Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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6. Am Donnerfall.

Der Goldfuchs, welcher das Wohlgefallen des alten Andres in so hohem Grade erregt hatte, ging tänzelnden Schrittes unter seiner leichten und schönen Last einher. Robert ritt der Gräfin zur Seite und vergaß ganz und gar seine Reiterkünste zu zeigen, weil er es vorzog, die unbefangene Sicherheit und Grazie zu bewundern, womit seine Begleiterin ihr Pferd lenkte.

Sie schaute glänzenden Auges in das tiefgrüne Tal hinein und zu den schimmernden Bergkuppen empor. Zuweilen streifte ihr Blick den jungen Mann, und dann lächelte sie, und ihr Lächeln goß eine helle Freudigkeit über sein Gesicht.

Wandte sie aber im raschen Traben ihr Auge von ihm, so fuhren düstere Schatten über seine Züge, und diese Schatten wurden dunkler, als jetzt das Gehöft der Donnerfallmühle vor den Reitenden auftauchte.

Es rief in Robert Betrachtungen wach, die er über alle Berge wünschte.

Der Graf hatte gestern seine Reise angetreten. Sie sollte, wie er seinem Sohne gesagt, voraussichtlich bis in den Herbst hinein dauern. Die Besichtigung der Güter in Böhmen, ein Aufenthalt in Karlsbad, ein Abstecher nach Berlin, vielleicht ein Ausflug nach Helgoland, später ein Besuch in der Hauptstadt, das alles konnte viel Zeit wegnehmen. Robert hatte den Vater bis zur nächsten Poststation begleiten wollen, was aber abgelehnt worden war, weil der Graf, wie er sagte, im Vorbeifahren an der Donnerfallmühle noch ein langweiliges Geschäft mit dem Meister Veit abzumachen hätte. So hatte er denn am Ausgange des Parkes von dem Sohn Abschied genommen und sich von diesem noch ausdrücklich versprechen lassen, seine Rückkehr in der Heimat abzuwarten.

Der gräfliche Reisewagen war dann wirklich von der Straße abgebogen und hatte über eine Stunde lang auf dem Hofraum der Mühle gehalten. In diese aber war eine Weile zuvor eine Bauernfrau mit einem sehr jungen und sehr schönen Mädchen gekommen. Beide gingen in der Tracht der Bewohnerinnen des Siggitals, welches südwestlich von der Mühle ins Hochgebirg hineinschneidet, und hatte das Gesicht des jungen Mädchens große Bekümmernis verraten. Als der Graf wieder aus der Mühle trat, führte er das Mädchen an der Hand, welches ihm nicht ohne Widerstreben zu folgen schien. Es ging jetzt nicht mehr in seiner ländlichen Tracht, sondern in sehr eleganter städtischer, aber der von dem Damenhut über das Gesicht herabfallende Schleier war nicht dicht genug, um ein verhaltenes Schluchzen unhörbar zu machen. Der Graf hob das Mädchen vor sich in den Wagen, nahm rasch Abschied von dem Müller und der Bauernfrau, und fort ging es.

Diese Geschichte hatte der alte Andres seinem Herrn gestern abend mitgeteilt. Er war nach der Mühle gegangen, um der braunen Stute einen Besuch zu machen, hatte aber weder diese noch den Meister Veit getroffen, dagegen von den Mühlknappen die Neuigkeit von der in eine Stadtdame verwandelten jungen Siggitalerin erfahren – »eine merkwürdig kuriose Geschichte, Sapperlost!« wie er meinte. Der Herr Rittmeister hatte aber den Rapport sehr ungnädig aufgenommen und dem Alten zugerufen, ins drei – seine Nase nicht in Dinge zu stecken, welche ihn nichts angingen.

