Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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5. Zwei Briefe.

Thekla an Hedwig.

Der Frühling ist in seiner vollen Herrlichkeit aufgegangen, diesmal früher, als es sonst hier in den Bergen der Fall zu sein pflegt. Nun ist es schön hier oben, sehr schön, und ich bedaure dich von Herzen, daß du in der dumpfen Stadt mit ihrem Staub und ihrem verwirrenden Getöse eingesperrt sein mußt. Wie wäre es, wenn du dich entschließen würdest, für einige Tage oder Wochen heraufzukommen? Freilich, du fürchtest das Landleben, aber ich kann dir Unterhaltung versprechen. Vorgestern nämlich ist mein – des Grafen Nepomuk Sohn angekommen, der nur vier oder fünf Jahre älter ist als seine Stiefmama. Er liebt die Berge, weiß einen Kahn zu führen und von Italien zu erzählen, ohne daß man merkt, er habe das Land als Offizier gesehen. Ich glaube, du würdest ihn liebenswürdig finden, schon um des Kontrastes zu deinem eigenen Naturell willen, denn das seinige scheint, soweit eine so kurze Bekanntschaft mir ein Urteil gestattet, mehr dem Ernst als der Heiterkeit sich zuzuneigen.

Ich bin fast den ganzen Tag draußen gewesen. Eine seltsame Rastlosigkeit treibt mich aus den Zimmern. Was ich früher in Dichtern von Frühlingsunruhe gelesen, erfahre ich seit einigen Tagen an mir selber. Ich vermag gar nicht stillzusitzen. Selbst mein liebes Turmgemach, in welchem ich so zufrieden den Winter verträumte, kommt mir beklemmend eng vor. Meine stillen Freunde, die Bücher, wollen auch nicht beruhigend wirken. Schlage ich sie auf, ist mir, als sähe ich nur öde graue Papierflächen vor mir und vernähme ein monotones Gähnen. Du wirst lachen und sagen: Das hat man davon, wenn man von Büchern etwas erwartet. Aber hat man denn von den Menschen etwas zu erwarten? Du freilich, liebe Hedwig, scheinst keine Ursache zu haben, dich über sie zu beklagen.

Weißt du noch, wie oft wir im Kloster mitsammen das Uhlandsche Lied: Frühlingsglaube, gesungen? Ich stand heute abend lange droben auf dem Wartturm der Ruine und sah in all die Blütenpracht hinein. Da fiel mir das Lied ein, an das ich lange nicht mehr gedacht.

O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.

Was für luftige Phantasien haben wir vorzeiten an diese Worte angesponnen, wir törichten Kinder! Doch ich vergesse, du bist ja glücklich, scheint es wenigstens, und ich – nun, ich wüßte eigentlich nicht, was mir fehlte. Immer noch besser hier, angesichts der freien Natur, als in dem verhaßten Kloster. Denk' ich dran, wie meine junge Seele dort gepeinigt wurde, so muß ich noch jetzt in Tränen des Zorns ausbrechen.

Ja, es ist besser so. – Wenn nur die quälende Hast und Unruhe nicht wäre! Da ist mir, als triebe es mich fort von hier, unermeßlich weit fort – und doch – aber halte mich nicht für krank. Ich bin ganz gesund. Doch warte, ich erinnere mich, gehört zu haben, daß die Ahnung einer bevorstehenden schweren Krankheit oft in der Form des Reisedranges auftrete. Was meinst du dazu?

In die weite, weite Welt zu gehen, wie muß das entzückend sein! sagtest du zu mir, als dein Bruder Adalbert von dir Abschied genommen, um seine Reise in den Orient anzutreten. Du scheinst nicht mehr daran zu denken, seit du dich in den Zirkeln der Hauptstadt heimisch gemacht hast. So lernt man sich bescheiden. Was mich betrifft, ich habe die Flügel noch bälder und dichter eingezogen als du und mich recht zufrieden ins Nest der Resignation geschmiegt. Sonderbar, daß es mir jetzt so eng vorkommt. Sicherlich, der Frühling ist daran schuld; er blüht so üppig und lockend, seine süßen Lüfte umspielen mich so schmeichelhaft und flüstern mir zu: Hinter den Bergen liegt ein Glück, dir ungeahnt, unnennbar, unermeßlich. Komm mit fort in die weite, weite Welt!

