Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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15. Ein Stück Untergangstum.

Der schwüle Junimorgen hatte zeitig ein Gewitter gebracht, welches mit der Heftigkeit, wie sie dieser Naturerscheinung im Hochgebirge eigen zu sein pflegt, über See, Schloß und Park sich entladen. Nun das langnachdröhnende, durch vielfachen Widerhall verzehnfachte Geröll des Donners in den Schlüften und an den Kuppen des Gebirgs verklungen, ging eine wehende Kühle wie ein frisches Aufatmen der Natur über die Landschaft. Die Sonne am mittäglichen Himmel hinabsteigend, schien klar und warm durch die gereinigte Atmosphäre, ohne drückend zu sein; Blatt und Blüte, vom Wolkenbruchregen gebeugt, richteten sich in den Strahlen der Allbeleberin wieder auf, und der würdige Pfarrherr atmete auf seinem Gange nach dem Schloß mit Hochgenuß den kräftigen Duft ein, welcher aus den Rasenplätzen und Gebüschen des Parkes aufstieg.

Gertrud sagte ihm, er würde die Gräfin in dem Pavillon auf der Wippoklippe finden, und geleitete ihn durch das Turmzimmer auf den Steg.

Der Pavillon auf der Wippoklippe nahm die ganze Oberfläche derselben ein. Er war aus Gußeisen und bestand aus einer rundum laufenden Brustwehr, über welcher sich das kuppelförmige Dach erhob, getragen von zwölf dünnen Säulen, deren Zwischenräume mittels Rouleaus verschließbar waren. Von dem Türchen des Pavillons, welcher sich auf den Steg öffnete, führte seitwärts eine schmale, in den Stein gehauene Treppe zu dem Wasserspiegel hinab, zu einer kleinen Einbuchtung des Felsens, die einer zierlichen kleinen Gondel zum Hafen diente, deren sich die Gräfin, die Ruder mit Geschicklichkeit und Kühnheit handhabend, zu einsamen Spazierfahrten auf dem See bediente.

Als Frieding vom Turmzimmer auf den Steg hinaustrat, sah er die Gräfin, mit dem Rücken halb gegen ihn gewendet, in träumerisch-nachdenklicher Stellung an dem Marmortisch in der Mitte des Pavillons sitzen. Sie stützte das schöne Haupt mit den Flachen ihrer Hände, und diese waren versteckt unter der Fülle ihres herrlichen Haares, dessen Locken halbgelöst über Nacken und Wangen herabwallten. Vor ihr auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch, aber ihre Blicke mochten schon lange von den Lettern weg über den See nach den Bergen geschweift sein, mit jenem Ausdruck, welcher verrät, daß die Seele mit Vorstellungen beschäftigt ist, welche von den Gegenständen, die das Auge erfaßt, weitab liegen. Der Schall von Friedings Tritten auf den Brückenbohlen schreckte sie auf. Sie wandte sich um, und etwas wie der Ausdruck getäuschter Erwartung überflog für einen Augenblick ihr Gesicht, verschwand aber sogleich vor dem Ausdruck ungeheuchelter Freude über die Erscheinung des Freundes. Sie stand auf, ihn zu begrüßen, und sagte:

»Sie kommen immer wie gerufen, hochwürdiger Herr.«

»Und Sie, gnädige Frau, wissen mir beim Kommen immer das Gefühl des Willkommenseins zu erregen. Aber was ist denn Besonderes? Sie scheinen nachdenklich gestimmt.«

»Ich bin es in der Tat,« versetzte sie, den alten Herrn einladend, Platz zu nehmen.

Er tat es und sagte mit einem Blick auf das Buch:

»Wie, schon wieder in die molochistischen Forschungen und Phantasien Daumers vertieft? In diesen finsteren Regionen kann man wohl nachdenklich und traurig werden.«

»Freilich. Die Daumerschen Betrachtungen über den Feuer- und Molochdienst der Hebräer, sowie die eigentümlichen und grellen Streiflichter, welche der Mann in die Mysterien des christlichen Altertums wirft, sind so allen hergebrachten Meinungen widersprechend und zugleich so unheimlicher Natur, daß ich fast bereue, mich in eine Lesung eingelassen zu haben, welche am Ende für eine Frau doch nur eine unfruchtbare sein kann.«

