Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Vor fünfzig Jahren und jetzt.

Der Pfarrer saß mit seinen Besuchern in der Geisblattlaube seines Gartens, welche, nach der Südseite zu offen, einen Ausblick auf den im Abendsonnenschein funkelnden Spiegel des Sees und das gegenüberliegende Gebirge gestattete.

Der Greis trug seine sechsundsiebzig Jahre mit Rüstigkeit. Seine hohe, hagere Gestalt war nur unmerklich gebeugt, und sein wohlgeformter Kopf mit dem gesund rötlichen, von langen, weißen Haaren eingerahmten Gesicht saß aufrecht auf den Schultern. Sein mildes blaues Auge hatte den seltenen Vorzug, daß es den Glanz seiner Iris selbst jetzt noch ungeschwächt bewahrte, einen Vorzug, welchen man bekanntlich auch an dem Auge Friedrichs des Großen bis zu dessen Tode bemerkte.

Bücher und Papiere lagen auf dem Tisch. Frieding hatte eifrig schreibend den Nachmittag verbracht und die Feder erst weggelegt, als er seine Gäste herzlich begrüßte. Die alte Urschel hatte dieselben durch den Garten gehen sehen und brachte Butter, Honig und Schwarzbrot herbei. Auch eine Flasche Wein zum Vesperimbiß fehlte nicht, denn der würdige Priester gehörte auch darin zur alten Schule, daß er bei jeder Gelegenheit ganz offen behauptete, das Wasser sei ganz vortrefflich zum Kochen, Waschen und Baden, der Wein aber zum Trinken. Die Kanzlisten der Rentei hatten sogar die Sage in Umlauf gesetzt, der Pfarrer habe vor einiger Zeit einen vagierenden Harfenspieler, welcher den »Vater Noah« von Kopisch als musikalische Neuigkeit nach Wippoltstein gebracht, eine ganze Woche lang im Pfarrhaus beherbergt und traktiert. So unbändig hätte ihm das Lied gefallen. Einer dieser Mythenbildner ging noch weiter und behauptete, er hätte mit eigenen Ohren gehört, wie Seine Hochwürden in seinem Studierzimmer bei offenem Fenster mit ebenderselben noch ganz sonoren Baßstimme, womit er das Hochamt zu singen pflegte, frischweg angestimmt: »Als Noah aus dem Kasten war –«

Den gelehrten Apparat auf dem Tische überblickend, sagte die Gräfin, welche wohl wußte, daß der alte Herr eine gutmütige Neckerei über seine Lieblingsbeschäftigung nicht ungerne hörte:

»Ah, liebster Freund, wieder einmal tief in der patriotisch-mythologischen Arbeit? Da müssen wir wohl vor allen Dingen um Verzeihung bitten, daß wir an die Stelle ihrer Gesellschaft von Göttern und Heroen unsere eigene profane setzen?«

»Ihre profane, meine Gnädigste?« versetzte der Pfarrer, die beiden Hände, welche ihm die schöne Frau hingereicht, in den seinigen drückend. »Wie, ist es denn nicht schon lange unter uns ausgemacht, daß Sie für mich Holda sind, die Holda unserer Altvorderen, die freundliche, gnädige, hilfreiche Göttin und Frau?«

»Da sehen Sie, Robert,« sagte die Gräfin lachend zu ihrem Begleiter, »daß es mir in diesen Bergen nicht an einem galanten Anbeter fehlt.«

Der junge Mann fühlte sich von der friedlichen und heiteren Atmosphäre, welche sein alter Lehrer um sich verbreitete, wohltuend berührt, sozusagen angeheimelt, denn das Pfarrhaus war in seinen Knabenjahren seine eigentliche Heimat gewesen.

»Ich sehe,« bemerkte er lächelnd, »daß die über alle Maßen gewissenhafte Gelehrsamkeit meines teuren Lehrers und Freundes ihm noch immer nicht gestattete, sein großes Opus zum Abschlusse zu bringen. Ich wette, es ist während meiner Abwesenheit um manches Kapitel voll schwerwiegender Argumente gewachsen, und bin überzeugt, daß der Abschnitt über die Göttin Holda inzwischen eine totale Umarbeitung erfahren hat.«

»Spottest du, tapferer Husar?« entgegnete der Pfarrer voll guter Laune. »Da sieht man, wie im Feldlager den jungen Leuten der Respekt vor ihren Schulmeistern vergeht. Ich wundere mich, daß mir der Herr Rittmeister nicht schon verbot, ihn anders als mit Sie oder Euer Gnaden anzureden.«

»Nein, darüber wundern Sie sich nicht.«

»Meinst du? Ja, wenn du mich so ansiehst, mit den Augen deiner seligen Mutter und ganz wie vorzeiten, so wollen wir's einstweilen bei der alten Anredeform lassen.«

Ein Schimmer der Befriedigung und Freude fuhr über die Gräfin, als sie den jungen Mann in der Haltung unverkennbarer Achtung und Liebe vor seinem ehemaligen Lehrer stehen sah. »Nun kommt, meine Freunde,« sagte der Pfarrer, »Wir wollen vespern, und wenn mir Robert verspricht, den Abschluß meines Opus in Geduld zu erwarten, so will ich ihm nicht verschweigen, daß ich neuestens vielfachen Verdruß damit gehabt habe.«

Er hielt inne, fuhr aber nach einer kurzen Pause fort, weil ihm die Blicke seiner Gäste zeigten, daß er keinen Anstand nehmen müsse, sein Steckenpferd zu tummeln:

