Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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12. Vor einem Sarge.

In einem der bedeutendsten Werke slawischer Poesie, in des Polen Krasinski Ungöttlicher Komödie, unterhalten sich in der Ahnengalerie des Grafen Heinrich dieser und der Plebejer Pankratius.

»Blick auf diese Gestalten,« sagt der Edelmann. »Der Gedanke des Vaterlandes, die Idee der Familie ist in Falten auf ihrer Stirne geschrieben. Preis meinen Vätern!«

»Ja,« versetzt Pankratius, »Preis deinen Vätern im Himmel und auf Erden! Es ist der Mühe wert, hinzublicken. Jener, ein Starost, erschoß die alten Weiber im Walde und ließ die Juden lebendig verbrennen. Der da, mit dem Siegel in der Hand, verfälschte Akten, verbrannte Archive, bestach Richter und beschmutzte mit Gift seine Erbschaften; daher stammen deine Dörfer, deine Einkünfte, deine Macht. Dieser da, mit dem goldenen Vlies im welschen Mantel, diente dem Auslande, und jene blasse Frau buhlte mit ihrem Pagen. Die andere dort liest einen Brief ihres Geliebten und lächelt, denn die Nacht naht heran. Das sind Eure ununterbrochenen, unbefleckten Geschlechtsregister.«

»Du irrst, Bürgerlicher,« entgegnet der Graf. »Weder du noch einer von den Deinigen würde leben, wenn euch nicht die Gnade meiner Väter ernährt, ihre Macht euch nicht beschützt hätte. Sie verteilten Korn unter euch in der Hungersnot; als die Pest ausbrach, bauten sie euch Spitäler, und da ihr aus einer Herde von Tieren unmündige Tierlein wurdet, bauten sie euch Tempel und Schulen; nur im Kriege ließen sie euch zu Hause, denn sie wußten, daß ihr nicht für das Schlachtfeld taugt.«

Diese Ansicht von der Stellung des Adels in der Vergangenheit, wie sie hier zuletzt der Dichter einem Repräsentanten desselben in den Mund legt, hatte sich Robert ziemlich frühzeitig gebildet. Es war in ihm nichts Junkerhaftes, denn wenn Keime dazu ursprünglich in ihm vorhanden gewesen, so hatte die durchaus auf das Humane gerichtete Erziehung Friedrichs dieselben beseitigt. Aber er haßte instinktmäßig jene Lehre der Gleichheit, welche behauptet, die Menschen müßten einander gleich sein, wie ein Wassertropfen dem andern gleicht. Niemand konnte bereitwilliger als er die Aristokratie des Geistes anerkennen, aber er hielt auch an dem Glauben an die Berechtigung der Aristokratie der Geburt fest. Weit von der Albernheit entfernt, die physiologische Tatsache zu bezweifeln, daß das Blut des Abkömmlings stolzester Feudalgeschlechter ganz aus den nämlichen Bestandteilen zusammengesetzt sei wie das des Tagelöhners und Bettlers, war er andererseits überzeugt, daß die in wahrhaft aristokratischen Häusern von Geschlecht zu Geschlecht ununterbrochen forterbenden Traditionen einer über die gemeinen Mühen des Lebens erhabenen Existenz dem Geiste eine höhere, auf große und edle Ziele gerichtete Schwungkraft verleihen müßten. Mit Bedauern, ja sogar mit schlecht verhehltem Ingrimm blickte er auf die Stellung, welche der deutsche Adel im Verlaufe der nationalen Entwicklung allmählich eingenommen. Sie kam ihm geradezu als eine unwürdige vor, und mit einem Gefühle des Neides sah er auf die Aristokratie Englands hinüber, welche ihre Geschicke so geschickt mit denen der Nation zu verflechten gewußt und für ihre Klugheit, ihre Energie und ihren Patriotismus einen entsprechenden Lohn davongetragen hatte, den, den ersten Staat der Welt zu regieren. Legte er diesen Maßstab an, so fühlte sich sein aristokratisches Bewußtsein freilich gedemütigt; trotzdem aber blieb es für ihn ein wohltuendes Gefühl, von einer langen Reihe von Männern abzustammen, deren viele in der Geschichte des Landes berühmt, alle wenigstens bekannt waren und von denen keinem nachgewiesen war, daß er sein Wappenschild entehrt habe. Es hatte Männer von der unbändigsten Leidenschaftlichkeit und dem gewaltsamsten Gebaren unter ihnen gegeben, nie aber einen Feigling oder Niederträchtigen. Roberts Ideal eines Mannes und öffentlichen Charakters war der große Freiherr vom Stein, der Feind Napoleons, der Wiederaufbauer des durch den Schlag bei Jena zertrümmerten Preußen. In diesem Trefflichen sah er den Typus eines wahren Edelmanns. Auch Stein hatte fest an seinem Recht und seiner Würde als geborener Reichsfreiherr gehalten, auch er hatte nur in der ständischen Gliederung der Gesellschaft das Heil Deutschlands gesehen, aber zugleich hatte er keinen Augenblick sich bedacht, alles Verrottete und Untüchtige, alles störende oder schädliche mittelalterliche Gerümpel der Vernichtung preiszugeben, und war mit der nämlichen Energie, womit er seinem eigenen Stande zu einer würdigen Stellung und Geltung im Staate verhelfen wollte, auch für die Rechte des Bürgers und Bauers in die Schranken getreten. Man sieht, für Robert war das Wort adelig wirklich synonym mit edel.

