie ich den Veit kannte, mußte ich kalkulieren, daß er sich, falls ich mir nicht den Anschein gäbe, ihm und seinem Herrn zu Willen zu sein, zur Ausführung des niederträchtigen Vorhabens anderwärts her die Mittel verschaffen würde. Richtete mich also danach und gab ihm eine Phiole, welche nur mit etwas unschädlichem Färbestoff vermischtes Wasser enthielt, welches, sagt' ich, sicher, aber langsam wirke. Wenige Tage darauf verreiste Graf Nepomuk. Er sei, hieß es, zur Übernahme einer dringlichen diplomatischen Mission plötzlich in die Hauptstadt berufen worden. Der Veit blieb noch eine Woche im Schlosse zurück. Er hatte ebenfalls eine wichtige diplomatische Mission auszurichten, die nämlich, ein gewisses Papier, welches Namensunterschrift und Siegel seines Herrn trug, aus dem Schranke der Forstlore verschwinden zu machen. Nachdem er dieses Geschäft vollführt, reiste er bei Nacht und Nebel seinem Herrn nach. Ungefähr eine Woche später ging vom Schlosse in das Dorf ein dumpfes Gerücht aus, es hätte zwischen der Frau Generalin und der Lore eine heftige Szene stattgefunden, infolge welcher die Lore noch am gleichen Tag das Schloß verließ und zu einer alten Verwandten ihrer verstorbenen Mutter zog, die in einem einsam stehenden Häuschen am Ende des Dorfes hauste. Dort lebte sie so eingezogen, daß sie niemand zu sehen kriegte.

War der Frühling ins Land gezogen, als eines Frühmorgens die Base der Lore kam, mir zu sagen, die Lore hätte in verwichener Nacht ein Knäblein geboren, das aber wenige Minuten nach der Geburt gestorben. Die Wöchnerin sei so schwach und angegriffen, daß auch für sie das Schlimmste zu befürchten wäre. Ging also hin. Das Kind war tot. Wie es gestorben, mocht' ich nicht weiter untersuchen, als mich die arme Lore mit ihren glanzlosen, tief in den Höhlen liegenden Augen ansah. Sie war zu einem Schatten abgezehrt, ein Bild des Jammers. Aber kein Laut der Klage kam über ihre Lippen. ›Lore,‹ sagt' ich und faßte ihre Hand, ›der Achaz, Euer Spielkamerad, ist noch immer Euer Freund. Aber Ihr müßt leben, müßt Euch von mir herstellen lassen.‹ – ›Leben? Herstellen?‹ murmelte sie. ›Wer kann mich wiederherstellen?‹ Und sie versank in ein düsteres Brüten, wählend dessen ich der Base die näheren Umstände der Niederkunft abfragte und das anordnete, was zunächst vonnöten war. Ein schwacher Ruf der Kranken rief mich wieder zu ihrem Lager. Sie faßte mit krampfhaftem Zittern meine Hand, versuchte sich aufzurichten, und indem ein Blitz des alten Geistes in ihren Augen aufzuckte, flüsterte sie mit hohler Stimme: ›Gebt mir Arznei, Achaz. Ich will leben – leben, um mich zu rächen, und müßt' ich darum hundert Jahre leben. Ich will es, ich will es! – Aber,‹ setzte sie keuchend hinzu, ›schafft das – das Kind weg! Schafft es weg, oder ich werde wahnsinnig.‹

Das Kind wurde am folgenden Tage begraben. War ja meinem Attest zufolge alles in Ordnung hergegangen. Ich wandte alle meine Kunst auf die Lore und hatte rascheren Erfolg, als ich erwarten durfte. Sie genas, trotzdem daß sie wußte, eine furchtbare Stunde warte ihrer, sobald sie genesen wäre. Ihr Körper richtete sich wieder elastisch auf, auch ihr Geist, aber es war doch nicht mehr die alte Lore. Etwas Dämonisches hat von der schrecklichen Katastrophe an in ihr gewaltet, von dem Augenblick an, wo sie, wenige Stunden vor ihrer Niederkunft, erfahren, daß Graf Nepomuk drunten in Wien Hochzeit gemacht hatte. Verschlossen, apathisch, eiskalt stand sie von nun an in der Gesellschaft da oder ihr vielmehr gegenüber, der Menschheit Verächterin oder Feindin, je nach Umständen, aufgezehrt und doch zugleich erhalten von einem rastlosen, brennenden, unerbittlichen Gedanken, der in der Tiefe ihres Herzens schlief, ungesehen und ungeahnt von allen. Niemals vielleicht hat es ein Weib zu einer Selbstbeherrschung gebracht, wie die war, womit die Forstlore von ihrem Krankenbette erstand. Sie war wieder stattlich und schön geworden, nur in anderer Art als früher. Ein ungeheurer Schmerz, eine höllische Erinnerung hatte das Blut für immer von ihren Wangen verjagt: sie gemahnte mich bei ihrer hohen Gestalt, in ihrer Blässe und stoischen Ruhe an die Sibyllen und Alrunen der alten Zeit.