»Es ist eine ärgerliche Geschichte. Grimm ist nun einmal die erste Autorität in dieser Sache, und da war es doch natürlich, daß ich mich vor allen Dingen mit ihm zu verständigen suchte. Nun dauert das Hin- und Herschreiben schon mehrere Jahre, ohne daß ein Resultat erzweckt wurde. Es kam darauf an, dem großen Forscher klar zu machen, daß hier, gerade hier in diesen Bergen der Kultus des Thor oder Donar in großem Ansehen gestanden. Hunderte von Beweisen dafür habe ich mühselig gesammelt. Aber Grimm will dessenungeachtet nicht einsehen, daß dieser Kult so weit nach Süden sich erstreckte. So weit! Was ist denn so weit? Sollen ein paar Dutzend Meilen mehr oder weniger weit ein ganzes Bündel schlagender Beweise aufwiegen? Mitnichten. Gebt mal acht, liebe Freunde. In Westfalen findet sich unweit Marburg ein Donnersberg, das ist ein Berg des Donar, in der Rheinpfalz, nahe bei Worms, ebenfalls ein Donnersberg; ebenso trifft man in Hessen und Bayern auf Ortsnamen, welche, wie jene Bergnamen, Grimm als sichere Spuren von Donarkult gelten läßt. Auch gibt er selbst zu, daß solche Spuren noch weiter südwärts vorkommen, indem er in seiner deutschen Mythologie nach einer Urkunde bei Johannes von Müller einen Donnerbühel im Kanton Bern zitiert. Nun haben wir hier zu Wippoltstein einen Donnerbach, einen Donnerfall, eine Donnerklippe, alles aufs schönste beisammen. Man könnte es gar nicht besser treffen. Auf der Donnerklippe, das ist auf dem Felsvorsprung, welcher, über dem untersten Sturz unseres prächtigen Katarakts gelegen, den besten Überblick des gesamten Schauspiels gewährt, hat noch im vorigen Jahrhundert eine kolossale Eiche gestanden, geheißen die Donnereiche. Ich habe dafür urkundliche Beweise. Unter dieser Eiche, das scheint mir unzweifelhaft, haben unsere Altvorderen dem Donar geopfert. Sie war, wie die ganze Stätte umher, dem Gotte geweiht. Genügt das alles noch nicht? Nun wohl, ich weiß noch mehr. Die alte Lore da drüben in der Einsiedelei – sie ist ein apartes Stück von einem Weibsbild, und ich traue ihr nicht so recht, obgleich die Späße, welche sie mit den jungen Burschen und Dirnen treibt, welchen das Herz wehtut, mir ganz harmlos vorkommen. Aber das muß ich ihr nachrühmen, sie hat mir bei meinen Untersuchungen schon oft die beherzigungswertesten Winke gegeben. Ihr Gedächtnis steckt voll alter Lieder und Sagen. Dadurch ist sie für mich eine wahre mythologische Fundgrube geworden. Nun, meine Freunde, gebt acht, was für einen Pfeil ich gegen die Zweifel Grimms auf die Sehne legen werde. Dieser Pfeil stammt ebenfalls aus dem Köcher der Traumlore. Sie weiß ein uraltes Lied, leider nur ganz fragmentarisch. Das lautet:

Dur droht mit Donner
Peitscht seine Böcke, der Bartrote.

Ein Fund von unschätzbarem Werte, ein kostbarer Aufschluß! Was der Grimm für Augen dazu machen wird! Er selbst bezeichnet Donar als ›den über Wolken und Regen gebietenden, sich durch Wetterstrahl und rollende Donner ankündigenden Gott, dessen Keil durch die Lüfte fährt und auf der Erde einschlägt.‹ Daß des Gottes Wagen mit Böcken bespannt war, wissen wir ebenfalls. Nicht minder, daß er rotbärtig gedacht wurde. Also der leibhaftige Thor oder Donar in jenen Versen! Und dieselben haben, beachtet das wohl! den Stabreim, die Alliteration. An ihrer Überlieferung aus dem heidnischen Altertum ist daher nicht zu zweifeln. Wäre uns nur das ganze Lied erhalten! Sicher war es eine poetisch-mythologische Beschreibung eines Gewitters, ein dem Gott bei Kultushandlungen gesungenes Bittlied. Aber, wird man fragen, kann das Wort Dur nicht Bedenken erregen? Der altnordische Name des Gottes war Thorr, zusammengezogen aus Thonar, altsachsisch Thunar, angelsächsisch Thunor. Die Zusammenziehung Dur oder Durr aus Donar liegt auf der Hand – liegt sie nicht? Man soll mir nur mit Einwürfen kommen! Ich bin dagegen gerüstet. Wie heißt im Dialekt hiesiger Gegend das Gewitter? Duraweatter! Ist das nicht herrlich, unwidersprechlich? Duraweatter! sag' ich noch einmal. Wetter des Thonar, Thor, Donar, Dur. Ja, das schmettert alle Einwürfe zu Boden. Die Sache ist klar, evident, bewiesen, abgemacht, fertig. Was sagen Sie dazu, meine Freunde?«

Der arme Frieding! Nie vielleicht hat ein Gelehrter vor tauberen Ohren argumentiert.

Robert und Thekla saßen sich am Tische gegenüber. Was kümmerte sie Thor oder Dur, der Bartrote? Was Stabreim und Mythologie? Sie hatten anderes zu denken. Vielleicht waren sie anfangs dem Vortrag des Pfarrers aufmerksam gefolgt. Aber als er der Burschen und Dirnen erwähnte, denen das Herz wehtue, hatte die Gräfin zu dem jungen Manne aufgeblickt, mit einem Blicke, der seine Aufmerksamkeit zerstreute. Sie saßen wieder, wie sie zuvor auf der Donnerklippe gesessen. Gedanken kommen und gehen – wer kann dafür? Als nun Frieding seinen Haupttrumpf, das Duraweatter, ausgespielt hatte und mit triumphierender Miene die Anerkennung der Unwiderstehlichkeit desselben forderte, da schraken die beiden auf.

Dem guten Pfarrer entging das. Begreiflich! Wenn ein deutscher Gelehrter spintisiert und spekuliert, könnte er über seine eigenen Füße stolpern.

Frieding nahm die Verwirrung der beiden für freudige Überraschung über die Bündigkeit seiner mythologischen Beweisführung.

»Gnädige Frau,« sagte er, »Sie haben schon oft mit einer Aufmerksamkeit, welche ich nicht als dem alten Pfarrer, sondern als dem Gegenstande geltend betrachte, Mitteilungen über meine bescheidenen archäologischen Studien angehört. Sie kennen das berühmte Grimmsche Buch, in welchem die großartigste Gelehrsamkeit mit wunderbarer Liebe den Spuren unseres noch in unzähligen Nachklängen fortlebenden nationalen Glaubens nachgegangen ist. Sie haben dieses edle Werk studiert, die schwierigste vielleicht und ausdauerndste Geistesarbeit, welche je eine Dame Ihres Alters unternommen.«

»Bitte, bitte, hochwürdiger Freund, da geht entweder Ihre Galanterie zu weit, oder Sie wollen sich über mich lustig machen. Wissen Sie doch sehr gut, wie übel es mir mit dem bewußten Buche erging. Ganz abgesehen von dem Latein und Griechisch, dessen es so viel enthält, konnte ich mich in den krausverschlungenen Gängen und Schachten dieses Bergwerks gar nicht zurechtfinden. Ich ahnte wohl da und dort den außerordentlichen Reichtum desselben, aber recht sichtbar oder zu eigen ist er mir nicht geworden. In den besten Augenblicken fühlte ich so etwas, was unsere Vorfahren inmitten der heiligen Schauer ihrer Götterhaine gefühlt haben mögen. Es war wie ein fernes Wehen und Rauschen von Göttlichem.«