Bei solcher Stimmung und solchen Ansichten hatten die revolutionären Bewegungen der letzten Zeit einen ganz eigenen Eindruck auf den jungen Mann gemacht. Er war jung und frisch genug gewesen, um jenen sympathischen Zug zu fühlen, der alle empfänglichen Herzen ergreift zu Zeiten, wo es den Anschein hat, der in der Weltgeschichte waltende Geist der Entwicklung schicke sich zu einem bedeutenden Vorschritt an. Sein Geist war auch selbständig genug, daß ihn selbst seine Stellung als Soldat und Offizier nicht abgehalten hätte, jenem Zug nachzugeben, denn er war Patriot von ganzer Seele. Aber schon der Ursprung der ganzen Bewegung machte ihm dieselbe verdächtig. Er verabscheute die Franzosen, welche er nur das Windbeutelvolk nannte, das, von der lächerlichsten Eitelkeit fortwährend zwischen Extremen hin und her getrieben, für wahre Freiheit und Menschenwürde gar kein Organ habe und von jeher den Einfluß heillosester Mode auf Deutschland geübt hätte. Die nationale deutsche Sache schien ihm beschmutzt durch die Einmischung französisch-demokratischer Hirngespinste, deren Realisierung, vorausgesetzt, daß sie möglich wäre, er für ganz gleichbedeutend mit dem Zarismus hielt. Dort, wie hier, das Nivellement eines allgewaltigen Despotismus, dort im Namen der Massen, hier im Namen eines einzelnen geübt. Die Vorstellung einer derartigen allgemeinen Sklaverei widerte ihn an, und indem er das Ungeschick der Deutschen, aus sich selbst heraus etwas Rechtes und Dauerndes zu schaffen, schmerzlich beklagte, hatte er sich unmutig von der ganzen Bewegung abgewandt. Die unmächtig theoretischen Anläufe des demokratischen Wollens, die Armseligkeit der redseligen Versuche des konstitutionellen Liberalismus hatten ihn gleichermaßen verstimmt und seinem Aristokratismus eine prononziertere Färbung gegeben, als derselbe ursprünglich besessen. Er war jetzt lebhafter als je überzeugt, daß die Souveränität des Volkes eine gefährliche Fabel und daß staatliche und soziale Reformen niemals von unten kommen dürften und könnten.