Aber was soll ich dort? Was könnte ich finden? Finden! Weiß ich denn, was ich suchen möchte?

Nein, mir ist wohl hier, sehr wohl und dieser plötzliche, unklare Wandertrieb ist nur eine alberne Einbildung. Habe ich doch diesen Winter so viele Reisebeschreibungen gelesen. Robert – dies ist der Name des jungen Grafen – Robert hat eine Reise nach Amerika vor. Dennoch warf er heute die Bemerkung hin, die unleugbare Tatsache, daß die Menschen heutzutage immer mehr das Heimatgefühl verloren, scheine ihm eins der bedeutendsten Symptome einer ungeheuren, unwiderstehlichen Umwandlung aller sozialen Verhältnisse zu sein.

»Wie,« fragte ich, »Sie glauben an diese Umwandlung?«

»Warum sollt' ich nicht, da dieselbe vor meinen Augen von Tag zu Tag vorschreitet? Nur ein Mensch, welcher nicht im Besitz seiner fünf Sinne ist, kann sich verhehlen, daß es mit aller Romantik zu Ende geht.«

»Sie sehen mich in Erstaunen.«

»Warum?«

»Weil ich Sie gestern einer von Ihnen getanen Äußerung zufolge für einen geschworenen Aristokraten hielt.«

»Das bin ich auch. Macht denn etwa bloß das Nichthören und Nichtsehen den Aristokraten? Hat nicht jede Zeit ihre Aristokratie? Ist nicht jeder gebildete Mensch, jeder sogar, der sich um Bildung redlich bemühte, ein Aristokrat?«

»Sie wollen sagen, ein Verächter des großen Haufens und seiner Meinungen, nicht?«

»Ja, und noch mehr, denn wer den großen Haufen verachtet, wird denselben in geziemender Entfernung von sich zu halten wissen und nicht dulden, daß derselbe eine gewisse Grenzmarke überschreite.«

Sag mir, liebe Hedwig, was hältst du von diesem aristokratischen Bekenntnis? Der Herr Graf schien nicht ganz zufrieden damit. Er meinte, die jungen Leute bildeten sich jetzt auf Umwegen Ansichten und Grundsätze, welche sich früher aus der Annahme althergebrachter Standesbegriffe von selbst ergeben hätten.

Der Herr Graf! Du wunderst dich sicherlich, daß ich von ihm spreche. Es ist mir dies schon lange nicht mehr begegnet.

O, Hedwig, ist es nicht entsetzlich, sich täglich, und wäre es auch nur für eine Stunde, einem Menschen gegenübersehen zu müssen, dessen Anblick die tiefste Herzenswunde immer wieder aufreißt? Könnte ich nur vergessen! Vergessen, daß mein Eigenstes, Bestes in den Staub getreten, vor mir selbst erniedrigt wurde, von diesem, diesem – die Sprache hat kein Wort, welches in die Tiefe meines Abscheus hinabreichte.

Du wirst Mitleid mit mir haben, wenn du inmitten deiner Feste und Freuden an jene Stunde zurückdenkst, wo mir mein Vater den Grafen als meinen Bräutigam vorstellte und ich Unglückliche wähnte, ihn wenigstens achten zu können. Er spielte sein Spiel so fein – ach, es hätte gegenüber einem kaum achtzehnjährigen Mädchen solcher Feinheit nicht bedurft, gegenüber einem Mädchen, welchem man nur zwischen dieser Heirat und dem Nonnenschleier die Wahl ließ. Auf der einen Seite der Vater, welcher mit marmorner Ruhe und Entschiedenheit zu mir sagte: »Ich habe Verpflichtungen gegen den Herrn Grafen von Wippoltstein, der dir die Ehre antut, um deine Hand zu werben, und die Töchter unseres Hauses haben sich nie unterstanden, dem Wohlmeinen ihrer Väter entgegen zu handeln« – auf der andern die fanatische Äbtissin, auf mich rebellische Ketzerin als auf ein ersehntes Opfer ihrer frommen Wut blickend – war es da ein Wunder, daß ich nach der Hand des Grafen griff? Es war nicht die Hand einer Mutter da, welche die meinige zurückgehalten hätte. Glückliche, du hattest eine Mutter, hast sie noch!