»Und ist das nicht der schönste Eindruck, welchen der große Forscher mit seinem mühevollen Werke hervorbringen konnte? Ich will es ihm schreiben, ja, das will ich, und gewiß, kein Lob wird ihm mehr gefallen als dieses. Aber du sagst ja gar nichts, Robert, und doch kann ich mich der Zeit erinnern, wo deine junge Seele aufhorchte, wenn ich dir von den Bildungen erzählte, in welchen der Tiefsinn unseres Volkes vordem das Walten der Naturmächte sich zu religiöser Anschauung brachte. Ich denke, die Art und Weise, wie wir mitsammen Altertumskunde und Religionsgeschichte getrieben, müßte dir über den Zusammenhang des intellektuellen Lebens manches klar gemacht haben.«

»Allerdings, aber ich fürchte, ich habe mich in der letzten Zeit mit der Wirklichkeit zu sehr beschäftigt, als daß mir darob nicht manche der ideellen Errungenschaften, welche ich Ihrer liebevollen Mühewaltung verdankte, ganz oder wenigstens teilweise verloren gegangen sein sollte. Und außerdem –«

»Außerdem?«

»Nun, außerdem muß ich gestehen – doch ich besorge, ich könnte Sie beleidigen.«

»Mich beleidigen? Womit denn? Was wolltest du sagen?«

»Ich wollte sagen, daß meine Achtung vor der deutschen Wissenschaft sehr gesunken ist, seit ich bemerkte, wie unbeholfen, um nicht zu sagen wie albern, ihre gefeiertsten Vertreter sich anstellten, als man sie zum Handeln auf die Bühne des wirklichen Lebens berief.«

»Ah so, du meinst die betrübte Frankfurter Geschichte, nicht? Nun ja, da ist freilich und leider mehr Theorie als Praxis entwickelt worden. Aber solltest auch du der Ansicht sein, das Werk sei derart gewesen, daß es die Männer der Wissenschaft allein zu Ende führen konnten? Auch sie haben schwer geirrt und viel gesündigt, keine Frage. Aber wer hat das nicht in dieser verworrenen Zeit? Ich weiß recht wohl, daß es jetzt Mode ist, das ganze Unheil, zu dem die große Sache ausgeschlagen, den Gelehrten in die Schuhe zu schieben. Das ist so bequem, und ich will mich nicht weiter in dieses traurige Thema hineinreden, will nicht sprechen von dem Übelwollen rechts, von dem Unverstande links, von der Feigheit in der Mitte; aber das sage ich – und du glaube mir altem Manne, der auch weiß, was die Frage nach einem deutschen Vaterland zu bedeuten hat –: wenn es in Deutschland je dahin kommen sollte, was ich aber nicht glauben will, wenn es je dahin kommen sollte, daß die Altäre der Wissenschaft von roh praktischen Fäusten umgestürzt und ihre Priester verhöhnt und verjagt würden, wenn das Vestafeuer des Ideals, welches auf diesen Altären flammt, in den Kot geworfen und ausgelöscht würde, dann und nur dann ist die Zeit gekommen, wo unsere Saatfelder von den Hufen der Kosakenpferde zermalmt werden und unseren Jungfrauen mit brutaler Gewalttat Mongolenblut eingeimpft wird. – Ach,« fuhr er fort, als seine Zuhörer schwiegen und die Gräfin ihn erwartungsvoll ansah, »ich begreife die Jugend nicht mehr. Einzelne Mißgriffe sollen nicht einmal das Alter, geschweige die Jugend entmutigen. Ist denn je etwas Großes und Dauerndes plötzlich gekommen? Pallas Athene sprang freilich in voller Kraft und Rüstung in die Welt, aber hatte sie der göttliche Vater nicht vorher lange in seinem Haupte getragen? Macht die Geschichte Sprünge? Und wenn sie solche zuweilen macht, wie in Frankreich, folgt dann dem Vorsprung nicht sogleich der Rücksprung? O, über die resignierte Altklugheit, den blasierten Skeptizismus, die mürrische Verdrossenheit unserer Jugend! Das ist mir das bedrohlichste Symptom unserer Zeit. Muß man denn verzagen, wenn nicht alle Blütenträume reiften? Schüttet nicht jeder neue Frühling neue über die Erde aus? Wenn ich der Tage meiner eigenen Jugend denke, wie wird mir da leicht und froh ums Herz! Wie waren wir genügsam und strebsam, hingebend und begeistert!«

»Sie mochten und konnten es sein,« bemerkte Robert. »Wenn auch unser Vaterland vor fünfzig Jahren in politischer und sozialer Hinsicht nicht besser daran war als jetzt, sondern – ich gebe es zu – eher noch schlimmer, so war doch ein wahrhaft Großes, Einigendes, Bindendes und Erlösendes im Leben der zersplitterten Nation: der üppig und herrlich treibende Mai seiner geistigen Kultur, wo alles aus Samen und Knospen in Blumen und Blüten schoß. Da durfte man sich doch für etwas begeistern, man konnte es, man hatte einen Gegenstand für seinen jugendlichen Enthusiasmus,«

»Ja,« versetzte der Pfarrer, »es war eine schöne Zeit, und ich segne mein Geschick, daß der Blick von mehr als einem Heros jener Tage mich gestreift. Ich glaube manchmal, das Feuer, welches von den Augen jener göttergleichen Menschen ausging, hat die Flamme der Begeisterung und der Hoffnung in mir wacherhalten bis zu dieser Zeit.«

Der Greis brach ab und blickte mit leuchtenden Augen über den See zu den ewigen Bergkolossen hinüber. Offenbar traten ihm Bilder aus früheren Tagen vor die Seele. Seine Gäste achteten die stumme Freude des alten Herrn an seinen Erinnerungen und schwiegen lange. Dann sagte die Gräfin:

»Ich sehe Ihren Augen an, hochwürdiger Freund, daß die Erinnerung an eine schöne Stunde in Ihnen aufgestiegen. Dürften wir Ihnen zumuten, auch uns diese Gedächtnisfeier mitbegehen zu lassen?«

»Freilich, liebe Kinder. Ich dachte gerade an Stunden, die zu den schönsten meines Lebens gehören, und recht gern will ich euch davon erzählen.«

Er schenkte sein Glas voll, trank und begann:

»Du weißt, Robert, und auch Ihnen, gnädige Frau, habe ich es schon früher mitgeteilt, daß mein Bildungsgang von dem der Jünglinge verschieden war, welche sich hierzulande dem geistlichen Stande widmeten, damals, als ich jung war. Aufrichtig gestanden, ich hätte überhaupt lieber ein anderes Studium ergriffen als das der Theologie, allein ich durfte meiner guten Mutter nicht das Herzeleid antun, ihre schönste Hoffnung, den Sohn auf der Kanzel und am Altar zu erblicken, getäuscht zu sehen. Weil aber zufällige Umstände den Kreis meiner Vorstellungen frühzeitig erweitert hatten, weil der Drang, mich zu bilden und ein Stück von der Welt zu sehen, in mir lebhafter war als in meinen Mitklosterschülern, weil endlich auch der schöne Hof meiner Eltern drüben in Malzstetten hinlängliche Mittel gewährte, so setzte ich es durch, daß ich vor meinem Eintritt in das bischöfliche Seminar, wo ich die Weihen erhalten sollte, für drei oder vier Jahre Freiheit erhielt, die Universitäten ›draußen im Reich‹ zu besuchen. Es ging das gar nicht so leicht, aber meine Mutter stand mir treulich bei, indem sie nur die Bedingung machte, daß ich nicht als Abtrünniger vom wahren Glauben heimkehren sollte. Ich werde nie den zweifelnd forschenden, ängstlich gespannten Blick vergessen, welchen die Treffliche auf mich heftete, als ich nach vierjähriger Abwesenheit wiederkehrte. Ich konnte sie beruhigen. Was auch in mir vorgegangen inzwischen, das Pflichtgefühl war stärker als alles andere, ich durfte dieses fromme und treue Herz nicht brechen: die Mutter sah mich im Chorrock und Meßgewand. Doch davon wollte ich ja nicht sprechen. Ich war nach Göttingen und von da nach Jena gegangen, welches damals von Studenten aus beinahe allen Gegenden Deutschlands wimmelte. Das war ein Leben! Ich warf mich mit ganzer Seele in das bunte, geräuschvolle Treiben, ja, und ich schüchterner Mensch, ob dessen Haupt schon drohend die Schere der Tonsur schwebte, wurde ein recht flotter Bursche, ein anerkannter Trinker, ein gefürchteter Schläger. Gewiß, an dem deutschen Studentenleben von damals waren Auswüchse genug zu bemerken; es ging recht tumultuarisch zu und war uns, mit den Gesellen in Auerbachs Keller zu sprechen, mitunter ›ganz kannibalisch wohl‹. Aber über all das Lärmen und Toben war doch wieder das Streben nach Höherem, der Glaube an das Ideal wie eine glänzende Lichtwolke gebreitet. Diese wilde Jugend fühlte denn doch, daß sie ein Stück deutscher Zukunft in der Brust trug. Nicht immer wurde gezecht, gepaukt, gerast, es wurde auch gedacht und gelernt. Wir lebten inmitten der großen Gedanken jener Zeit, welcher die Kreise der deutschen Intelligenz ins Unermeßliche ausgedehnt hat. Nur der ganz Unempfängliche vermochte sich gegen das die ganze geistige Atmosphäre erfüllende göttliche Fluidum abzuschließen.

Reinhold hatte von Jena seine außerordentlich wirksame Propaganda für die Kantsche Philosophie ausgehen lassen. Dann war Fichte aufgetreten, welcher den freien philosophischen Gedanken in Formen eines männlichen Stolzes goß, wie er in Deutschland noch nicht vorgekommen, Fichte, der um die Charakterbildung der Deutschen größere Verdienste hat als irgend ein anderer Gelehrter. Nach Fichte kam Schelling, in vollster jugendlicher Frische und Kraft die blendenden Blitze seiner naturphilosophischen Ideen und Visionen von beredsamer Lippe schleudernd. Mit ihm lebten und strebten die Apostel der Romantik, welche damals noch jung und hold und schön war: der kenntnisreiche, formgewandte Schlegel, der vielseitig geniale Tieck, der tiefsinnige Novalis, von dem man mit Recht sagen kann, daß sich ihm die Natur in der ganzen geheimnisvollen Schönheit ihrer Nacktheit gezeigt habe. Und drüben im nahen Weimar! Da lebten Wieland und Herder, Goethe und Schiller. Ab und zu kam Jean Paul aus seinem Fichtelgebirge herauf und kamen die Brüder Humboldt aus den Marken herab. Wo, frage ich, ist ein Volk, das in seiner ganzen Geschichte auf so engem Raume eine solche Fülle geistiger Größe vereinigte? Wo eine Nation, die ein Freundschaftsverhältnis aufzuweisen hätte wie das zwischen dem Dichter des Faust und dem des Wallenstein? Haltet das Verhältnis Voltaires und Rousseaus dagegen, und ihr werdet deutlich erkennen, daß jene beiden Unsterblichen nicht nur durch ihre Werke, sondern auch durch ihre Freundschaft den deutschen Namen verherrlicht haben.

Doch Verzeihung, meine Freunde,« fuhr der Greis fort, »daß ich mich so habe gehen lassen, statt sogleich auf das zu kommen, was ich eigentlich im Auge hatte. Es war im Sommer 1803. Wir waren in hellen Haufen von Jena nach Lauchstädt gewandert, denn dort sollte von der Weimarer Truppe Schillers neue Tragödie, die Braut von Messina, in Gegenwart des Dichters zur Darstellung kommen. Kommilitonen aus Leipzig und Halle gesellten sich in den Straßen des Badeortes zu uns, und wir alle brannten auf die Eröffnung des Theaters. Heutzutage weiß man gar nichts mehr davon, daß das Inszenegehen eines solchen Werkes vor fünfzig Jahren als eine nationale Angelegenheit betrachtet wurde. Wenigstens die Jugend sah dem Erscheinen eines neuen Schillerschen Dramas mit regster Teilnahme entgegen, während sie, soweit meine Kenntnis reicht, dermalen in ihrer vornehmen Blasiertheit das Theater überhaupt nur noch als einen untergeordneten Zeitvertreib betrachtet. Freilich, es ist auch danach. Nun wohl, wir hatten das Parterre im Nu besetzt, als die schon vorher von uns belagerte Türe zu dem Tempel Melpomenes, wie man damals sagte und sagen durfte, geöffnet wurde. Ein Gemurmel: ›Der Dichter ist in seine Loge getreten!‹ lief von den vorderen Bänken nach hinten, und alsbald schütterte die Decke des Hauses von unserem enthusiastischen Zuruf. Der Vorhang hob sich, und eine wahrhaft andächtige Stille trat sofort an die Stelle des Tumults. Wie das große Trauerspiel von Szene zu Szene vorrückte, steigerte sich die atemlose Spannung der Zuhörer. Es war, als wollte die Natur den gewaltigen Eindruck des Stückes verstärken. Der Tag war heiß gewesen und ein schweres Gewitter am abendlichen Himmel heraufgezogen. Einzelne dumpfe Donnerschläge hatten schon während der ersten Akte wie ›Fußtritte des Schicksals‹ von draußen hereingeklungen. Da, als die Tragödie ihrem Ende zudrängte, brach das Gewitter, senkrecht über dem Hause stehend, in seiner ganzen Majestät los. Anfangs schien die Vorstellung stocken zu wollen, weibliche Angstschreie wurden in den Logen laut, und die Schauspieler selbst sahen bestürzt darein. Aber sie waren wirkliche Künstler, sie begriffen instinktmäßig, wie das Mitspielen der Natur zu benutzen sei. Es war denn auch von prächtigster Wirkung, als die Worte des Chorführers Cajetan:

Wenn die Wolken getürmt den Himmel schwärzen,
Wenn dumpftosend der Donner hallt,
Da, da fühlen sich alle Herzen
In des furchtbaren Schicksals Gewalt –

von wirklichem und langnachhallendem Donnergeroll begleitet wurden. Und der erschütternde Eindruck sollte sich zu erhabenem Grausen steigern. Isabella stand neben der Bahre, auf welcher die Leiche ihres ermordeten Sohnes lag. Sie warf den empörerischen Ausbruch ihres Mutterschmerzes dem Himmel entgegen:

Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut,
Wie mir das Herz gebietet, will ich reden.
Warum besuchen wir die heil'gen Häuser
Und heben zu dem Himmel fromme Hände?
Gutmüt'ge Toren, was gewinnen wir
Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's,
Die Götter, die hochwohnenden zu treffen,
Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen.
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft
Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel.
Ob rechts die Vögel fliegen oder links,
Die Steine so sich oder anders fügen:
Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur!

Da, ein entsetzlicher Donnerschlag! Und als nun unter dem Verhallen desselben der Chor unisono mit den strafenden Worten einfiel:

Halt ein, Unglückliche, die Götter leben –
Erkenne sie, die furchtbar dich umgeben!

da war in allen Herzen die lebhafteste Ahnung vom Zugegensein jenes Ewigen, Geheimnisvollen, welches die Alten Fatum, wir sittliche Notwendigkeit nennen. Dem Dichter selbst schien die Bedeutung der Schicksalsidee seiner Tragödie jetzt erst recht aufgegangen zu sein. Weit vorgebeugten Hauptes, mit marmorblassen Zügen saß er in seiner Loge. Ihn, wie uns alle, ergriff es mit wunderbarer Gewalt, als jetzt der Chorführer Berengar sprach:

Eherner Füße
Rauschen vernehm' ich,
Höllischer Schlangen
Zischendes Tönen –
Ich erkenne der Furien Schritt!

Mit den letzten in der Ferne verhallenden Schlägen des Gewitters schloß groß und feierlich das Trauerspiel. Ich nahm davon einen Eindruck mit mir, der in meiner Seele nachbebt, so oft ich jener Stunde eingedenk bin, und ich bin es oft. Ich habe viel erlebt, meine Freunde, vielleicht darf ich auch sagen, daß ich viel gestrebt, gekämpft und gelitten. Aber reiner und höher gestimmt, dem ›Weltgeist näher‹ als damals habe ich mein Wesen nie empfunden. Es war eine Stunde der Weihe, das Göttliche in mir war wach geworden. Das ist die Macht des Genius – wehe dem Geschlechte, welches nicht mehr an ihn glaubt!«

Der alte Herr schwieg und blickte nachdenklich in das Glas, bevor er es langsam an die Lippen führte.

Die Gräfin ließ einige Minuten vergehen, bevor sie sagte:

»Ihre Erzählung, hochwürdiger Freund, ist noch nicht zu Ende, nicht wahr?«

»Sie haben es erraten, gnädige Frau,« erwiderte der Pfarrer. »Jener Abend sollte heiter und schön enden. Das Gewitter war vorüber, als die Zuschauermenge aus dem Theater strömte. Der Himmel hatte sich aufgehellt, und klar leuchteten die ewigen Sterne. Wie von selbst bildete sich eine Doppelreihe, um dem heraustretenden Dichter Dank und Ehre zu erweisen. Er kam. ›Hüte ab!‹ erscholl es, und während er zwischen uns hindurchging, sah ich Väter ihre Knaben, Mütter ihre Mädchen emporheben, um ihnen den teuren Mann zu zeigen. Überall summte es ehrfurchtsvoll: ›Das ist er! Das ist Schiller!‹ Uns Studenten aber genügte das noch nicht. Wir trieben eine herumziehende Musikbande auf, Fackeln wurden herbeigeschafft und so rückten wir dem Dichter mit Musik und Gesang und Fackelschwingen vor das Haus, ihm eine Serenade zu bringen. Als sein Wirt uns benachrichtigte, der Dichter wünsche uns seinen Dank zu sagen, da hättet ihr sehen sollen, wie wir uns nach seinem Zimmer drängten, so viele nur immer hineingehen wollten. Wie waren wir entzückt, als sich der große Mann ganz kordial gegen uns benahm! Er war eben im Begriffe gewesen, zu Bette zu gehen, und empfing uns in Hemdärmeln. Das war uns gerade recht. Einer von uns hatte einen prächtigen Einfall. Der Vater eines der Unseligen, ein reicher Mann, welcher in Lauchstädt daheim war, hatte uns alle zu einem studentischen Schmaus in seinen Gartensaal geladen. Wie, wenn man den Dichter bäte, das Mahl durch seine Anwesenheit zu krönen? Gedacht, getan. Einer machte den Sprecher und brachte die Einladung vor. Sie mißfiel offenbar nicht, doch zauderte Schiller einen Augenblick, Da, was taten wir tollen Burschen? Einer ergriff des Dichters Chabot, ein anderer die Weste, ein dritter den Rock, ein vierter den Hut, und so umgaben wir wie diensttuende Kammerherren den Gefeierten. Lachend fuhr er in die Kleider, und im Triumphe brachten wir ihn auf den Schauplatz des Festes. Das war ein solches, obwohl wir nicht kostbaren Rebensaft, sondern nur Naumburger Bier zechten. Was fragten wir nach dem Stoff? Der Geist war ja mit uns. Die Tochter des Hauses kamen mit einem Kranz von Rosen und Lorbeeren herein, den sie in der Eile gewunden, und setzten ihn schüchtern dem erlauchten Gast auf das Haupt. Er stand auf, und lässig den Kranz in der Linken haltend redete er uns an. Er sprach von der Bedeutung der Kunst für das Leben der Nation, von der erziehenden Macht des Schönen. In kurzen Sätzen wußte er diesen Gedanken, den eigensten Kern seines Dichtens, mit der Würde eines Propheten darzulegen. Dann kam er auf die Stellung der studierenden Jugend zu reden und legte uns ans Herz, wie wir es seien, die später in mannigfaltigen Lebenskreisen die ideale Seite des Lebens dem Volke zugänglich machen könnten, um, wie er sagte, den Seelenschlummer desselben zu brechen und die erlösende und befreiende Gewalt der Schönheit demselben fühlbar und nutzbar zu machen. Noch sehe ich den Unsterblichen vor mir, wie er so redete. Die hohe Gestalt etwas gebeugt von der Not des Lebens, um den Mund einen Schmerzenszug des Leidens und der Resignation, die Wangen bleich und abgemagert, aber das Feuer des Genies im Blicke und die Stirne strahlend von dem Widerschein der göttlichen Gedanken, welche unter ihr wohnten. Als er geendet, stimmte die Musik das Lied an die Freude an, und wir fielen jubelnd ein. Dann ein Händedrücken und Umarmen, ein Aufschwung jauchzender Begeisterung. Das Nachgefühl des Händedrucks, welchen auch ich unter unendlichen: ›Vivat Schiller!‹ von dem großen Dichter und Denker erhielt, ich möchte es nicht um alle Diplome und Ordensbänder der Welt hingeben.«