»Mich nichts angehen? Was!« hatte Andres draußen im Vorzimmer zu sich gesagt, höchst unwillig seinen Schnurrbart zwirbelnd. »Einen so alten Diener des Hauses! Möchte den sehen, der das behaupten wollte, Sapperlost! Die Kränk' über diesen Schubiak, den Veit! Der Hundesohn würde seine eigene Tochter verkuppeln, wenn er eine hätte.«

Hatte aber das »langweilige Geschäft«, welches Graf Nepomuk vor seiner Abreise noch in der Mühle abgemacht, schon den alten Diener des Hauses in Aufregung versetzt, so mußte es gewiß dem Sohn allerlei zu denken geben. Robert liebte seinen Vater, der sich ihm, wie schon früher gesagt worden, stets als solcher erwiesen hatte. Zu untersuchen, inwiefern der Graf auf das Anspruch habe, ohne was keine dauernde Zuneigung möglich ist, auf Achtung, war dem jungen Mann bisher nicht eingefallen. Er war in vielem, um nicht zu sagen in allem, anderen Sinnes als sein Vater, aber er hatte sich bis dahin begnügt, diese Verschiedenheit der Ungleichheit des Alters, der Zeitstimmung, der Erziehungsweise und Laufbahn zuzuschreiben. Ein alter Hofmann und Diplomat kann nicht fühlen und denken wie ein junger Soldat, hatte er sich gesagt, wenn in den Briefen des Grafen Stellen vorkamen, zu welchen er gar keine Beziehung gewinnen konnte. Die Art und Weise, wie sich der Vater beim Wiedersehen seines Sohnes benommen, hatte zwar auf diesen etwas beklemmend und ankältend gewirkt, aber er hatte diesen ungünstigen Eindruck verwunden, bis die Mitteilung des alten Andres denselben mit verdoppelter Stärke zurückführte. Die fatale Perücke! Sie wollte ihm heute gar nicht aus dem Sinne. Sowie er den Blick von seiner Begleiterin abwandte, schwebte vor seinen Augen die verwünschte Haartour und an jedem Härchen derselben hing ein häßlich grinsender Kobold, Verkörperungen widerwärtiger Vorstellungen.

Die Bande des Blutes sind die stärksten, ja, ohne Zweifel. Oft aber auch sind sie die brüchigsten und sprödesten, und hat die Feile der Kritik sie einmal angenagt oder ein heftiger Schlag sie gebrochen, o, wie selten findet sich dann eine Glut, hinreichend, die Bruchstücke wieder vollständig zusammenzuschweißen. Meistens wird nur jämmerliches Flickwerk daraus, dessen Risse man mit stereotypen Redensarten verklebt, so gut es gehen mag.

Die Gräfin sah ihren Begleiter an, und da sie bemerkte, daß er nachdenklich auf den Kopf seines Pferdes starrte, ließ sie ihren Blick lang' und fest auf seinen Zügen haften. Das verhaltene Feuer ihrer schönen Augen brach voll hervor, und ihre Brust hob sich unter dem Amazonenkleid. Was aber auch in diesem Augenblick in der Tiefe ihrer Seele vorgehen mochte, über ihre Lippen kam nichts davon.

Sie sagte nur mit einem fast spöttischen Lachen:

»Mein werter Paladin, säßen Sie nicht auf einem so guten Rosse, würde ich mir die Freiheit nehmen, zu behaupten, daß Sie auf und ab dem guten Ritter de la Mancha ähnlich sähen, welcher, auf seiner Rosinante hängend, in elegischen Erinnerungen an die edle Dulzinea von Toboso sich erging.«

Der Klang ihrer Stimme machte Robert aus seinem Brüten auffahren. Seine Verlegenheit unter einem Lachen verbergend, das mehr laut als herzlich war, erwiderte er:

»Sie sehen scharf, gnädige Frau. Es möchte heute wirklich etwas Don-Quijotisches in mir sein.«

»Ach, so hab' ich's erraten mit der Dulzinea?«

»Das nicht, aber ich glaube, ich habe mich soeben mit dummen Windmühlen herumgeschlagen.«

»Mit Windmühlen? Pfui! Diese holländische Prosa gehört nicht in die Poesie unserer Berge. Bitte, machen Sie doch die Augen auf, statt zwischen den Ohren Ihres Pferdes die Quadratur des Zirkels zu suchen. O, wie schön ist die Welt!«

Und mit einem leichten Gertenschlag setzte sie den Goldfuchs in Galopp.

»Ja,« rief Robert aus, von ihrer Freudigkeit elektrisch berührt und seinem Pferde die Sporen gebend, »ja fort mit den Windmühlen und allem, was an ihren Flügeln hängt! Sie haben recht, schön ist die Welt – Hurra!«

So sprengten sie von der Straße ab, über die Brücke, den Fahrweg zur Mühle hinauf und an dieser vorüber, bis da, wo hinter einem Ahornwäldchen die Bergwand steil aufzusteigen begann.