Ich las einmal, ich weiß nicht mehr, in welchem Schriftsteller des Altertums, den Satz: »Ein Weib liebt oder haßt, es gibt kein Drittes.« Das scheint mir unwahr. Zwischen Liebe und Haß mitten inne liegen unendlich viel Nüancen der Zuneigung oder Abneigung. Da ist zum Beispiel die Verachtung. Oder sollte sie nur eine Form des Hasses sein? Hasse ich den Grafen, während ich ihn nur zu verachten glaube?

In einem Zimmer des Schlosses hängt eine Kopie der Judith des Horace Vernet. Du kennst das Bild. Ich muß oft davor stillstehen. Heine hat vorzeiten das Original im Louvre beschrieben. »Süße Wildheit, sentimentaler Grimm rieselt durch die Züge der tödlichen Schönen. Besonders in ihren Augen funkelt Grausamkeit und die Lüsternheit der Rache.« Warum wollen diese Worte mir nicht aus dem Sinn? »Denn sie hat auch den eigenen beleidigten Leib zu rächen an dem häßlichen Heiden.« O, nicht nur den Leib, nicht nur den Leib! Auch die Seele! Leib und Seele! War ich nicht rein und gut und fromm? Was hatte ich den Menschen getan, daß sie mich einem Elenden als schnellvernutztes Spielzeug hinwarfen?

Und doch – ich will nicht ungerecht sein. Der Pfarrer Frieding, ein Priester von wahrhaft menschlichem Charakter, wie mir nur je einer begegnet ist, ein Mann, welcher die glückliche Gabe besitzt, alles in tröstlichem Lichte zu sehen, pflegt zu sagen, absolut schlechte Menschen gäbe es gar nicht, denn selbst der verworfenste habe immer noch einen guten Zug in seinem Wesen. Ich bestritt das bisher, bin aber jetzt fast geneigt, beizustimmen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, der Graf liebt noch etwas außer sich, seinen Sohn. Ja, er ist ihm lebhaft zugetan. Wohl oder übel, ich muß an das Unglaubliche glauben. Allerdings gebe ich nur das Walten des natürlichen Instinktes zu, allein natürliche Instinkte müssen gewissen Leuten schon als Verdienste angerechnet werden.

Da fällt mir ein, Robert hat den Winter in der Hauptstadt zugebracht. Gewiß ist er dir in deinen Kreisen begegnet und hast du ihn kennen gelernt. Willst du mir einiges von ihm vorplaudern? Es würde mich interessieren, wenn es dir keine Mühe macht. Da er, wie ich höre, den Sommer über hier bleiben und also gewissermaßen mein Gesellschafter sein wird, so begreifst du, daß ich wissen möchte, was für eine Art Mensch er ist. Die Schärfe deiner Beurteilungsgabe kenne ich noch von alters her.

Der Mann zarter Rücksichtnahme scheint er nicht zu sein. Ich sah ihn heute früh mein Pferd durch den Park tummeln und dem Tier allerlei Halsbrechendes zumuten. Er hätte mich doch wohl erst um Erlaubnis fragen sollen. Das Pferd ist ein Geschenk meines verstorbenen Bruders Dagobert, und ich halte schon um des Gebers willen viel darauf. Auch ist es so feurig und klug zugleich und ich bilde mir ein, es liebe mich. Doch das ist ja eine ganz kindische Geschichte und mein Ärger darüber recht –

Albern wollte ich sagen, unberechtigt aber muß ich jetzt sagen, denn soeben bringt mir Berdoa ein Billett von meinem Herrn – das garstige Wort Stiefsohn will mir nicht aus der Feder – von Robert, worin er mich in gewinnendster Weise um Verzeihung bittet für einen Mißgriff, welchen er, wie er sagt, sicherlich nicht begangen hätte, wenn die Stallbedienten ihm auch nur den leisesten Wink gegeben hätten, »daß der Goldfuchs die Ehre habe mich zu tragen«. Siehst du, der Herr Rittmeister kann galant sein! Und nun lebe wohl und laß mich bald von dir hören.