›Achaz,‹ sagte sie eines Sonnabends mit kalter Fassung zu mir, ›morgen werde ich Kirchenbuße tun.‹ Ich erschrak heftig, obgleich ich schon lange wußte, daß die Lore unter den obwaltenden Umstanden dem barbarischen Brauch, welcher damals bei uns noch in voller Kraft bestand, sich nicht würde entziehen können. Ich wollte dennoch alles aufbieten, den Schimpf von ihrem Haupte zu entfernen, wollte sofort zum Pfarrer, aber sie unterbrach mich und sagte ruhig: ›Gebt Euch keine vergebliche Mühe. Ich will und muß an der Kirchentüre stehen. Der Pfarrer ist ein humaner Mann und hat, wie ich weiß, den Versuch gemacht, diese Gelegenheit zur Abschaffung der alten Barbarei zu benutzen. Es ist ihm nicht gelungen. Die frommen Leute im Dorfe schrien Zeter über ihn. Sie wollen ihr Spektakel haben, um so eifriger, da es mir, der Forstlore, gilt, die, wißt Ihr, das Sprichwort wahr gemacht: Hochmut kommt vor dem Falle. Mir geschieht, wie mir gebührt. Warum war ich so aberwitzig einfältig? Ich will den Schimpf über mich ergehen lassen, und Ihr sollt mit dabei sein, Achaz. Ihr habt dann Genugtuung für mein albernes Hohnlachen in jener dreimal verfluchten Kirmesnacht, und ich – ich bin mit den Menschen fertig und quitt.‹

Ich verließ am folgenden Morgen mit Tagesgrauen das Dorf, denn ich wollte die Barbarei nicht mit ansehen. Aber mit seltsamer, magischer Gewalt zogen mich die Glockenklänge zurück, welche die Gemeinde zur Kirche riefen. Es war nicht Neugierde, was mich zu dem Spektakel zog, noch viel weniger Rachegefühl, es war aber auch nicht Mitleid und Freundschaft allein – Herr, die Gefühle mischen sich in der Menschenbrust so wunderlich, daß ein Psycholog den Verstand darüber verlieren könnte.

Da stand nun die Lore an der Kirchtüre, auf dem Kopfe den aus Stroh geflochtenen Kranz, welchen sie noch jetzt bewahrt, in der Hand die gelbe Bußkerze, den schadenfrohen Blicken, dem schlechtverhehlten Gegrinse, den geflüsterten Schmachreden der blödsinnigen Canaille bloßgestellt, und wie damals auf mich der Mond, so warf jetzt auf sie die Sonne ein breit unverschämtes Licht, als wollte auch sie von dem grausamen Spaß ihren Anteil haben. O, ich hätte mögen die Sonne anspeien und wünschte gleich jenem römischen Imperator, all das gaffende, grinsende, zischelnde Gesindel mochte nur einen Hals haben, damit ich ihm mit würgender Hand den Kehlkopf eindrücken könnte. Die Lore aber verlor keinen Moment ihre Fassung. Sie stand regungslos, der antiken Bildsäule des Schweigens gleich, und ihr starres, trockenes Auge schweifte mit dem Ausdruck unendlicher Verachtung über die Menge. Ich weiß, Herr, diese Menge war gewissermaßen in ihrem Rechte, denn sie wußte von ihren Ureltern her nichts anderes, als daß ein gefallenes Mädchen mit Strohkranz und Bußkerze an der Kirchtüre stehen müßte, der brutalen Schadenfreude zum Opfer. Aber dennoch habe ich in jener Stunde, ich, ein Kind des Volkes, das Volk verachten und hassen gelernt, denn ich sah, daß es in seiner bäuerischen Stumpfheit auch zugleich raffiniert erbarmungslos war.