Der Müller Veit stand am Eingang seines Gehöftes, als die beiden vorüberflogen. Er nahm seine Mütze ab und verbeugte sich tief, aber die Gräfin beachtete ihn nicht, und Robert erwiderte den unterwürfigen Gruß nicht, sondern wandte mit einem verachtungsvollen Blick den Kopf.

»Die hochmütigen Puppen!« murmelte Veit, als sie vorüber waren, und sah ihnen mit einem hämischen Lächeln nach. »Die stürmen übermütig ins Leben. Ja, ja, wenn die Katze fort ist, tanzen die Mäuse. Aber für die Mäuse gibt es Fallen und –«

»He, holla, Meister Veit, aus dem Weg da!« schrie dem Grämelnden der kleine Mohr zu, welcher seiner Herrin auf einem Ponny folgte.

»Die Pest in dein Affengesicht, du schwarze Kröte!« schnarchte der Müller den Knaben an.

Berdoa warf sich im Sattel herum, schnitt dem Scheltenden eine Fratze, schlug mit seiner Rechten auf einen gewissen Teil seines Körpers und trieb dann mit lautem Lachen seinen Pony vorwärts, wozu er Grund hatte, denn der erboste Müller bückte sich nach einem Steine.

»Will mir diese Stunde notieren,« sagte er, als der Knabe hinter den Bäumen verschwunden war, und zog seine Schreibtafel hervor. »Es ist immer gut, genau zu wissen, von wann eine Schuld datiert.«

Robert ahnte gewiß nicht entfernt, daß er zu dieser Stunde in Meister Veits Schuldbuch eingetragen wurde.

Er hielt mit der Gräfin am Ausgange des Ahorngehölzes, bis der Mohrenknabe herankam, welcher die Pferde hüten sollte, während die beiden zum Donnerfall hinaufgingen, der mit seinem Tosen rings die Luft erfüllte. Der Kavalier beeilte sich, der Dame aus dem Sattel zu helfen, kam aber doch zu spät, denn leicht und gewandt war sie schon zur Erde gesprungen und schürzte rasch den langen Saum ihres Reitkleides auf. Er bot ihr den Arm, aber sie sagte:

»Es ist überflüssig, denn ich bin fest auf den Füßen und, wie Sie wissen, sind die Wege in den Bergen nicht dazu eingerichtet, Arm in Arm zu gehen. Da muß sich jeder selbst forthelfen, und hatte ich Zeit genug, es zu lernen.«

Robert mußte zugeben, daß dem so war, denn rasch und sicher bewegte sich die schlanke Gestalt vor ihm her auf dem schmalen, steilen, zwischen knorrigen Tannenwurzeln und Felsstücken hinlaufenden Pfad, welcher zu dem Katarakt emporführte.

Es liegt Poesie in dem Gang einer Frau. Die Art, wie sie den Fuß hebt und niedersetzt, das Spiel der Knöchel im Gehen, die Bewegung der Arme zur Unterstützung des Gleichgewichtes, die unbewußte Grazie, womit der Oberkörper den Bewegungen der Beine sich anpaßt, all dieses ist schön anzusehen. Aber zierliche Füße gehören dazu, und die Eigentümerin muß es verstehen, sie zu gebrauchen. Das ist gar nicht so leicht, als man gewöhnlich glaubt. Im allgemeinen verstehen die Französinnen die Kunst des Gehens am besten. Die Spanierin geht stolz einher, die Italienerin majestätisch, die Engländerin selbstbewußt, die Französin anmutig. Der Gang der deutschen Frau hat nur in Ausnahmefällen einen bestimmten Charakter und es macht sich auch hier der Mangel eines kräftigen nationalen Bewußtseins fühlbar.

Robert hatte Zeit, diese Ästhetik des Gehens weiter für sich auszuführen, denn die beiden mußten eine Viertelstunde lang aufwärts steigen, bis sie an dem weiten Felsenbecken anlangten, in welchem der Strom nach seinem letzten Sturze seine Wassermassen wieder sammelt.