Hedwig an Thekla

Aber um's Himmels willen, was für einen Heuschreckenbrief hast du mir geschrieben! Das springt und wimmelt durcheinander, setzt an und bricht wieder ab, vorwärts, rückwärts, nach allen Seiten hinaus. Schäme dich, Thekla, du, welche in dem Klosterpensionat um ihres deutschen Stils willen berühmt war und uns flatterhaften Dingern allen durch ihr logisch-methodisches Denken und Sprechen und Schreiben so tiefen Respekt einflößte. Ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, daß einmal einer der alten oder jungen Pedanten, die sich mit Bücherschreiben abgeben, gesagt habe, der Mensch sei wie sein Stil. Nun, siehst du, wenn das wahr ist, so mußt du dermalen in einer wunderlichen Verfassung sein.

Ich weiß auch gar nicht, was ich aus deiner vertrackten Epistel machen soll. Nimm's nicht übel, hörst du?

Du ladest mich in deine Berge ein. Gehorsame Dienerin! Ich hielt nie etwas vom Landleben, die Langeweile desselben verdirbt den Charakter. Das sehe ich jetzt ganz deutlich an dir, denn deinem Brief zufolge bist du gar nicht mehr die, welche du noch vor kurzem gewesen. Das hat man davon, wenn man sich in einem Schloß in den Bergen vergräbt und ennuyiert. So ein Schloßfräulein oder eine Burgfrau, die mit Mond, Sternen und Blumen konversiert, die Rehe im Park zähmt, morgens die Hühner füttert, abends als soeur grise die Wohnungen der Dörfler nach Kranken durchstöbert oder in sonstiger ländlich-sittlicher Romantik ihre noblen Sentiments kultiviert, sie waren mir schon in den Romanen herzlich zuwider, welche wir in unseren Backfischjahren lasen. Das ist lauter albernes Zeug, und wenn neuestens wieder die tugendsame Unnatur einer lang' aufgewärmten Mittelalterlichkeit in den Salons literarische Mode wird, so bin ich wenigstens nicht Heuchlerin genug, diese Mode mitzumachen. Ich bin schon auf den ersten Seiten des fadsüßlichen Breis der Minnesängerei von der semmelblonden Amarant stecken geblieben, oder vielmehr ich schwippte mir diesen Brei resolut von den Fingern und lache unverhohlen über die alten und jungen Koketten, welche derartigen Quark zu goutieren sich den Anschein geben. Glaube aber nicht, liebe Thekla, ich wollte dir die Beleidigung antun, dich für eine angehende Amarant oder eine andere dergleichen Tragantfigur zu halten. Dazu bist du mir viel zu gut und zu lieb. Aber ich fürchte, du möchtest in deiner romantischen Wald- oder Bergeinsamkeit allmählich die Fähigkeit einbüßen, das Leben zu nehmen, wie es ist, das heißt, es nach Möglichkeit auszubeuten und zu genießen.

Um dich jedoch über die Verworrenheit deines Schreibens recht zu beschämen, will ich mir Mühe geben, dasselbe ganz methodisch, Punkt für Punkt, zu beantworten.

Was du mir von der Frühlingsunruhe sagst, welche dich quäle, vermag ich nicht recht zu fassen. Es muß eine Landkrankheit sein, entsprungen aus dem Schrecklichsten, was den Menschen peinigen kann, aus der Langweile. Glaube mir, du bist viel zu jung, um so ein monotones Leben zu ertragen, wie du es seit deiner Verheiratung geführt hast. Hättest du diesen Winter so viel getanzt wie ich, ich schwöre dir, du würdest dich jetzt eher über Mattigkeit als Ruhelosigkeit zu beklagen haben.

Die Bücher beginnen dich anzuekeln? Gottlob! Denn das scheint mir ein vortreffliches Zeichen. Du wirst dich nun wohl mehr dem Leben und der Gesellschaft zuwenden. Statt mich zu dir einzuladen, komm' du lieber zu mir. Steige herab aus dem Hochgebirge deines Idealismus in die Realität der Beletage meines Palais. Da wirst du Menschen finden, Menschen, wie unsere Zeit sie eben bietet, und ich meine, sie seien im Grunde weder schlechter noch besser als die aller Zeiten. Man hat allerdings etwas von ihnen zu erwarten, jawohl, wenn man jung, hübsch und gescheit ist wie wir. Nur muß man seine Erwartungen auf realistischen Fuß einrichten. So tat und tue ich und ich preise mein Geschick, daß es mich vor allen idealistischen Anwandlungen gnädig bewahrte, wenigstens seit ich in das wirkliche Leben eingetreten bin. In dasselbe die närrischen Phantasien mit herüberzunehmen, womit wir uns im Kloster unterhielten, davor hab' ich mich wohl gehütet.