Nachmals erfuhr ich, daß die Frau Generalin, Ihre Tante, unter der Hand sich bemüht hatte, die Lore vor dem Prangerstehen zu bewahren. Ihre Bemühung jedoch war, wie die Friedings, an der Hartnäckigkeit der bäuerlichen Kirchenvorsteher gescheitert. Ihre Tante, Herr Graf, war eine milde, sanfte Frau voll Herzensgüte. Sie hatte der Lore längst verziehen und lag ihrem Gemahle kurz nach der Kirchenbuße der Unglücklichen an, dieselbe wieder ins Schloß aufzunehmen. Sie erklärte geradezu, sie hätte sich so an die Lore gewöhnt, daß sie nicht ohne dieselbe leben könnte. Der General, welcher seiner Frau sehr zugetan war, gab ihrem Drängen nach, und zur Verwunderung aller nahm die Forstlore ihren alten Platz im Schlosse wieder ein, als wäre nichts geschehen. Nur die städtische Modetracht ließ sie draußen im Häuschen ihrer Base und ging fortan nur noch in dem Anzug, wie ihn die Mädchen unserer Gebirgstäler tragen. In den eleganten Damenkleidern war sie büßend an der Kirchtür gestanden. Ungefähr ein Jahr später kam auch der Graf Nepomuk wieder für kurze Zeit nach Wippoltstein. Er hatte seine junge Gemahlin verloren, nachdem sie Ihnen, Herr Graf, das Leben gegeben. Er kam dem Wunsche seiner Schwägerin nach, indem er Sie ihr zur Pflege übergab. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, das Benehmen der Lore dem Grafen gegenüber zu beobachten. Es war kalt, ruhig, gemessen. Wahrscheinlich ist zwischen ihnen von der Vergangenheit nie die Rede gewesen. Später wurde die Lore der Generalin noch unentbehrlicher, denn diese sah endlich den sehnsüchtigsten Wunsch ihres Lebens in Erfüllung gehen. Nach langer Kinderlosigkeit gebar sie Ihren Vetter Rudolf. Der Majoratsherr von Wippoltstein hatte jetzt einen Stammhalter, ein für die ganze Gegend erfreuliches Ereignis, denn Ihr Oheim und Ihre Tante waren sehr beliebt. Die letztere überlebte indessen diese Freude nicht lange, und der General konnte ihren Verlust nicht verschmerzen. Er starb, wie Sie wissen, Ihrer Tante bald nach, nachdem er seinen Bruder zum Vormund seines Sohnes bestellt. Die Lore blieb im Schlosse, auch nachdem Graf Nepomuk die Vormundschaft angetreten hatte. Sie wurde nun schon als ein unentbehrliches Inventarstück angesehen, denn sie war die Wärterin der beiden jungen Vettern. Ob es zwischen ihr und dem Grafen Nepomuk jemals zu einer Auseinandersetzung gekommen, weiß ich nicht, aber der Graf hatte offenbar einen gehörigen Respekt vor ihr. Sie lebte still und einsam ihrer Pflicht, welche sie mit kalter Gewissenhaftigkeit erfüllte. Lebhaftes Interesse zeigte sie nur noch für zwei Dinge. Erstlich beschäftigte sie sich gern mit den alten Sagen und Geschichten der Umgegend, für welche ihr von Jugend auf eine große Vorliebe eigen gewesen. Goethe, mein' ich, sagt irgendwo, niemand verwinde jemals die ersten Eindrücke seiner Kindheit, und das bewahrheitete sich auch an der Lore. Die Waldromantik ihres Kinderlebens in dem einsamen Försterhaus ist ihr bis auf den heutigen Tag nachgegangen. Zum Zweiten machte sie sich eifrigst mit naturwissenschaftlichen Studien zu schaffen, und ihre außerordentliche Fassungskraft und Energie bemächtigte sich bald nicht gemeiner Kenntnisse in Physik, Botanik, Chemie und sogar in der eigentlichen Medizin. Ich mußte ihr einen physikalischen und chemischen Apparat anschaffen, und sie lernte damit hantieren und laborieren, daß es eine Freude war. So vergingen einige Jahre. Und jetzt, Herr Graf, komme ich zu unserer eigentlichen Geschichte. Wollen Sie dieselbe hören?«

Hier brach Twerenbold ab und sah fragend zu Robert herüber, welcher, eine Beute furchtbarer Gemütsbewegungen, der Erzählung anfangs nur eine mechanische Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Allmählich war ihm aber dieselbe doch von höherem Interesse geworden, denn es war, abgesehen von den engen Beziehungen zu seiner Familie, vieles darin, was eine reinmenschliche Teilnahme erregen konnte. War doch der Erzähler selbst von seinen Erinnerungen so ergriffen worden, daß er nach und nach vergessen hatte, seine barocken Amerikanismen einzuflechten.

»Ich habe Ihnen schon gesagt,« entgegnete Robert auf die an ihn gerichtete Frage, »daß ich alles hören will und hören muß.«

»Wohl denn,« sagte der Abenteurer, welcher jetzt seine gewohnte sorglose und gleichgültige Miene wieder angenommen hatte. »Kalkuliere, wir haben des Trauerspiels Exposition und Verwickelung hinter uns und kommen jetzt zur Katastrophe. Sie bemerken, Herr Graf, ich bin, obgleich ein Bürger Amerikas, meiner Deutschheit nicht verlustig worden, sofern es mir noch immer Spaß macht, hier und da einen Brocken aus meinem Schulsack hervorzulangen. Freilich ist, rechne ich, meine Geschichte kein regelrechtes Trauerspiel, tragische Momente jedoch wird man ihr kaum absprechen können. Überhaupt, wenn die Poeten alles wüßten, was oft hinter Wänden vorgeht, welche das ehrbarste und nobelste Aussehen von der Welt haben, es gäbe mehr als einen Shakespeare. Aber der nur hatte ein Auge, dazu organisiert, alle die gleißenden und flitternden Hüllen zu durchdringen, welche der wüste Knäuel von Bosheit und Elend, genannt Menschenleben, um sich geschlagen. Ja, der Shakespeare, der hat, kalkulier' ich, die Menschen gezeichnet, wie sie sind, schwankend zwischen Torheit und Verworfenheit, zu Boden gedrückt von ›ihres Nichts durchbohrendem Gefühle‹ und doch vom Dämon der Eitelkeit unablässig gestachelt, über das Bewußtsein ihrer Erbärmlichkeit sich hinwegzulügen. In früherer Zeit, wann ich ihn las, beschlich mich immer eine ungeheure Traurigkeit. Erst später begriff ich den dämonischen Vernichtungsjubel, welcher seine Werke durchdröhnt wie Posaunenschall des Weltgerichts. Doch zum Teufel! wo gerate ich hin? Zum Text zurück! – Unter allen den Ereignissen und Zuständen, die ich zuletzt berührt habe, war es mit mir immer mehr bergab gegangen. Glich, rechne ich, meine Existenz 'nem Wagen, dem an einem steilen Abhange die Sperrkette bricht, und der dann mit Rapidität in die Tiefe schießt. Hatte das verloren, was man den moralischen Halt zu nennen pflegt. Gesellte der Weinflasche den Würfelbecher und das Kartenbuch, geriet in Schulden bis über die Ohren, ward binnen kurzem ein notorischer Lump. Hatte kein Interesse mehr, als im Wirtshaus zu sitzen und mich zu betäuben, wär's auch mit Hilfe der schlechtesten Gesellschaft. Wurde ein abgerissener, schäbiger Kerl, außen und innen. Sagte mal die Lore zu mir: ›Achaz, Ihr dauert mich.‹ – ›Wirklich?‹ sagt' ich. ›Hätte das Bedauern früher kommen müssen, Lore; ist jetzt zu spät dazu, viel zu spät.‹