Von dieser Überzeugung durchdrungen, hatte er seit seiner Zurückkunft zu dem Stammsitze seines Geschlechtes schon mehrmals mit einer gewissen Befriedigung die Reihe seiner Ahnenbilder in dem großen Saal gemustert. Sage man, was man wolle, hatte er dabei gedacht, es ist doch etwas Schönes und Erhebendes um das Bewußtsein, daß das Blut, aus welchem man stammt, in einem von dem Ozean der gemeinen, alltäglichen Massen gesonderten Bett floß; um das Bewußtsein, daß unsere Väter ihre Namen mit deutlichen Zügen in das Buch der Geschichte ihres Landes eingezeichnet haben; um das Bewußtsein, als geborener Gentleman von einer Reihenfolge von Gentlemen abzustammen. Vielleicht könnte man denken, Robert wäre mehr aus Interesse für das letzte Bild, welches in der weiblichen Reihe hing, als aus Gefallen an den übrigen so oft in den Ahnensaal getreten; allein der Umstand, daß er für sein aristokratisches Gefühl auch noch an einem andern Orte Nahrung suchte, welcher jenen Nebenzweck ausschloß, mußte das widerlegen. Dieser andere Ort war die Ahnengruft, für welche er schon als Knabe ein lebhaftes Interesse gehegt hatte.

Die Gruft befand sich in den Ruinen des alten Stammschlosses, unterhalb der alten Burgkapelle, welche dem kolossalen und, wie früher bemerkt worden, noch ziemlich in seiner vollen Höhe erhaltenen Wartturm zur Seite lag. Die Kapelle selbst war mit der ganzen Pietät eines Geschlechtes, welches auf seine Vergangenheit stolz ist, vor dem nagenden Zahn der Zeit bewahrt worden, während rings um sie her die mittelalterlichen Gebäude verwitterten. Der mehr romanische als gotische Stil, in welchem sie erbaut war, bezeugte ihr hohes Alter. Ihr Inneres war im mittelalterlichen Sinne ausgeschmückt. Der Altar zeigte reiches Schnitzwerk und als Altarbild ein von der Zeit angedunkeltes Gemälde der altdeutschen Malerschule. Zwischen den Grabsteinen, die an den Seitenwänden aufgerichtet waren, hingen ritterliche Rüstungen und Waffen, wie auch zerfetzte, mit Blutstriemen bedeckte Paniere, in heißen Fehden tapfer gehalten oder gewonnen, und von jeder dieser Reliquien einer eisernen Zeit hatte sich in der Familie irgend eine bedeutsame Legende erhalten. Robert hatte es als Knabe und Jüngling geliebt, hier zu wandeln, der Familiensagen sich zu erinnern und in dem dämmernden Lichte, welches durch die gemalten Fenster fiel, in romantische Träumereien sich zu verspinnen. Dann stieg er auch wohl, die bronzene Deckplatte hebend, durch die Öffnung vor den Altarstufen in die Krypte hinab, wo in ihren mit mannigfachen heraldischen Emblemen verzierten Eichensärgen seine Altvorderen ruhten. Er fühlte sich hier der Geschichte derselben gleichsam näher. Seine Erinnerung spannte eine Kette, von welcher er sich auch ein Glied fühlte, aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinein, und mittels der Phantasie durchlebte er, was seine Vorfahren gefühlt und gedacht, gestrebt und vollbracht hatten. Welche Fülle von Lust und Weh, Illusionen und Leidenschaften, Stolz und Kümmernissen war hier begraben! Vor allen übrigen hatten ihn stets drei Särge angezogen und seine Betrachtungen gefesselt. Der erste war der Sarg seiner Mutter, die er nicht gekannt, der zweite der seines jungen Vetters Rudolf, mit dem er als Kind gespielt hatte. Der dritte, roh und schmucklos, ohne Inschrift, ohne Wappenzier, stand, aus von der Zeit geschwärzten Eichenbohlen gezimmert, von den übrigen abgesondert in einer dunklen Ecke der Krypte. Vielleicht wären die Bretter unter dem Drucke der Jahre schon längst auseinander gebrochen, hätten nicht rundumlaufende starke, mit Rost bedeckte Eisenbande sie zusammengehalten. Es war der Sarg des Kriegsmanns, dessen Bild in dem Turmgemache der Gräfin hing. Eine finstere Sage knüpfte sich an dieses Bild und an diesen Sarg. Oft hatte ihn Robert, wann er die Gruft besuchte, mit einem geheimen Grauen betrachtet. Er erinnerte sich dabei jedesmal des düsteren alten Volksliedes, welches lange über den umgegangen, dessen Gebeine abseits von denen seines Geschlechtes ruhten. Die Traumlore hatte es ihm in seiner Kindheit einmal vorgesungen, die Schlußzeilen hatten nie aus seinem Gedächtnis weichen wollen, und oft hatte ihm der geheimnisvolle Refrain mit seinen melancholischen Kadenzen im Ohr geklungen.