Robert konnte bei dieser enthusiastischen Äußerung ein Lächeln nicht ganz verbergen. Frieding bemerkte es und rief voll Eifer:

»Ja, so seid ihr jungen Leute von heute! Kritische Kälte im Herzen, ein skeptisches Lächeln auf den Lippen. Ihr habt keinen Glauben mehr, weder an die Menschheit, noch an das Ideal, noch auch an euch selber Daher geht euch die Begeisterung ab, die Leidenschaft, ohne welche doch nichts Rechtes und Großes in der Welt geschieht. Nicht der klügelnde Verstand tut Wunder, sondern der heilige Enthusiasmus. Ein echter Priester und Prediger desselben war eben unser teurer Freund Schiller. Ihm schulden die Deutschen eine unermeßliche Summe des Dankes, und deshalb wandelt mich immer ein rechtes Herzweh an, wenn ich jämmerliche Bübchen das Standbild des Unsterblichen frech mit dem Kot der albernen Kritik bewerfen sehe. Man sollte ihnen die Rute geben.«

»Ihre Philippika, verehrter Freund und Lehrer, ist nicht unbegründet,« bemerkte Robert. »Mich freilich trifft sie nicht, denn die Achtung, welche Sie mir für die Verherrlicher des deutschen Namens eingeflößt haben, sie wurde im Verlaufe der Zeit in mir nicht schwächer, sondern nur stärker. Von ganzem Herzen stimme ich Ihnen bei, wenn Sie die leidige Sucht tadeln, welche in unseren Tagen in so viele Leute gefahren ist, die Sucht, das Herrliche und Hohe zu dem Niveau ihrer eigenen Gemeinheit herabzuziehen. Dieser Gleichheitsschwindel ist, wenn ich ihn recht verstehe, der eigentliche Fluch unserer Zeit. Und diese gegen alle die ewigen Gesetze der Natur und des Geistes anstürmende Tollheit nennen sie Demokratie. Als ob nicht jeder ungewöhnliche Mensch, sei er unter der Kuppel eines Palastes, sei er unter dem Strohdach einer Tagelöhnerhütte geboren, seinem eigensten Wesen nach ein Aristokrat wäre! Freilich, jede Zeit muß ihren Schwindel haben, und wenn ich meinesteils sehr geneigt bin, das große und schöpferische Walten des deutschen Geistes anzuerkennen, welches in den letzten Dezennien des vorigen und in den ersten des gegenwärtigen Jahrhunderts zutage getreten, so werden Sie mir dagegen auch zugeben, daß in der Gegenwart manches Schwindelhafte von damals überwunden ist. Erinnern wir uns nur der geheimbündlerischen Spielereien jener Zeit, der süßlichen Briefwechselei, Lorenzo-Dosen-Freundschaftlerei, des wunderlichen Ineinanderspielens von Frivolität und Mystizismus. Wir sind denn doch im ganzen ernster und ich möchte sagen solider geworden. Namentlich sind wir über die unklar kosmopolitische Schwärmerei hinaus und haben angefangen zu begreifen, daß nur auf dem Boden der Nationalität eine gesunde Entwickelung möglich ist. Wäre nur diese Überzeugung erst kräftiger und allgemeiner, wäre es nur der Jugend vergönnt, innerhalb derselben ihre Kräfte zu entfalten!«