Ist man aber erst so verlottert, dann verwischen sich einem, ohne daß man es merkt, die Unterschiede zwischen den Begriffen des Guten und Bösen, wie die gesellschaftliche Konvenienz dieselben festgestellt hat. Heute noch ist man nur erst ein Bummler, morgen schon ein Verbrecher. Geht das verdammt glatt und schnell, bei Jove! Hatte mich so weit erniedrigt, daß ich sogar mit dem Schubiak, dem Veit, der jetzt im Schlosse die erste Geige spielte, trank und würfelte und kartelte, und hatte mir der Kerl nach und nach eine hübsche Summe abgegaunert, die ich ihm schuldig bleiben mußte. Hatte er einen Schuldschein von mir in Händen, hatten überhaupt eine Menge von Leuten derartige von mir ausgestellte Papiere in Händen. Ist das, kalkulier' ich, 'ne unangenehme Situation, besonders dann, wenn die Leute auf Bezahlung dringen und einem die privaten und gerichtlichen Mahnbriefe zufliegen wie Schneeflocken im Dezember. War die Sache endlich so weit gekommen, daß ich mit Hamlet sagte: ›Sein oder Nichtsein?‹ Das heißt, soll ich durchbrennen oder mir eine Kugel vor den Kopf schießen? Zu diesem oder jenem mußt' ich mich resolvieren, gab kein Drittes.