Da stand er mit ihr auf dem Wippostein Und senkte den Dolch in ihr Herz hinein – Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.

Dann stach er sich selber mitten ins Herz Und hob seine Arme himmelwärts – Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.

Und raffte zusammen die letzte Kraft Und tat einen Fluch gar schauderhaft – Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.

Einen Fluch auf das stolze Grafenhaus: In Schrecken und Schmach sollt' es löschen aus – Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.

Und warf ihren Leib von der Klippe hinab Und sprang hinterdrein in das nasse Grab – Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.

Es ruht ein seltsamer Zauber in solchen alten Liedern. Sie klingen in unsere geglättete, überfirnißte Zeit herein, so fremd und doch so bekannt, wilde Naturlaute einer Vergangenheit, die es nicht verstand oder auch verschmähte, ihre klaffenden Wunden mit der linden Seide einer im Grunde doch immer unwahren Humanität zu verhüllen. Sie schreien uns höhnisch zu: Was plagt und plackt ihr euch? Alles war schon einmal da, und ihr bleibt doch immer die alten Barbaren.

Auch heute, den Tag nach seiner Begegnung mit Twerenbold in dem Hohlweg, befand sich Robert in der Familiengruft.

Heute aber dachte er nicht an die alte Ballade vom blutigen Grafen Wippo.

Er war auch nicht allein.

Die helle Morgensonne ließ ihre beste Kraft draußen an den bunten Fensterscheiben der Burgkapelle. Sie konnte daher nur einen schwachen Schein durch die runde Öffnung schicken, durch welche man aus der Kapelle in die Krypte hinabstieg. Diesem Lichtschimmer von oben kam unten eine Kerze zu Hilfe, welche in einer Laterne brannte.

Im Kreise dieser künstlichen Helle stand auf einer aus der Mauer vorspringenden Steinbank ein kleiner Sarg, dessen abgenommener Deckel zur Seite lehnte.

In diesem Sarge ruhte auf halb zermüllten weißen Atlaskissen die durch ärztliche Kunst vor der Verwesung bewahrte, wenn auch mumienhaft gebräunte Leiche eines jungen Knaben.

Auf der einen Seite des Sarges stand Robert, regungslos, die Arme mit den krampfhaft zusammengezogenen Fingern an den Hüften niederhängend, mit scheuem, unheimlichem, wie gebanntem Blicke auf die Leiche hinstarrend.

Auf der andern Seite stand Twerenbold. Sein hartes Auge war auf den jungen Mann geheftet, aber feinem Gesichte fehlte der gewohnte freche Ausdruck. Seine Hand ruhte auf der Brust des kleinen Leichnams.