Hier in der Schlucht ist der Donner des Kataraktes betäubend, und ein dichter Staubregen überrieselt den Zuschauer. In einer Höhe von nahe an dreihundert Fuß über dem dampfenden Kessel springt aus der Felswand eine Art natürlicher Terrasse vor, von Tannen und Birken beschattet. Dort hatte die Gräfin eine Bank anbringen lassen, denn die Stelle bietet den schönsten Anblick des Wasserfalls.

Als die beiden zu diesem Ort emporgestiegen, erfüllte sie das prächtige Schauspiel mit dem ganzen Zauber seiner wilden Herrlichkeit. Sie hatten jetzt das Gesamtbild des Falles vor sich. Zu ihrer Rechten, über, neben, unter ihnen rollte und donnerte in drei Stürzen die mächtige Silbermasse, ewig kommend und schwindend, aus unerschöpflichem Borne sich ergießend, rauschend in erhabener Monotonie.

Sie tauchten, wortlos nebeneinander stehend, lange ihre Augen in die springenden, stäubenden Wassermassen. Es ging auch kaum an, zu sprechen. Wenigstens mußte sich das Ohr erst an das Donnergeroll gewöhnen, bevor es andern Lauten wieder zugänglich wurde.

Robert, der schon lange nicht mehr hier gestanden, fühlte sich von einem leisen Schwindel angefaßt, aber sonderbarerweise übertrug er die eigene Empfindung auf seine Gefährtin, und unwillkürlich hob er die Arme, um die Gräfin weiter von dem Abgrund zurückzuziehen.

Und doch folgte er diesem Impulse nicht, denn er gewahrte noch zu rechter Zeit, daß die beabsichtigte Hilfeleistung durchaus nicht vonnöten sei.

Thekla sah festen Blickes in die Stürze hinein, hinauf und hinunter, und plötzlich wandte sie sich an den jungen Mann mit der Frage:

»Nun, Robert, wie kommt Ihnen der Donnerfall vor?«

Sie hatten ihn ohne Zeremonie mit seinem Namen angeredet. Wahrscheinlich machte das den jungen Kriegsmann so verwirrt, daß er nur die triviale Antwort fand:

»Er kommt mir vor wie das Leben.«

»Wie das Menschenleben, wollen Sie sagen?«

»Ja.«

»Die Vergleichung ist nicht übel, wenn auch,« setzte sie mit einer Stimme hinzu, deren spöttischen Nachklang das Tosen des Stromes verschlang, »nicht gerade originell. Sie meinen wahrscheinlich, das Schauspiel hier gleiche dem Leben, weil der Donnerfall in wildgenialen Sprüngen und leidenschaftlichem Rasen seine Jugendkraft vertobe, um dann da unten wie ein zahmer Philister zu hantieren, das heißt die Mühle zu treiben und weiterhin ziemlich langweilig dem See zuzufließen, der ja wohl in Ihrem Gleichnis das Meer der Ewigkeit vorstellen soll.«

»Sie wissen besser mit poetischen Bildern umzugehen, Thekla, als ich. Aber dennoch meinte ich es anders. Ich wollte nämlich nur sagen, daß mir der Katarakt hier mit seinen ewig wiederkehrenden Wellengruppierungen und seinem ewig gleichmäßigen Rauschen wie das ewige Einerlei des Daseins vorkommt.«

Sie hatte ihn einen Augenblick groß angesehen, als sie ihren Namen von seinen Lippen tönen gehört, dann aber, ohne zu antworten, sich wieder dem Wasserfall zugekehrt. Nach einer langen Pause des Schweigens bewegten sich ihre Lippen murmelnd. Ganz der Gewalt der Szene vor ihr hingegeben, schien sie die Anwesenheit ihres Begleiters vergessen zu haben. Robert lauschte der vollen, klangreichen Stimme, die mehr und mehr anschwoll und sich in Rhythmen ergoß, zu welchen der Katarakt gleichsam den Takt rauschte.

»Ich kann's nicht lassen, hinzustarren,
Wie sich die Woge ewig jüngt
Und ewig in die Felsenbarren
Verzweiflungsvoll herniederspringt.

Es ist ein unablässig Rollen,
Ein nie verbrodelndes Gekoch'.
Seit Ewigkeiten ist's erschollen
Und Ewigkeiten schallt es noch.