Da machte sich eines Abends, als ich mit wüstem Kopf aus dem Steinbock heimging, der Veit an mich, vorgebend, er wollte mich nach Hause führen. Dort, nachdem er sehr unverblümt auf sein Guthaben angespielt hatte, sagte er plötzlich: ›Hört, Twerenbold, Ihr steckt arg in der Patsche.‹ – ›Was geht das Euch an?‹ sagt' ich. ›Ihr seid doch nicht der Mann dazu, mich herauszuziehen.‹ – ›Hm,‹ meinte er, ›könnte unter Umständen doch der Mann dazu sein, und bin ich's nicht, so wüßt' ich einen, der es könnte und täte, unter Umständen, versteht sich.‹ – ›Wer sollte das sein?‹ – ›Der Herr Graf.‹ – ›Der? Bah, waren einander nie grün, Euer Herr Graf und ich.‹ – ›Weiß es, Twerenbold. Wissen sich aber gescheite Leute zu finden, wenn sie einander brauchen.‹ – ›So? Ist wieder so 'ne Geschichte mit irgend 'ner Lore um den Weg?‹ – ›Geht mir mit Euren Loren und Doren! Wäre aber doch klüger gewesen. Ihr hattet dem Herrn Grafen damals den kleinen Gefallen getan, statt ihn und mich mit Eurem gottverdammten gefärbten Wasser zu foppen. Wäre auch für die Lore besser gewesen, hätte sie dann nicht wie 'ne Vogelscheuche an der Kirchtüre stehen und sich von den Kaffern anglotzen lassen müssen.‹ – ›Schweigt davon, Veit.‹ – ›Wohl, das ist 'ne alte vergessene Geschichte. Wollt Ihr mir Euer Wort geben, Twerenbold, unter allen Umständen zu verschweigen, was ich Euch mitteilen will?‹ – ›Und wenn ich es tue?‹ – ›Wenn Ihr es tut, so werde ich, Euch zu zeigen, daß mit uns, das heißt mit meinem Herrn, gute Geschäfte zu machen sind, zum Anfang und ohne daß Ihr Euch zu etwas Tatsächlichem verbindlich zu machen braucht, an diesem Licht hier Euren Schuldschein verbrennen, welchen ich morgen nach der Stadt tragen wollte, um ihn dem Bezirksamt zur Eintreibung zu übergeben.‹ – ›Ihr seid sehr generös, Veit. Hatte das nicht hinter Euch gesucht. Sehe nicht ein, warum ich Euch das verlangte Wort verweigern sollte. Habt es hiermit.‹ – ›Gut, und seht, das ist Euer Schuldschein, guckt ihn nur genau an – so, da brennt der Wisch.‹ – ›Hört, Freund Veit, ich glaube, daß ich etwas, vieles sogar für einen tun könnte, der alle meine Schuldscheine in Asche verwandelte oder einlöste.‹ – Wirklich? Nun, dazu könnte Rat werden. Ja, geradeheraus, ich weiß des bestimmtesten, daß der Herr Graf nicht abgeneigt wäre, nicht nur alle Eure Schulden zu bezahlen, sondern Euch auch noch ein hübsches Kapital, 'ne runde nette Summe in vollwichtigen Goldstücken in die Hand zu legen.‹ – ›Ei, der Tausend, das wäre!‹ – ›Unter Bedingungen natürlich, denn umsonst ist der Tod.‹ – ›Auch der nicht einmal. Pfarrer, Mesner und Totengräber wollen bezahlt sein.‹ – ›Jawohl, von Ärzten und Apothekern nicht zu reden.‹ – ›Gut, gut, eine Hand wäscht die andere; das ist der Brauch, seit es Menschen gibt.‹ – ›Richtig, und wohl dem, der etwas gelernt hat, was sich verwerten läßt.‹ – ›Allerdings, aber ich denke, wir haben uns lange genug in Gemeinplätzen herumgetrieben, Meister Veit. Ihr meint, ich hätte etwas gelernt, was sich verwerten ließe; wollt also einen Handel mit mir machen, Ihr, als Mandatar Eures Grafen?‹ – ›Ihr habt's erraten.‹ – ›Es ist etwas Ärztliches, um was es sich handelt?› – ›Ja.‹ – ›Wohl, ich gesteh' Euch, ich bin dieses Hundelebens hier müde.‹ – ›Das ist begreiflich und trifft auch merkwürdig mit den Wünschen meines Herrn zusammen.‹ – ›Wieso?‹ – ›Wenn Ihr das Ärztliche, um welches es sich handelt, getan und Euer prächtiges Honorar empfangen hättet, solltet Ihr auf Nimmerwiederkehr nach Amerika hinüber.‹ – ›Nach Amerika? Und wenn mir das nicht konveniert?‹ – ›Kann aus dem ganzen Handel nichts werden. Wenn Ihr Eure Arbeit, die, stell' ich mir vor, in einer halben Stunde abgemacht sein wird, getan, übergebt Ihr dem Grafen ein vollständiges Verzeichnis Eurer Schulden. Er wird sie am nämlichen Tage noch durch meine Vermittelung bezahlen. Außerdem erhaltet Ihr tausend Gulden Reisegeld und die Summe von neunzehntausend Gulden in Wechseln auf Neuyork. Alles soll so arrangiert werden, daß Ihr binnen heut' und acht Tagen abreisen könnt.‹ – ›Man will also das Werkzeug los sein, nachdem es seinen Dienst getan? Meine Schulden mögen so an viertausend Gulden betragen, also will man das Werkzeug ganz anständig bezahlen. Das ist richtig. Könnte mich auch, denk' ich, zu der in Frage stehenden Luftänderung entschließen: muß ein merkwürdiges Land sein, das Amerika, nach allem, was man davon hört. Aber ich weiß, daß weder Euer Graf, Meister Veit, noch Ihr die Leute, welche um einer Bagatellsache willen mit so bedeutendem Honorar herausrücken.‹ – ›Mit gescheiten Leuten ist gut unterhandeln: Ihr habt den richtigen Merker. Es handelt sich in der Tat um keine Bagatelle.‹ – ›Nicht um eine Dirnenaffäre?‹ – ›Bewahre, um weit Wichtigeres.‹ – ›Ich mag mich weiter mit Raten nicht abquälen. Sprecht!‹ – ›Ihr habt mir auf alle Fälle Euer Schweigen verbürgt, Twerenbold?‹ – ›Ja doch.‹ – ›Die Grafschaft Wippoltstein mit allem, was daranhängt, ist 'ne hübsche Sache, nicht wahr?‹ – ›Gewiß.‹ – ›Wer im Besitze dieser reichen, herrlichen Besitzungen ist, wünscht sie seinen rechtmäßigen Sprößlingen zu hinterlassen. Ist das nicht ganz natürlich?‹ – ›Allerdings.‹ – ›Der Graf, mein Herr, ist dermalen faktisch im Besitz.‹ – › Beati possidentes, das heißt, wer im Rohre sitzt, schneidet sich Pfeifen.‹ – ›Und der Graf hat einen Sohn, der ein fixer Junge zu werden verspricht. Vielleicht schreitet er auch zu einer zweiten Ehe.‹ – ›Und kriegt noch mehr Kinder, ganz in der Ordnung.‹ – ›Begreift Ihr?‹ – ›Noch nicht ganz.‹ – ›Der Graf hat Gründe, zu glauben, daß sein Mündel nicht der Sohn seines Bruders sei.‹ – ›Hört, Meister Veit, bemüht Euch nicht, Lügen zu drehen. Es lebt kein Mensch, der niederträchtig genug wäre, auf die verstorbene Generalin einen solchen Makel zu werfen, sie in ihrem Grabe im Ernste zu verleumden. Selbst Ihr, ein so heilloser Schurke Ihr seid, habt dazu nicht die gehörige Frechheit.‹ – ›Spart Euren tugendhaften Zorn für eine bessere Gelegenheit, Herr Twerenbold. Auf dem Geschäftswege verkehrt sich's am besten mit kaltem Blute.‹ – ›Wohl, so bleibt auf dem Geschäftsweg und versteigt Euch nicht zu Fiktionen, die dümmer sind als ein Pfund Kot.‹ – ›Nur kalt, nur kalt! Jedes Ding will einen Anstrich haben.‹ – ›Wohl, es ist die Art des Menschen, seine schlimmen Instinkte vor sich selber zu rechtfertigen, das heißt, sich was vorzulügen. Einem Mann von festen Nerven gegenüber bedarf es aber keiner solchen Ränke und Schwänke. Es handelt sich darum, den rechtmäßigen Erben und Eigentümer von Wippoltstein zu beseitigen, nicht?‹ – ›Ihr habt es gesagt.‹ – ›Und ich soll ihn beseitigen, das heißt, unverblümt gesprochen, morden?‹ – ›Morden? Welch ein häßliches Wort! Wer spricht von einem Mord? Wer wird daran denken, den armen Jungen umzubringen? Vielleicht könnte man alles der Natur überlassen, denn das Jüngelchen ist von schwacher Konstitution, hektisch, wie es scheint. Aber, wißt Ihr, vornehme Leute sind ungeduldig.‹ – ›Das werde auch ich allmählich, wenn Ihr nicht ohne Umstände sagt, inwiefern der Graf meine Hilfe in Anspruch nehmen wolle.‹ – ›Ihr seid ein geschickter Operateur, Twerenbold?‹ – ›Nun ja, meine Hand ist noch immer fest und mein Blick sicher.‹ – ›Es handelt sich um eine Operation.‹ – ›Um eine Operation?‹ – ›Ja. Der Graf wünscht seines Mündels Erbe zu werden oder wenigstens seinen eigenen Kindern das prächtige Erbe seines Hauses zuzuwenden. Ein verzeihlicher Wunsch, nicht wahr?‹ – ›Wenigstens ein begreiflicher. Wenn man den Bock zum Gärtner macht, führt er seine Geißen in den Garten zur Weide.‹ – ›Ein unschönes Bild, Twerenbold; ich hätte Euch mehr Geschmack zugetraut. Doch zur Sache. Zwischen Wunsch und Erfüllung steht das Jüngelchen Rudolf. Es soll ihm keineswegs ans Leben gehen, Gott behüte! Der Graf will bloß die Garantie haben, daß sein Mündel kinderlos sterbe, ob nun seine Stunde früher oder später komme.‹