In dem Ungewissen Scheine der Beleuchtung, welche nicht ausreichte, das ganze unterirdische Gewölbe zu durchdringen, sah man Särge an Särge gereiht, aus deren düsteren Umrissen da und dort ein Silberschild mit Namen und Inschrift, welches gerade einen Lichtstrahl auffing, vorblitzte. Weiterhin verlor sich alles in einen Hintergrund, schwarz und stumm wie das Grab.

Die beiden Männer beobachteten ein Schweigen, welches mit der Unheimlichkeit der ganzen Szene im Einklang stand.

Eine furchtbare Untersuchung mußte hier stattgefunden haben, ein schreckliches Geheimnis enthüllt worden sein.

Endlich brach Twerenbold das Stillschweigen.

»Und sind Sie nun überzeugt, Herr Graf?« fragte er.

Robert schrak empor.

Das Licht seiner Augen konzentrierte sich zu einem Blick tödlichen Hasses, welchen er auf den Abenteurer schoß.

Er machte eine Bewegung, als wollte er auf denselben einspringen.

Aber wie er den Fuß vorwärts setzte, taumelte er und wäre zu Boden gefallen, hätte nicht Twerenbold den Arm ausgestreckt, um ihn zu halten.

Mit einer mächtigen Anstrengung nach Fassung ringend, bemusterte er wenigstens einigermaßen die Raserei der Gefühle, welche ihn durchstürmten. Er machte sich mit einer Gebärde des Schauders von Twerenbold los und murmelte:

»Er war ja nur das Werkzeug – nur das Werkzeug – und –«

Er brach ab und biß die Zähne aufeinander. Allein der hochgeschwollene Strom der Empfindungen verlangte gebieterisch nach einem Ausbruch.

Mit großen, wankenden Schritten durchmaß Robert die Krypte. Ein grimmiger Schmerz arbeitete in seinen Zügen, und stöhnend unter der Pein schrie er auf:

»Gebeine meiner Väter, ich glaubte, daß ihr, wenn nicht in Ruhm, doch in Ehren ruhtet. Es war ein Wahn, ein Traum – er ist vorbei, und alles ist vorbei, aus, aus, aus!«

Twerenbolds Miene nahm ihren stereotypen Ausdruck wieder an, und das alte Hohnlächeln umzog seinen Mund.

»So sind diese Leute,« brummte er in den Bart. »Ihr Wappenschild, ihr Stammbaum ist ihr eins und alles. Wenn nur das Wappen unbemakelt bleibt, gleichviel wie. Kalkuliere, es tat mir fast leid, daß ich die alte dumme Geschichte aufgerührt, leid um des Jungen willen, der mir zu 'nem rechten Gentleman das Zeug zu haben scheint. Ist aber, rechne ich, doch noch zu viel von dem alten Sauerteig in ihm. Sollte herausgearbeitet werden, der Sauerteig. Versäuert so was die tüchtigste Natur. Erkennt man das daran, daß der Junge um den alten Wurmfraß da in den Särgen lamentiert. Zum Teufel damit! Es wäre, kalkulier' ich, jammerschade, wenn so ein junges Blut in der abgestandenen Krautjunkern verkümmerte, ja, ja! Hm, wart mal, Achatius Twerenbold, rechne, du bist da auf der rechten Spur. Wollen sehen, was zu machen ist. Wird mir in den Bergen da doch ohnehin schier zu langweilig. Habe die Notion, ist ein Tag wie der andere. Keine Emotion, kein Affekt, zu simpel das für mich, auch gar nicht genteel, kalkulier' ich, schlechte Fashion. Muß ich eine tüchtige Portion Aufregung haben, um gesund zu bleiben – ist mir, so ein eintöniges Vegetieren störe die Verdauung. Rechne, war das dumm, daß ich die Sache mit der Rente so abgemacht; hätte wieder eine hübsche runde Summe fordern sollen. Ist ein langweilig Ding um so ein Monatsrentenleben. Das beste Eisen rostet dabei. Will aber nicht verrosten, bei Jove! Alles in allem war es, rechne ich, doch gut, daß ich dem Jüngelchen und der Gräfin in dem Hohlweg aufpaßte. War Weisheit in dem Wein, der mir das eingab und mir den Mund auftat. Der Kindersarg da und die Gräfin, die sollen zwei tüchtige Ziffern in meiner Rechnung abgeben, bei Jove, so sollen sie. Müssen aber das Eisen schmieden, solange es warm ist, ohne gerade die Arbeit zu übereilen. Solcher Stoff, wie der unsinnige Junker da, will mit der Zange der Behutsamkeit angefaßt sein.«