»Hm, lieber Robert,« versetzte der Pfarrer, »ich fürchte, du hast unsere Übungen in der Logik so ziemlich vergessen. Wenigstens kommt mir, aufrichtig gestanden, dein Gedankengang nicht sehr logisch vor. Vorhin beklagtest du, daß die Jugend heutzutage keine rechten Anhaltspunkte für ihren Enthusiasmus habe, und dennoch scheinst du jetzt die Gegenwart auf Kosten der Zeit, in welcher ich jung war, erheben zu wollen. Ich darf wohl sagen, daß ich mich von der Schwäche des Alters, die Gegenwart mit scheelen Augen anzusehen, so ziemlich frei erhalten habe, und weil ich nicht leugne, daß auch die Gegenwart ihre Vorzüge habe, mag es mir erlaubt sein, einen Blick der Pietät auf die Vergangenheit zu werfen. Du erwähntest tadelnd unserer damaligen kosmopolitischen Richtung. War es aber nicht gerade die Idee des Weltbürgertums, welche recht eigentlich das Gefühl der Menschenwürde in den Deutschen weckte? Heutzutage mag das als Schwärmerei erscheinen, was damals schlechterdings nötig war, um uns von der tristen Barbarei des Mittelalters zu erlösen, von einer Barbarei, welche Gauner und Narren uns dermalen wieder als den glückseligsten Zustand anzuempfehlen sich erfrechen. Hat die Philosophie unserer Tage auch nur einen wahrhaft neuen und fruchtbaren Gedanken hervorgebracht? Man redet jetzt auf der äußersten Linken so viel vom Evangelium des Humanismus! Aber wo ist ein Produkt desselben, welches sich mit Lessings Nathan auch nur entfernt vergleichen ließe? Und Tausende und aber Tausende von Menschen hat damals diese herrliche Schöpfung des humanisierten deutschen Geistes erquickt, veredelt, erhoben: heutzutage nennt man sie einen rationalistischen Quark. Wie viele gibt es denn wohl dermalen in Deutschland, die es sich klar machen, welchen wahrhaft befreienden Einfluß Goethe und Schiller auf ihre Zeitgenossen geübt? Heißt nicht jetzt jener dem einen ein blinder Heide, dem andern ein gesinnungsloser Fürstenknecht? Wird dieser nicht ein phantastischer Rhetor gescholten? Und es ist nicht wahr, daß unsere klassische Literatur einen verschwommenen Kosmopolitismus gestiftet. Allerdings war es ihre zunächst liegende Aufgabe, die Deutschen aus mittelalterlichen Krautjunkern und Spießbürgern zu Menschen zu machen. Sie konnte vorerst nur das humane Element kultivieren, denn wo war ein nationales? Aber auf den Höhepunkten ihrer Wirksamkeit sehen wir sie ein solches schon aus sich herausbilden. Sind Schillers Wallenstein und Tell, Goethes Hermann und Dorothea nicht nationale Schöpfungen im edelsten Sinne des Wortes? War nicht die liebevolle Teilnahme, womit alle Empfänglichen in der Nation die Begründung unserer intellektuellen Herrschaft über Europa begleiteten, zugleich der Haupthebel zur Wiederherstellung des Nationalbewußtseins? Und dann die mächtige Förderung, welche dieses von Seiten der Romantik erfuhr! Was auch die späteren Versündigungen dieser großen geistigen Bewegung sein mochten, ihre Anfänge waren schön und preiswürdig. Zu unserer Klassik als eine notwendige Ergänzung getreten, hat sie unzählige Quellen einer nationalen Existenz unseres Volkes unter dem Schutte der Jahrhunderte wieder hervorgegraben. Daß politische und religiöse Verkehrtheit getrachtet hat und trachtet, diese Quellen zu trüben und zu vergiften, ist eine traurige Wahrheit; aber sie wieder zu läutern und ihre erfrischenden Fluten in die Kanäle des Volkslebens zu leiten, ist für den redlichen und mannhaften Willen keine Unmöglichkeit. Diesen Willen, ich sage es mit Schmerz, vermisse ich bei unserer Jugend von heute. O, besäße sie den Glauben an das Ideal statt ihrer Prosa, materieller Genußsucht, lärmende Begeisterung statt der Verdrossenheit der Überreife, naive Schwärmerei statt skeptischer Altklugheit, welche Ziele würden ihr winken! Die Fülle unserer geistigen Errungenschaft in Handlung zu übersetzen, das deutsche Wissen zur Tat zu machen, alles einzusetzen, um dieses höllische Prinzip der Geldherrschaft zu stürzen, welches den Menschen Stirnen von Bronze und Herzen so hart wie der untere Mühlstein verleiht, wären das nicht Aufgaben, welche die Geister der Jugend emporflügeln, ihre Seele mit edler Leidenschaft erfüllen sollten? Freilich, Genügsamkeit müßte sie vor allen Dingen wieder lernen, und entsagen müßte sie jener Großmannssucht, deren überstiegene Ansprüche nicht befriedigt werden können. Wäre nicht auch die Jugend vom entnervendsten Egoismus angefressen, verzehrte nicht auch sie sich in dem finsteren Unmut, welcher aus selbstsüchtigem Streben zuletzt immer mit Notwendigkeit resultiert, fürwahr, alle die Wirrsale unserer Tage sollten mich nicht in meinem Hoffen auf die Zukunft beirren. Aber – aber,« fuhr der eifrige Greis fort, in seinen Papieren kramend und unter den gelehrten Büchern auf dem Tische einen modisch-eleganten Duodezband hervorziehend, »da hören Sie einen der modernsten Poeten, dessen Gedichte mir Sie, gnädige Frau, vor einigen Tagen zugeschickt haben, hören Sie die Beichte ›eines Kindes des Jahrhunderts‹, eines Mannes, welcher, kaum dreißig Jahre alt, in ein frühes und blutiges Grab sank.

Zum Guten wie zum Bösen sind wir träg',
Altkluge Kinder mit des Alters Schwächen.
Kaum aus der Wiege, haben wir schon viel
Von unsrer Väter Weisheit und Gebrechen,
Ermüdet uns das Leben wie ein Weg,
Der endlos eben fortläuft ohne Ziel,
Ermüdet uns gleich einem fremden Feste,
Dem wir zuschauen, teilnahmlose Gäste:
Wir wollen fremdgereifte Früchte pflücken
Und ohne Kampf soll uns der Sieg beglücken.
Wir selbst sind gleich der Frucht, die ungereift
Vor ihrer Zeit vom Baume abgestreift
Und fallend zwischen Blumen hängen bleibt,
Nicht den Geschmack erfreuend, nicht den Blick,
Und kommt die Zeit, wo alles blüht und treibt,
Trifft sie nur der Verwesung früh Geschick.
Wir haben nicht die Kraft der Leidenschaft
Und auch nicht der Entsagung Willenskraft.
Feig fürchten wir die Menschen mehr als Gott
Und weniger die Sünde als den Spott.

Und dann weiter, hören Sie nur:

Kalt, ungerührt läßt uns das wahrhaft Schöne,
Der Dichtung Träume und der Kunst Gestalten
Und des Gesanges weihevolle Töne
Sind für uns nicht ein Quell der Seligkeit.
Wir suchen ängstlich in uns festzuhalten
Die Reste des Gefühls vergangner Zeit.
Das Gute keimt in unsrer Brust vergebens,
Früh streift sich von uns ab der Blütenstaub des Lebens;
Wir bergen unsre Gaben nutzlos, still
Und lieben, hassen, wie's der Zufall will;
Kalt bleibt die Seele, das Gemüt,
Derweil das Blut in unsern Adern glüht.

Ist das nicht ein schreckliches Bekenntnis der Jugend des neunzehnten Jahrhunderts, um so schrecklicher, je wahrer es ist? Wo soll es hinaus mit dieser geistigen Greisenhaftigkeit, die noch schlimmer, noch viel schlimmer ist als die leibliche? Was sagen Sie dazu, meine Freunde? Wie?«

Der alte Herr hätte noch lange so fortsprechen können, ohne Opposition befürchten zu müssen. Robert war von einer Zerstreuung angewandelt, welche selbst die innige Achtung, die er vor seinem ehemaligen Lehrer hegte, nicht zu bewältigen vermochte. Vielleicht hatte er vieles von dem, was Frieding vorbrachte, gar nicht gehört, denn als jetzt die Frage, womit jener schloß, an sein Ohr schlug, brachte er eine so verworrene Antwort vor, daß seine Verlegenheit sogar dem ländlichen Gelehrten auffallen mußte. Die Gräfin kam ihm zu Hilfe.