Du wilder Strom des Felsenspaltes,
O, Strom! ich weiß es, was dich quält;
Ich weiß ein Lied, ein ernstes, altes,
Mir hat's die Fei am Quell erzählt:

Zur Zeit der Götter und der Riesen,
Da strömtest du von Anbeginn
In blumenreichen Paradiesen
Ein göttergleicher Strom dahin.

Du aber warst ein trotz'ger Stürmer,
Dir frommte nicht der ebne Pfad,
Du wärest gern, ein Bergetürmer,
Den ew'gen Göttern selbst genaht.

Du wolltest kühn den Schleier heben,
Der von der Gottheit Scheitel rollt;
Und weil du's nicht erreicht im Leben,
So hast du's durch den Tod gewollt.

Und aus dem Bette schwoll dein Wasser,
Du warfest in dies Klippengrab,
Ein rasch entschloßner Lebenshasser,
Selbstmordend häuptlings dich hinab.

Du warst der erste Erdenpilger,
Der sich zerstört aus eigner Macht,
Du warst der erste Selbstvertilger –
Der erste Selbstmord war vollbracht.«

Sie brach ab, denn plötzlich überkam sie das Gefühl, als hätte sie etwas Unschickliches begangen. Sich als Deklamatorin hinzustellen – was war das für ein alberner Einfall gewesen? Sie fürchtete sich, umzublicken, denn sie erwartete ein spöttisches Lächeln um Roberts Mundwinkel spielen zu sehen. Als sie es endlich doch tat, vermied sie, die Augen zu seinem Gesicht zu erheben, und sagte verlegen und mit sich selber unzufrieden:

»Wie ungalant! Sie klatschen nicht Beifall zu meiner Deklamationsübung?«

Robert bemerkte unschwer, daß es sie gereute, dem poetischen Eindruck des Ortes und der Stunde nachgegeben zu haben.

»Ich klatsche nicht,« sagte er, »aber ich denke, es sollte Ihnen nicht leidtun, mich durch die Erinnerung an einen Dichter erfreut zu haben, den ich persönlich kannte. Der arme Junge! Wie würde er entzückt gewesen sein, wenn er an meiner Stelle gestanden hätte.«

»Wie, Sie kannten Strachwitz? Das ist schön. Kommen Sie, Sie müssen mir von ihm erzählen. Sicher ist hier ein passender Platz, über einen Dichter zu reden.«

»Gnädige Frau –«

»Nicht so, nicht so, mein Freund. Sehen Sie, ich habe Sie vorhin ganz einfach Robert und Sie haben mich Thekla genannt. Das machte der Donnerfall, denn immer, wenn der Mensch der Größe und Schönheit der Natur nähertritt, läßt er die Maske der Konvenienz unwillkürlich fallen. Haben Sie nichts dagegen, wollen wir es auch ferner so halten. Wir können uns ja vorstellen, wir seien Geschwister. Warum uns das Leben in diesen Bergen durch albernes Etikettewesen verkümmern?«

Der Ausdruck seiner Augen sagte ihr, daß ihr Vorschlag mit lebhaftestem Danke angenommen wäre.

Sie setzten sich auf die Bank und er teilte ihr mit, was er von dem Leben und dem frühen Tod des jungen Poeten wußte, den er vor einigen Jahren in der Hauptstadt kennen gelernt.

»Und was halten Sie von seiner Poesie?« fragte sie, als er mit seinem Bericht zu Ende war.

»Statt diese Frage zu beantworten, möchte ich sie lieber an Sie richten, denn ich fürchte, meine Ästhetik steht auf schwachen Füßen, und ich bin überzeugt, Sie könnten ihr aufhelfen.«

»Wollen Sie mich verspotten? Ich weiß, was man von den Blaustrümpfen spricht. Aber gewiß sind Sie billig genug, zu begreifen, daß ich mit Büchern Umgang pflegen mußte, weil mir die Menschen fehlten.«

»Sie fühlten sich einsam?«

»Ich war es.«

Sie wollte zu diesem Worte der Klage noch etwas hinzufügen, unterdrückte es jedoch.