So bei sich rechnend und kalkulierend, schraubte Twerenbold den Deckel des Sarges wieder fest und schob diesen in die Mauernische zurück, in welcher er früher gestanden.

Robert beachtete das Tun des Abenteurers nicht, sondern setzte noch immer seinen unsteten Gang durch die Krypte und sein wildschweifendes Selbstgespräch fort.

»So um seinen Stolz betrogen zu werden,« klagte er. »So aus lichter Höhe in die schlammigste Pfütze geschleudert zu sein! Mit einem Schlag, mit einem Wort!– Vor dem elendesten Knecht, vor dem ehrlosesten Wicht die Augen niederschlagen zu müssen! – Aus dem stummen Mund eines Toten hören zu müssen, daß ich, der letzte Sproß eines Geschlechtes, dessen Ursprung in dem Dunkel der Vorzeit sich verliert, der Sohn eines – o Schmach und Trauer!«

Und ein gellendes Gelächter aufschlagend hub er zu singen an:

»Einen Fluch auf das stolze Grafenhaus:
In Schrecken und Schmach sollt' es löschen aus –
Doch die Wasser, ja die Wasser –

Nein, nein, kein Wasser, nicht der Ozean selber wäscht das ab, kein Feuer brennt es weg – oh, Fluch und Verdammnis!«

Der Jammer überwältigte ihn. Halb bewußtlos lehnte er sich an einen der Pfeiler, welche das Gewölbe trugen, und verbarg sein Gesicht in den Händen, während ein krampfhaftes, tränenloses Schluchzen seine Brust erschütterte.

»Sollte er übergeschnappt sein?« murmelte Twerenbold halb erschrocken. »Bei einer offenbar so tiefleidenschaftlichen Natur wäre, rechne ich, eine solche Fatalität nicht unmöglich. Ich kenne diese vornehmen Herren, welche gewohnt, das heißt, dressiert sind, das Walten der dämonischen Kräfte im Menschen unter glatten Manieren zu verbergen. Aber zuweilen strecken die Dämonen plötzlich lachend die Köpfe hervor – ist ein Fakt. – Herr Graf,« sagte er dann laut, »kalkuliere, der Mensch muß in allen Fällen Kontenance bewahren, der Mensch von Erziehung und Bildung, meine ich. Bloß dem dummen Haufen steht es an, außer sich zu geraten und sich rabiat zu gebaren. Vorbei ist vorbei, und alle Götter sämtlicher Mythologien können Geschehenes nicht ungeschehen machen.«

»Still!« versetzte Robert schneidend. »Unterstehen Sie sich nicht, mich trösten zu wollen.«

»So gefallen Sie mir. Selbst ist der Mann! Hatte auch gar nicht die Absicht, den Tröster zu spielen. Ist das Nonsens, kalkulier' ich. Wollte mir nur erlauben, Ihnen zu sagen, daß Sie ein Mann sein sollen.«

Augenscheinlich fand es der Abenteurer für gut, die ohnehin höchst gereizte Stimmung Roberts nicht noch höher zu spannen. Sonst hätte die schroffe Abfertigung, welche er erfahren, ihn wohl zu einer derberen Antwort vermocht.