»Sie sehen die Gegenwart trübe an, hochwürdiger Herr,« sagte sie, »und doch, ich gebe es zu, kaum zu trübe. Aber ich möchte, soweit mir überhaupt die Sachlage klar ist, die Behauptung wagen, daß die Generation, zu welcher auch ich gehöre, wenn nicht zu rechtfertigen, doch zu entschuldigen sei. Es ist wahr, auch die Jugend ist von dem grenzenlosen Unbehagen erfüllt, welches gegenwärtig wie eine graue Staubdecke auf der Gesellschaft liegt, auch sie kann sich nicht mehr harmlos den Empfindungen und Freuden ihres Alters überlassen, auch sie hat die unbefangene Anteilnahme an den Erscheinungen des Schönen verloren. Das selbstsüchtige Wettrennen nach materiellen Zielen hat auch die Jugend in seine das Herz austrocknende Rastlosigkeit hineingezogen. Es ist traurig zu sagen und kann doch nicht geleugnet werden, wir vermögen uns in die idealistische Stimmung der Zeit, aus welcher Sie uns, teurer Freund, vorhin ein so schönes Bild vorgeführt, nur noch auf dem künstlichen Wege der Reflexion zu versetzen. Können wir uns doch, wenn uns ein neuer Dichter begegnet, schon nur noch mit Mühe der leidigen Angewöhnung entschlagen, vor allem zu fragen, aus welchem Parteilager er komme. Schon das reicht hin, uns die reine Freude an Kunst und Poesie zu vergällen. Das wirre Durcheinander, die unklaren Strömungen und unsauberen Gegenströmungen, das verbitterte und, bei Lichte betrachtet, ganz unproduktive Gezänke auf dem ideellen Gebiete haben den Sinn der Jugend von diesem abgelenkt und sie dem Materialismus in die Arme geworfen, welcher keine Anstrengung scheut, kein Mittel verachtet, um alle Hingabe an die Idee im Keime zu ersticken und aus dem reichen, farbenbunten Leben ein eintöniges Rechnungsexempel zu machen. Wie sollte sich die Jugend dieser Prosa erwehren, sie, die im Grunde zu jeder Zeit doch weiter nichts ist als das Organ, durch welches die herrschende Stimmung am aufrichtigsten sich äußert?«

»Ach ja,« erwiderte der Pfarrer mit einem Seufzer, »die Welt wird Prosa immer mehr. Wie sehr hatte Platen Ursache, zürnend zu fragen:

Was hat das Ewige verschuldet,
Daß man's nur nebenher noch duldet?«

Robert hatte sich inzwischen bemüht, seine Gedanken zu dem Thema des Gesprächs zurückzulenken, und sagte jetzt:

»Mir scheint, das ist unserer Zeit größter Jammer, daß es ihr so auffallend an Männern mangelt, das ist, an heldischen Naturen. Unserer modernsten Kultur wohnt eine solche Wut der Nivellierung, Verflachung,, Uniformierung inne, daß es schon als Sünde gilt, aus dem Troß hervorzuragen. Alles wird generalisiert und nach der Schablone zugeschnitten. Daher begegnet das Heroische, wo es sich etwa zeigt, allgemeiner Anfeindung. Die kleinen Menschen unserer Zeit können keine Größe mehr ertragen: neben einer solchen erscheint ihre eigene Kleinheit doch gar zu widerwärtig klein und verletzt ihre Eitelkeit. Das Heldische aber ist das eigentliche Agens des weltgeschichtlichen Prozesses. Die Helden, worunter ich natürlich nicht bloß soldatische verstehe, machen die Geschichte. Ein Volk ohne Helden hat kein geschichtliches Leben, sondern vegetiert nur, und ich fürchte, ins bloße Vegetieren geraten wir Europäer immer mehr hinein. In dieser Beziehung mochte ich im Preise der Zeit vor fünfzig Jahren mit Ihnen, hochwürdiger Herr, übereinstimmen. Welche Heldengestalten zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts! Da waren Mirabeau, Danton und Napoleon, da Fox, Pitt, Nelson und Wellington, da Kosciuszko und Suwarow, da Goethe, Schiller, Fichte, Schill, Blücher, Scharnhorst, Gneisenau, Stein und Speckbacher. Was haben wir gegen diese Männer, diese heldischen Charaktere einzusetzen? Was gegen ihr Streben, ihre Taten? Nur mechanische Erfindungen, wenn's hoch kommt. Die haben wir in Fülle, ja, und da sie unser einziger Stolz sind, so kann es nicht wundernehmen, daß das ganze Dasein immer mehr und mehr zu einem toten Mechanismus herabsinkt.«

Die Gräfin zog ihren Schal enger um die Schultern, da nach dem Untergang der Sonne ein kühler Wind von den Bergen herüberkam, und stand auf.

»Ich sehe schon,« sagte sie. »wir bringen unsere in mannigfache Dissonanzen hineingeraten Unterhaltung heute nicht mehr zu einem harmonischen Resultat, aber ich hoffe, hochwürdiger Freund, Sie kommen morgen zum Diner ins Schloß und überzeugen mich dann aufs neue von Ihrer Fähigkeit, auch die Gegenwart in tröstlichem Lichte zu sehen. Heute haben Sie sich mir auch einmal so ziemlich als Pessimist gezeigt, aber ich meine, der Optimismus stehe Ihnen weit besser zu Gesichte.«

»Ach, meine Gnädigste,« versetzte der Pfarrer, »wer kann für seine Stimmungen?«

Der alte Herr war sehr ernst geworden. Es schien ihn seit einigen Minuten etwas heimlich zu beunruhigen. Er sah den beiden, als sie ihm Gute Nacht gesagt und den Gartenweg hinaufgingen, mit sorglichen Blicken nach. Dann folgte er ihnen rasch und rief an der Gartentüre seinen ehemaligen Zögling auf ein Wort zurück.

Robert kehrte um mit einem:

»Haben Sie mir noch etwas zu sagen?«

Der ländliche Gelehrte blieb vor dem jungen Manne stehen und sah ihm mit einem klaren, von väterlicher Zuneigung belebten Blick ins Gesicht.

Der junge Soldat senkte die Stirne.

»Robert,« sagte der Pfarrer sanft, aber voll Nachdruck, »du hast heute ein gutes Wort gesprochen: jeder rechte Mann ist ein Held. An sich selbst aber muß der Mann sein Heldentum nicht minder bewähren als an der Welt. In seiner eigenen Brust sitzt oft sein grimmigster Feind. Weil sie diesen nicht bemeisterten, wurde Napoleon aus einem Helden ein Komödiant, Danton ein Verbrecher. Denke daran! Ja, und was ich dir noch in Erinnerung bringen wollte, du hast mir eine einläßliche schriftliche Darstellung des Feldzugs in Italien versprochen. Mich verlangt sehr danach, laß mich daher nicht mehr lange darauf warten. Es ist nicht gut,« setzte der Greis mit einem warmen Händedruck hinzu, »es ist nicht gut, daß der Mensch müßig sei.«


 << zurück weiter >>