Und gerade darum, siehst du, hast du nicht unrecht, wenn du mich für glücklich hältst. Es lebe der Leichtsinn, es lebe die Leidenschaft! Diese zwei gehörig miteinander wechseln zu lassen, das macht das Glück einer Frau. Deshalb hab' ich auch das von dir zitierte Uhlandsche Lied nicht vergessen, und gar oft trällere ich: »Nun muß sich alles wenden!« Dazu braucht es aber nicht gerade Frühling zu sein. Die Wendungen, welche ich meine, lassen sich zu jeder Jahreszeit ausführen und an jedem Orte, wo sich Leute von Welt befinden. So streb' ich denn auch keineswegs in die weite, weite Welt hinaus. Das Reisen bringt Beschwerlichkeiten und Inkonvenienzen mit sich, welche durch die Genüsse, die es bietet, durchaus nicht aufgewogen werden, in meinen Augen wenigstens nicht. Aber daß du hinter deinen langweiligen Bergen etwas suchen möchtest, das glaub' ich dir gerne. Und weißt du, was? Ich will es dir sagen: Du suchst, was du noch nicht kennen gelernt und was in das Leben eines jungen Weibes schlechterdings gehört: den Enthusiasmus, die Ekstase, die Raserei der Leidenschaft.

O, Thekla, tauche dich in ihr Glutbad, damit du erfahrest, was Leben heißt und lieben und genießen.

Aber du bist kühl und keusch und streng, Diana der Berge, du! Du philosophierst, statt zu leben.

Ein junger Mann, hübsch, männlich, gebildet, nebenbei Husarenoffizier, kommt in deine Einöde, und du weißt nichts Besseres zu tun, als mit ihm über soziale Symptome und Verhältnisse, über Aristokratie und Standesbegriffe zu disputieren – ciel! Da hört alles auf.

Glaube nur nicht, daß ich mich in derartige langweilige Untersuchungen werde hineinziehen lassen. Ich mache mir weder über Demokratie noch über Aristokratie Gedanken. Im Schoße der letzteren bin ich geboren und erzogen und lebe ich, folglich begnüge ich mich damit, meine Stelle als vornehme Dame gehörig auszufüllen. Möglich, daß ich später, wann ich nicht mehr schön sein werde – abscheuliche Aussicht! – in Ermangelung besserer Unterhaltung an politischen Intrigen Gefallen finden werde. Für jetzt noch schiebe ich Derartiges, wenn ich es zuweilen auf meinem Wege finde, verächtlich beiseite.