Ich mußte nach dem Vorhergegangenen auf etwas Furchtbares vorbereitet sein, aber dennoch überrieselte mich ein kalter Schauer bei den letzten Worten des fischblütigen Schuftes.

›Wie,‹ rief ich aus, ›sollte ich Euch recht verstehen?‹

Er flüsterte mir fünf Worte ins Ohr.

Ich fuhr zurück.

›Veit,‹ sagte ich, ›dieser infame Gedanke ist in Eurem Hirn entstanden.‹

›Nun ja,‹ versicherte er mit seinem abscheulichen Lächeln, ›nun ja, man hat einige Erfindungsgabe. Die vornehmen Leute, so gescheit sie sind, wenn es sich um ihren Vorteil handelt, wissen doch nicht alles, und da muß unsereiner mit seinem Mutterwitz ihnen zu Hilfe kommen,‹

›Aber das ist ja eine unerhörte, eine höllische Schurkerei!‹

›Bst, wer wird so garstiger Ausdrücke sich bedienen! Nennt es Politik oder Politesse. Das klingt hübscher.‹

›Die Sache bleibt aber dieselbe.‹

›Meinetwegen. Aber als erfahrener Mann wißt Ihr, daß jede Sache zwei Seiten hat, eine moralische und eine ökonomische. Gescheite Leute halten sich an diese, während einfältige an jener herumklauben und darüber die beste Zeit und die besten Gelegenheiten verlieren. Wer vorwärts kommen will in der Welt, muß Fortuna, wenn sie an ihm vorüberfliegt, resolut beim Schopf packen. Sie ist keine Freundin von Skrupeln, soweit ich sie kenne. Was meint Ihr?‹ »Daß Ihr einen Ehrenplatz auf den Galeeren verdient.«

»Pfui, wer wird so grob sein, und noch dazu gegen einen Mann, der sich mittels des kleinen Feuerwerks von vorhin als Euer entschiedener Freund erwiesen hat? Für einen, der Ihr seid, geziemt es sich, daß er sich auf den tatsächlichen Standpunkt stelle.«

»Das tu' ich; es ist eine brutale Tatsache, daß Ihr ein zehnfach destillierter Schuft seid und mich zu einem Verbrecher machen wollt.«