Eine Pause trat ein. Beider Herzen waren voll und die Flut der Gefühle wollte hervorbrechen. Aber die Selbstbeherrschung des Mannes preßte den Andrang zurück, und mit erzwungener Ruhe sagte er:

»Gewiß, Thekla, glauben Sie nicht, daß ich Sie beleidigen wollte. Meine Äußerung war ganz ernsthaft gemeint, und es würde mich in der Tat interessieren, Ihre Meinung über meinen früh dahingegangenen Freund zu hören.«

Sie verstand seine Absicht, abzulenken, und entgegnete mit schnell gewonnener Fassung:

»Das Hin- und Hersprechen über Poesie klingt eigentlich immer pedantisch. Kommt doch hier auf den individuellen Eindruck alles an.«

»Allerdings, und ich glaube, es hat ungünstig auf die Dichtung der Gegenwart zurückgewirkt, daß wir uns gewöhnt haben, ihre Schöpfungen gleich von vornherein unter die kritische Lupe zu bringen. Weil wir die Fähigkeit verloren, das, was uns der Dichter gibt, unmittelbar zu genießen, hat er seinerseits das unmittelbare Schaffen verlernt. Dessenungeachtet aber möchte ich Ihre Frage von vorhin von Ihnen selbst beantwortet haben.«

»Nun denn, mir scheint, auch Strachwitz war nicht frei von dem Forcierten, welches wie ein Fluch unserer Epigonendichtung anhaftet. Aber daneben verraten seine Gedichte oft Züge von ursprünglicher Kraft und Frische, und in vielen ist ein nationales Gefühl, welches uns wohltuend anspricht.«

»So ist es. Unsere Aristokratie, wenn nämlich von einer solchen in deutschen Landen überhaupt die Rede sein kann, ist jetzt lebhaft darauf aus, auch dichterische Vertreter haben zu wollen. Sie überschüttet jeden mit maßlosestem Lob, welcher mit Versen gegen die demokratische Richtung angeht, und hat sich da die lächerlichsten Mißgriffe zuschulden kommen lassen. Die Dichterlinge, gegen welche sie dermalen mit Lorbeerkronen so verschwenderisch ist, fordern nur den gerechten Spott der Gegner heraus. Da ist Strachwitz. Ich denke, er kann sich als aristokratischer Poet sehen lassen. Aber man kennt und nennt ihn kaum.«

»Sie sind Aristokrat, Robert?«

»Ja.« »Aber Sie sagten ja eben, es gebe bei uns keine Aristokratie.«

»Leider. Hätten wir eine Aristokratie, wie England sie besitzt, es stände besser mit unserem Vaterland.«

Die Gräfin schien keine Lust zu haben, die neue Wendung des Gespräches weiter zu verfolgen.

»Hedwig hat mich gewissenhaft unterrichtet,« dachte sie. »Da hätten wir ja schon die Sympathie mit den Institutionen Englands. Ob ihre anderen Mitteilungen sich wohl ebensogut bewähren mögen?«

»Ich bemerke,« sagte sie dann, »daß Sie mit Fragen und Problemen sich beschäftigen, welche, soviel ich weiß, Männer Ihres Alters und Standes nicht sehr zu interessieren pflegen.«

»Man muß ein Stock oder Stein sein, wenn man dermalen gedankenlos in den Tag hineinleben kann. Unsere Zeit ist, denke ich, wohl danach angetan, auch jüngere Leute ernst zu machen. Man kann mit dem besten Willen das Leben nicht mehr so leicht nehmen wie früher. Überall hängen Gedanken in der Luft, deren Wucht jedes Gehirn empfindet, welches nicht ganz leer ist.«

»Aber sagen nicht unsere Staatsweisen, die wilden Dämonen hätten ausgerast und der patriarchalische Frieden sei wiedergekehrt?«

»So sagen sie, ja; aber wer glaubt ihnen, was sie selber nicht glauben?«

Die Gräfin war nicht in der Stimmung, diese auf allgemeine Ziele gerichtete Unterhaltung weiterzuführen, und ihr Schweigen machte auch den jungen Mann verstummen. So saßen sie lange, von dem monotonen Gebrause des Katarakts in Träumereien gewiegt.

Plötzlich fragte Thekla:

»Robert, was halten Sie vom Selbstmord?«

Er sah auf und erschrak vor dem seltsamen Feuer ihrer Augen.