Aber daß er durch seine Äußerungen dem jungen Manne seine Anwesenheit ins Gedächtnis zurückgerufen, das trieb Robert an, den Rest seines Stolzes aufzubieten, um diesem Menschen nicht schwach, fassungslos, verzweifelnd gegenüber zu stehen. Er rang mit dem Paroxysmus des Jammers, welcher ihn bewältigt hatte, und es war ein hartes Ringen. Wütende Gedanken schossen durch sein Hirn. Noch einmal bäumte sich in ihm die Versuchung auf, sich auf den Elenden zu werfen, um ihn zu erwürgen. Sein ganzes geistiges und sittliches Wesen war aus Rand und Band. Seiner Willenskraft gelang zwar eine Wiedereinrenkung, wenigstens eine äußerliche, aber welche Anstrengung sie ihm gekostet, verriet der Ausdruck seiner Züge, als er jetzt aus dem Dunkel wieder in den Lichtschein vortrat. Jede Muskel seines blassen Gesichtes war straff gespannt, die Lippen waren so stark gezogen, daß die Zähne dazwischen sichtbar wurden, und die Falte zwischen den Brauen hatte eine abschreckende Tiefe und Schwärze angenommen.

Als er zu Twerenbold herantrat, tat dieser unwillkürlich einen Schritt zurück, als erwartete er einen Angriff.

Robert bemerkte diese Bewegung und sagte mit verachtungsvoller Kälte:

»Fürchten Sie nichts! Sie werden mir das Unerhörte im Zusammenhang erzählen, nicht wahr? Ich kann und muß alles wissen.«

»Warum das?« entgegnete Twerenbold. »Ich dächte, die Erschütterung wäre für Sie groß genug. Als ehemaligem Arzt kommt mir vor, Ihr Nervensystem sei sehr irritabel. Warum so alte Geschichten ihrer ganzen Länge und Breite nach aus dem Staube der Vergessenheit hervorscharren? Kalkuliere, ist ein unnütz Ding.«

»Lassen Sie mein Nervensystem aus dem Spiele, es gehört nicht hierher. Ich will alles wissen, verstehen Sie?«

»Wohl, meinetwegen denn. Ich habe feste Nerven, ich, bei Jove! und Sie sollen Ihren Willen haben. Fühle mich auch ganz zum Erzählen disponiert und wollen wir, rechne ich, uns vorstellen, wir hätten mit einer Geschichte zu tun, die uns nur objektiv, sozusagen ästhetisch interessierte.«

Robert machte eine Gebärde der Ungeduld.

»Gut, gut,« sagte der Abenteurer gleichmütig. »Ich will den Novellisten spielen, so gut ich kann. Hat doch meine Erzählung viel von einer Dorfgeschichte, und diese sind ja, rechne ich, dermalen Mode in deutschen Landen. Aber wenn es Ihnen beliebt, wollen wir in die Kapelle hinaufgehen. Die abscheuliche Luft hier unten ist nicht nach meinem Geschmack, und war die Grüfte- und Kirchhofsromantik mir jederzeit zuwider. Zudem sind wir, wie Sie bereits wissen, da droben auf dem Schauplatz der eigentlichen Katastrophe.«

Der junge Mann gab keine Antwort, sondern stieg ohne weiteres die Treppe hinan. Twerenbold folgte ihm und legte rasch die Deckplatte über die Öffnung.

Robert hatte sich in einen der kunstreich geschnitzten Chorstühle geworfen. Der Abenteurer warf einen forschenden Blick in der Kapelle umher, ging nach der Türe, um sich zu vergewissern, daß dieselbe noch immer von innen wohlverschlossen sei, kam dann zurück, setzte sich dem jungen Mann gegenüber in einen andern Chorstuhl, versah seine Backenhöhle mit Kautabak, legte das eine Bein gemächlich über das andere und Hub nach diesen Vorbereitungen zu erzählen an, wie folgt.


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