»Das nennt Ihr einen tatsächlichen Standpunkt, Twerenbold? Es ist der pure moralische, welcher sich ganz gut für einen Pfarrer schicken mag, der seine Bauerjungen katechisiert. Ich will Euch zeigen, daß ich meinerseits den tatsächlichen oder ökonomischen Standpunkt festzuhalten vermag. Hört nur! Ihr seid zugrunde gerichtet, seid ein ruinierter Mann, seid mit Schulden beladen, Euer Lebenskarren ist bis über die Achsen in den Kot verfahren, und Ihr wißt recht gut, daß Ihr außerstande, denselben wieder aufs Trockene zu bringen. Warum? Darum, weil Euer dissoluter Lebenswandel, der mich im übrigen gar nichts angeht, Euren Kredit als Arzt so ziemlich auf Null herabgebracht hat. Ist das Lüge oder Wahrheit?«

»Es ist, wie Ihr sagt.«

»Gut. Offenheit muß unter Freunden sein, oder, wenn Euch das Wort Freundschaft nicht behagt, unter Leuten, die gemeinschaftlich eine wichtige Spekulation machen wollen. Es steht noch schlimmer mit Euch, als ich vorhin sagte. Gestern hat das Bezirksamt, den gegen Euch anhängig gemachten Schuldklagen Folge gebend den Befehl ausgefertigt, im Exekutionsweg gegen Euch zu verfahren. Außerdem sollt Ihr zur Haft gebracht werden, weil der Drogeriehändler Banks drunten in der Stadt eine Wechselklage gegen Euch angestellt hat.« ›Woher wißt Ihr denn diese erbaulichen Neuigkeiten?‹

›Aus bester Quelle. Glaubt Ihr, ich hätte nur so aus dem Stegreif und blind zutäppisch Euch eine Sache eröffnet, bei welcher Kopf und Kragen auf dem Spiele steht? Mitnichten. Ich habe mich vorher des genauesten informiert und instruiert, um die Verfassung des Mannes zu kennen, an welchen ich mich mit meinem Anliegen wenden wollte. Eure Stimmung studierte ich schon seit längerer Zeit im Steinbock, mit größerer Geduld und Achtsamkeit, als Ihr jemals den Zustand eines Patienten studiertet, und gestern bin ich nach der Stadt gefahren, extra in der Absicht, mich gehörigen Ortes über den Stand Eures Schuldenwesens zu vergewissern.‹

›Veit, es ist schade, daß Ihr nicht Jago heißt.‹

›Ihr meint den pfiffigen Kerl im Othello? Aber es handelt sich weder um eine Desdemona noch um so dummes Zeug, wie die Eifersucht ist. Auch tut Ihr mir in der Tat zu viel Ehre an mit Eurer schmeichelhaften Vergleichung. Ich bin weiter nichts als ein Mann, der den Kopf am rechten Flecke hat, ein Mann, welcher des Kammerdieners gründlich satt ist und sich mit einem tüchtigen Schlag zum gemachten Kerl und für immer zu seinem eigenen Herrn machen möchte. Ihr wißt, ich hatte in meiner Knabenzeit bessere Aussichten als die auf eine Lakaienstelle; aber nach dem Bankrott meines Vaters hatte ich nichts als einen erst halb gefüllten Schulsack. Es stecken auch shakespearische Reminiszenzen darin, und kann ich Euch damit aufwarten, wenn Ihr wollt. Erinnert Ihr Euch des Fähnrichs Pistol? Der sagt, die Welt sei eine Auster, welche er sich mit dem Schwerte offnen wolle.‹

›Mit dem Schwerte? Wie mögt Ihr von einem Schwerte sprechen, der feigste Hund, der mir je vorgekommen?‹ ›Ich sprach nur gleichnisweise. Ein Schwert hab' ich freilich nicht, brauch' auch keins, denn ich habe Verstand und gerade so viel Mut, als ich bedarf, das, was mich geniert, zu beseitigen.‹

Doch,« unterbrach sich hier der Erzähler, »rechne, ich will Sie, Herr Graf, nicht länger mit Darstellung dieser Philosophie der Gemeinheit ermüden. Wäre auch, kalkulier' ich, überhaupt nicht so ausführlich geworden, wären mir die unmotivierten Katastrophen nicht von jeher zuwider gewesen. Aus dem mitgeteilten Gespräch zwischen dem Veit und mir können Sie ersehen, was für 'ne Art Schuft jener war und noch ist. Was mich angeht, war ich in einer Lage und Stimmung, wo die Logik des moralischen Standpunktes nicht standzuhalten pflegt vor der des ökonomischen. Ich versuchte zwar noch eine kleine Diversion. ›Und wenn ich,‹ sagte ich, ›für gut fände, statt bei Eurem heillosen Anschlag mitzuwirken, denselben am passenden Orte zu verlautbaren, wie dann?‹ – ›Ei, liebster Twerenbold,‹ entgegnete Veit, ›Ihr wißt recht gut, daß Ihr uns damit nicht ins Bockshorn jagen könnt. Wer würde auf eine solche, noch dazu vom Schuldturm aus zu erhebende Anklage achten? Alle Menschen von fünf gesunden Sinnen müßten Eure Angabe für eine ungeheuerliche Lüge halten und von Gerichts wegen könnte dieselbe so, wie die Sachen liegen, nur als ein allerfrechster Erpressungsversuch qualifiziert werden. Wir haben, seht Ihr, lieber Freund, an alles gedacht und in unserer Rechnung keinen Posten unbeachtet gelassen. Das Fazit ist: Ihr müßt uns beistehen, oder Ihr seid ein verlorener Mann.‹

In der Tat, der Schurke hatte umsichtig spekuliert. Er zeigte mir auch, als ich auf ferneren Widerstand verzichtete, daß er nicht minder umsichtig bereits für die Inszenesetzung des verbrecherischen Dramas gesorgt, welches am folgenden Tage ausgeführt werden sollte, und zu dessen Schauplatz die Kapelle in der alten Burg ausersehen wurde.