»Was ich vom Selbstmord halte?« entgegnete er zögernd. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, der Wasserfall da und das Gedicht Ihres Freundes haben mir die Frage eingegeben. Aber was antworten Sie?«

»Ei, ich meine,« erwiderte Robert, indem er sich bemühte, der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben, »ich meine, der Selbstmord ist die gewaltsam aufgestoßene Hintertüre im Labyrinth des Daseins, das Rettungsseil in der Fallgrube der Verzweiflung, das Schlupfloch aus der trostlosen Sackgasse des Überdrusses.«

»So ungefähr würde Herr Saphir die Frage beantworten, meinen Sie nicht?«

»Ich glaubte nicht, daß Sie die Sache tragisch nehmen. Was haben Sie, so jung, so schon, mit dem Gedanken des Selbstmordes zu tun?«

»Wer kann für seine Gedanken? Sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt. Da fällt mir zum Beispiel gerade ein, daß ich einmal eine furchtbare Geschichte gelesen. Ein Gefangener sah jeden Morgen beim Erwachen die Wände seines Kerkers enger zusammengerückt. Beim letzten Erwachen war sein Gefängnis ein enger, niedriger Sarg geworden, in welchem er elend verkam. Kennen Sie die Geschichte?«

»Ich erinnere mich, davon gehört zu haben.«

»Und ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß das Dasein ein solcher höllischer Kerker sei?«

»Um des Himmels willen, Thekla, was machen Sie sich mit solchen schrecklichen Vorstellungen zu schaffen?« »Das befremdet Sie, weil ich, wie Sie sagen, jung und schön bin?«

Sie wollte noch etwas hinzusetzen, aber sie unterließ es, stand auf und sagte ruhig:

»Kommen Sie, die Sonne geht zur Rüste, und der gute Pfarrer erwartet uns in seiner Laube am See. Er plaudert so liebenswürdig, und er soll uns die finsteren Einfälle fortplaudern.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie rasch den Fußsteig hinunter, und Robert folgte, von wechselnden Gefühlen bestürmt.

Sie hatten die Klippe kaum verlassen, als hinter dem Gebüsch im Rücken der Bank Twerenbold, der Bummler, hervortrat.

Er warf sich auf den Sitz, stieß seinen Knotenstock auf den Boden und brach in ein höchst vergnügtes Lachen aus.

»So, so,« sagte er, »der alte Narr, der Frieding, soll euch die finsteren Gedanken fortplaudern? Kalkuliere, habt Gedanken, die euch weder der Pfaff noch sonst wer fortplaudert. Ist ein Fakt, bei Jove. Müßtet eure Augen weniger deutlich reden lassen, wenn man nicht merken sollte, wie 's steht. Ja, ja.«

Er nahm eine Zigarre aus der Tasche, brannte sie an, legte sich behaglich zurück und monologisierte weiter:

»Ist ein vergnügliches Ding, zu sehen, wie sich die vornehmen Puppen quälen und härmen. Ist wohltuend für uns andere, rechne ich. Freilich, könnte fast so etwas wie Mitleid mit den beiden da empfinden. War auch mal jung und närrisch, wurde mir aber die Narrheit unsanft vertrieben, weil ein Herr Graf gegen mich armen Teufel ins Feld rückte. Ist eine alte dumme Geschichte, aber alle Teufel der siebzehn mexikanischen Höllen über ihn! Könnte, kalkulier' ich, eine recht unterhaltende Geschichte für mich aus dem Ding da werden. Langweile mich ohnehin so ziemlich hierzulande. Ja, könnt' pläsierlich werden, für mich und für die Lore. War 'ne gute Idee, daß ich heute da heraufkletterte und den guten Leutchen vorerst aus dem Wege ging. Wird, rechne ich, eine rechte Frolik für die Lore sein, wenn ich ihr erzähle, was für 'ne Neuigkeit ich am Donnerfall ergattert habe. Ist Wasser auf ihre Mühle, Hochwasser. Muß man aber, denk' ich, die Birnen reif werden lassen, bevor man den Baum schüttelt. Habe die Notion, wird rasch gehen mit dem Reifwerden. Ja, ja, ist gar fruchtbares Wetter heuer!«


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