Mit großem Bedauern vernehme ich, daß du dein Verhältnis zu deinem Gemahl noch immer nicht gehörig zu arrangieren verstandest. Du hast von Anfang an die ganze Sache viel zu tragisch genommen und nimmst sie offenbar noch jetzt so. Wer wird denn von Haß und Vernetschen Judithen und anderen dergleichen verzweifelten Dingen sprechen? Gewöhne dir das doch ab! Es ist wahr, man hat dir einen ältlichen, sehr ältlichen Gecken zum Mann aufgedrungen, dir, welche – ohne Kompliment! – des prächtigsten und liebenswürdigsten Kavaliers im ganzen Reiche würdig gewesen wäre. Aber, ma chère, wir leben in einer Region der Gesellschaft, welche so viel vor den übrigen voraus hat, daß sie sich etwelche Unannehmlichkeiten schon gefallen lassen muß, um nicht gar zu übermütig zu werden. Siehst du, auch ich kann philosophieren, wenn es sein muß. Gewiß, wärest du nicht die beste Freundin von der Welt, du hättest dazu kommen können, mich zu beneiden, wenn du deinen Bräutigam mit dem meinen verglichest. Und doch sage ich dir, daß du zum Neide nicht lange Ursache hattest. Im Anfang meiner Ehe freilich, da war alles »himmelhochjauchzend«. Der Fürst und ich spielten das Hohelied der Liebe in allen Tonarten durch. Als wir aber damit zu Ende waren und das Spiel satt hatten, da sind wir ehrlich und gescheit genug gewesen, es uns gegenseitig zu gestehen. Aus diesem Geständnis ergab sich ein Übereinkommen, wie man es für beide Teile nicht bequemer wünschen konnte und kann. Der Fürst und ich sind aus Liebesleuten die allerbesten Freunde geworden. Du solltest sehen, wie wir bemüht sind, uns gegenseitig die Befriedigung unseres gemeinschaftlichen Bedürfnisses, frei zu sein, zu leben, zu lieben, zu genießen, auf alle Art und Weise zu ermöglichen. Nie kommt eins dem andern ungeschickt in den Weg; unser großes Haus hat Raum genug für uns beide. Man muß sich nur einzurichten wissen. Der Fürst ist für mich voll der zartesten Rücksichten. Er war es, der in tunlichster Weise mein Verhältnis zu dem ungarischen Magnaten zu lösen wußte, als es mir anfing lästig zu werden; er war es, der meine Bekanntschaft mit dem spanischen Granden vermittelte, welcher in diesem Augenblick mein Glück macht. Es versteht sich, daß ich dankbar bin und auch meinerseits das Behagen eines so liebenswürdigen Eheherrn nach Kräften fördere. Das ist nun freilich nicht romantisch, ich gebe es zu, aber dafür desto komfortabler. Die Ehe ist kein Institut der Poesie, der Romantik, sondern der gesellschaftlichen Konvenienz. Soll man sich von dieser tyrannisieren lassen? Das kann und tut nur ein gemeiner Sinn. »Die Ehe,« sagte mir eines Tages der Fürst, »ist einer der Ecksteine des sozialen Gebäudes, und wir, die wir die wärmsten und lichtesten Räume desselben bewohnen, werden uns wohl hüten, so einen Eckstein wegzuschaffen. Aber,« fuhr er fort, »soll man sich darum etwa die Schienbeine oder die Wagenräder daran zerstoßen und zerbrechen? Mit nichten, man umgeht oder umfährt ihn.«

War das nicht allerliebst gesagt, Teuerste? Freilich, du in deiner Ländlichkeit wirft das alles vielleicht frivol finden. Ich habe nichts dagegen, im Gegenteil, ich sage selber: Es ist frivol. Qu'importe? Leben wir etwa in einer Welt der Ideale, in einer Welt der Tugend? Hm, das bildest auch du dir gewiß nicht ein. Ich meinesteils will lieber frivol mitlachen und mitgenießen, als mich tugendhaft langweilen oder grämen. Und wähne nur nicht, daß ich Leichtfertige nie die häßlichen Hefen beachtet, welche auf dem Grund des Lebens lasten. Allein ich hüte mich wohl, sie aufzurühren und begnüge mich, den Schaum der Oberfläche zu schlürfen, solange sie mir schäumt. So lebe ich mit mir selbst, mit dem Fürsten, mit der Gesellschaft, mit aller Welt im besten Vernehmen.

Dein Pfarrer Frieding hat ganz recht: an jedem Menschen läßt sich eine gute Seite auffinden. Man muß nur zu suchen verstehen und sich nicht von vornherein durch die idealistische Brille das Finden unmöglich machen. Warum du dich durch die Vernetsche Judith und Heines romantische Variationen über dieses Thema oder auch durch deine eigene Erinnerung zum Haß gegen den Grafen gestachelt fühlst, das geht, offen gestanden, über meinen Horizont. Solche Stimmungen sind, wenn ich die Sachen verständig ansehe, Resultate transzendentaler Schrullen oder wahrscheinlicher noch Ausdünstungen des infamsten Ennuy. Der Graf wollte sich divertieren, was weiter? Warum ahmtest du sein Beispiel nicht nach und divertiertest dich ebenfalls? Ich bin gewiß, er hätte sich mit bester Manier darein gefunden und von Verachtung oder Haß wäre überall keine Rede.