Die Verhandlungen mit Veit hatten fast die ganze Nacht hindurch gewährt. Als er endlich fort war, schlief ich ruhig ein paar Stunden, denn ich hatte nun einmal meinen Entschluß gefaßt, und es war von je meine Art, nach gefaßten Entschlüssen keine Skrupel mehr zu kennen.

Vormittags ging ich der Verabredung gemäß zur bestimmten Stunde ins Schloß, unter dem plausibeln Vorwand, der Lore, welche seit einigen Tagen unpäßlich gewesen, meinen ärztlichen Besuch abzustatten. Als ich wieder in den Hof trat, wie um wegzugehen, rannte mich der Veit an, aus dem Park hereineilend. »Kommt schnell, Doktor,« sagte er hastig. »Dem Junker Rudolf ist ein Unfall passiert.« – »Wo denn?« – »Droben in der Ruine, wo er mit dem Junker Robert gespielt. Er hat einen schweren Fall getan.«

Droben trafen wir in der Kapelle den Herrn Grafen und den Kleinen, welcher damals nicht viel über zwei Jahre alt war. Den Junker Robert hatte Veit schon vorher von dem Orte zu entfernen gewußt.

Alles, was zu dem schrecklichen Akt nötig, war in Bereitschaft.

Dort, sehen Sie, Herr, auf den Altarstufen stand die Pfanne mit glühenden Kohlen, der ich bedurfte.

Veit verschloß die Türe der Kapelle.

Ich sah den Grafen fragend an.

Er nickte nur mit dem Kopfe.

»Das arme Kind!« greinte der lästerliche Heuchler, der Veit; »es ist dort in den Beichtstuhl geklettert, das Sitzbrett schnappte herab und hat ihn schrecklich gequetscht.«

Der unglückliche Knabe aber lächelte mir zu als einem Bekannten, in welchem er nicht seinen Henker vermutete. Herr, ich bin ein abgewetterter Kerl, war es, rechne ich, schon damals, aber dieses Lächeln schnitt mir durch das Herz wie ein Dolchstoß.

Ich zauderte.

›Gedenkt des Schuldturms!‹ zischelte mir Veit in die Ohren. ›Es muß sein.‹

Ich zögerte noch immer: es war doch gar zu grauenhaft, was ich tun sollte.

Der Graf stand mit gesenktem Kopfe vor jener schwarzen Rüstung dort, die man, glaub' ich, für die des Grafen Wippo hält, von welchem eine düstere Sage umgeht. Plötzlich wandte er sich halb um und sagte mit scharfer Betonung:

›Nun, wird's bald?‹

Er war des Kindes Oheim und Vormund, ich war ein mit dem Schuldturm bedrohter Fremder.

Da nahm ich den Knaben und trug ihn zum Altar, und auf der Platte desselben vollzog ich die Operation.

Der Veit hielt das Kind, es schrie furchtbar. – Oft, sehr oft seit zwanzig Jahren hab' ich mir eingebildet, das Schreien klinge mir im Ohr.

Während ich den Verband anlegte, erschreckte uns ein gewaltiges Gepolter, und den Kopf rückwärts wendend, sah ich den Grafen mit einem lauten Schrei in die Mitte der Kapelle springen.

Die Rüstung des alten Wippo war dröhnend von ihrem Haken gefallen.

Dieser Zwischenfall erfüllte uns drei doch mit einem seltsamen Grauen über unser namenloses Werk.

Der herzlose Veit war es, welcher zuerst sich faßte und nach einer rationalen Erklärung des romantischen Wunders sich umsah.

›Der Herr Graf,‹ sagte er, ›hat sich wohl unversehens unten an das alte Ding gelehnt, und da ist es infolge des Druckes oben über den Haken herausgerutscht.‹

Ich trug das noch immer heftig weinende Kind auf meinen Armen nach dem Schlosse, und wich nicht von ihm, bis jede unmittelbare Gefahr beseitigt war.

Der Lore gab ich eine plausible Erklärung des ›Unfalls‹, welcher den Junker betroffen, und meines dadurch nötig gewordenen ärztlichen Einschreitens. Ob sie mir glaubte, weiß ich heute noch nicht recht.

Man hielt mir Wort: ich bekam mein Blutgeld, von dem ich schon nach zwei Jahren sagen konnte: Wie gewonnen, so zerronnen.

Der Veit wurde unter der Form eines fingierten Kaufes Herr der schönen Donnerfallmühle.

Zehn Tage nach dem namenlosen Werk verließ ich Wippoltstein, um über Frankreich und England nach Amerika zu gehen.«


 << zurück weiter >>