Etwas doch gibt mir Hoffnung für dich: die Art und Weise, wie du in deinem unzusammenhängenden und abspringenden Briefe deines – deines neuen Hausgenossen gedenkst. Er ist, was dir freilich nicht recht klar sein mochte, der rote Faden, welcher deine Epistel zusammenhält. Sollte er vielleicht auch bei deiner poetischen Frühlingsunruhe und bei deinem Reisedrang mit im Spiele sein?

Aber statt dich mit dummen Fragen zu belästigen, will ich dir lieber den Gefallen tun, dir, wie du gewünscht, einiges über den jungen Herrn vorzuplaudern. Es ist freilich nicht viel, denn wie man sagt, geht Graf Robert nur mit festzugeknöpftem Frack in Gesellschaft.

Er war den Winter über einer der hiesigen Löwen. Seine Bravour in Italien hatte ihm die günstigste Aufnahme in den Zirkeln der Hauptstadt bereitet. Militärisches Verdienst ist das, welches man dermalen am meisten schätzt, und zwar aus guten Gründen. Ich sah ihn oft. Sein Auftreten war fest und ruhig, ruhiger vielleicht und bescheidener, als einem jungen Husaren ansteht, der so schöne Erfolge gehabt. Ich gestehe, er interessierte mich sehr, und wenn mein zärtliches Herz nicht gerade anderwärts vollauf beschäftigt gewesen, hätte ich wohl den Versuch machen mögen, zu erfahren, ob der junge Held jenseits der Alpen nicht nur fechten, sondern auch lieben gelernt habe. Doch nein, er war nicht recht nach meinem Geschmacke, denn ich goutiere weit mehr das heitere als das ernste Genre, und kam mir dieser Robert vor, als sei er viel mehr geeignet, eine Tragödie in Szene zu setzen, denn eine Komödie à la Goldoni oder eine Novelle à la Casti mit sich durchspielen zu lassen. Aber er hatte an sich etwas bezaubernd Frisches, Unberührtes, Jünglingshaftes. Eine vielerfahrene Dame sagte mir eines Abends, der junge Mann gemahne sie an einen Pfirsich, auf welchem noch der unberührte duftige Flaum liege. Wohl, meinte eine Ambassadrice dazu, aber der Pfirsich sieht aus, als wäre er innen ziemlich herb und säuerlich. Vielleicht sprach sie so von ihm wie Reineke von den Trauben. Tatsache ist, daß die Medisance nichts von ihm zu erzählen wußte. Er hatte keine Abenteuer. Es wurde nach ihm geangelt von sehr schönen und sehr geschickten Händen und mit den lockendsten Ködern, aber er biß nicht an. Er schien sich in der Gesellschaft augenscheinlich zu langweilen, und man sah ihn teilnahmelos durch die Salons schlendern. Da hieß es denn, er habe sein Herz an eine schöne Lombardin verloren, allein einer seiner Kameraden, der ihn genau kennt, sagte, davon sei keine Rede. Graf Wippoltstein habe in Italien einzig dem Dienste und in Stunden der Ruhe seinen Studien gelebt. Er sei ein bißchen Sonderling, ein bißchen stark, und gebe sich nicht große Mühe, seine Ansichten denen der übrigen Menschen anzupassen; übrigens ein vortrefflicher Junge, wenn auch zurückhaltend und stolz. Von seinen Talenten scheint man höheren Ortes eine sehr günstige Vorstellung zu haben. Ich höre, man hat ihm sehr schöne Anerbietungen gemacht, um ihn zum Eintritt in die diplomatische Karriere zu bewegen. Er habe sie abgelehnt, und er soll sich bei einem gelegentlichen Gespräch mit dem Orakel unserer Politik über gewisse Affären sehr dezidiert und keineswegs diplomatisch ausgedrückt haben, sogar antirussisch, und das ist jetzt hier die achte Todsünde, sündhafter als alle sieben übrigen zusammengenommen. Eine Bekannte, die sich pikiert, die Politikerin zu spielen, teilte mir mit, Graf Wippoltstein sei ein erklärter Bewunderer Englands und der Engländer, was doch, setzte sie hinzu, für einen Mann in seiner Stellung eine vollständige Abnormität.

So, da hast du, was ich weiß. Falls – doch da kommt mein Freund. Behalte mich lieb und vertreibe dir die Zeit, so gut du kannst.


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