»Für eine Frau, sagen Sie?«

»Ja, weil wir Frauen in viel höherem Grade das Bedürfnis der Illusion haben als die Männer. Doch lassen Sie mich sogleich auf einen Gegenstand kommen, der mich mehr interessiert als der angeregte und mir den gestrigen und heutigen Tag verdüstert hat. War Robert im Laufe des Tages bei Ihnen?«

»Nein.« »Auch gestern nicht?«

»Abermals nein.«

»Das ist seltsam.«

»Wieso?«

»Ich gab Ihnen gestern in der Frühe eine Andeutung über das Abenteuer, welches wir vorgestern abend beim Heimritt von der Medardusalm im Hohlweg droben am Schwadriforst erlebten –«

»Ja, und Ihre Mitteilung gab mir zu denken, gnädige Frau. Hatte ich doch eine Art dunkler Vorahnung, daß die Wiederkehr des verschollenen Twerenbold wenig Gutes zu bedeuten haben würde. Ich sah den Mann gestern im Steinbock bei der Hochzeit des jungen Rollbauers. Er tat wie ein alter Bekannter von mir, was er auch ist. Aber trotz des Anstrichs derber Jovialität und Kordialität, welchen er sich zu geben weiß, ist an dem Mann etwas Unheimliches.«

»Ach, wenn Sie ihn gesehen hätten, wie ich in dem Hohlweg ihn sah, berauscht, drohend, wütend. Es war ein schrecklicher Anblick.«

»Ich kann es mir vorstellen; allein vergebens sann ich hin und her über die Natur der Relationen, in welche Robert mit diesem Menschen geraten ist. Er hat Ihnen nichts weiter mitgeteilt?«

»Nein. Er hat eigentlich seit dem Zusammentreffen mit Twerenbold, welches ich allem nach ein unseliges nennen muß, gar nicht mit mir geredet, wenn ich einige konventionelle Redensarten abrechne, die er bei zufälligem Begegnen an mich richtete. Er ist finster und zerstreut, sieht leidend aus und hat sich weder gestern noch heute im Speisezimmer blicken lassen. In aller Frühe ist er heute, wie mir der alte Andres sagte, in die Wälder hinaufgegangen und nach dem Gewitter ganz durchnäßt zurückgekommen, um sich in sein Zimmer zu verschließen. Der alte Andres, welcher in seiner Bekümmernis um den Herrn plötzlich zu mir Vertrauen faßte, hat mir auch unaufgefordert mitgeteilt, daß er gestern um die Mittagsstunde seinen Herrn in Gesellschaft des Twerenbold aus den Ruinen des alten Schlosses habe kommen sehen.«

»Das klingt ja ganz romantisch, gnädige Frau; ich gestehe indessen, daß ich zur Lösung des Rätsels dieser unter so seltsamen Umständen angeknüpften Bekanntschaft keinen Schlüssel habe.«

Thekla wollte dem Pfarrer sagen, daß der Ausruf Roberts nach seinem ersten Gespräch mit Twerenbold, der Ausruf, der Abenteurer hätte ihm einen Greuel mitgeteilt, vielleicht die Handhabe eines solchen Schlüssels abgeben könnte. Da fiel ihr aber noch bei guter Zeit ein, daß sie nicht berechtigt sei, von einer Äußerung Gebrauch zu machen, welche dem jungen Mann in der furchtbarsten Aufregung entfallen und welcher eine Erläuterung nicht gefolgt war.

Als sie schwieg, fuhr Frieding fort:

»Ich kenne die Art Roberts. Unbedeutendes vermag ihn durchaus nicht aus dem Geleise zu bringen. Es muß sich also demzufolge, was Sie mir über sein neuestes Gebaren sagten, um etwas Wichtiges handeln. Aber mehr zu erfahren, müssen wir in Geduld abwarten, denn neugierige Fragen könnten Roberts Stimmung nur verschlimmern. Es war das schon als Knabe so seine Art, etwas, was ihn lebhaft beschäftigte, erst eine Weile still mit sich herumzutragen, bevor er sich darüber aussprach. Warten wir also.«

»Da kommt er,« sagte die Gräfin, verstohlen nach der Türe des Turmzimmers deutend, aus welcher Robert soeben getreten. herangekommen, begrüßte er den Pfarrer und entschuldigte sich bei der Gräfin, daß er nicht zum Diner erschienen. Das Gewitter hätte ihn im Walde überrascht und zurückgehalten. Thekla versuchte es, der Sache eine scherzhafte Wendung zu geben, und vermied es mit seinem weiblichen Takt, ihre Teilnahme an dem augenscheinlich unnatürlich gespannten Zustand des jungen Mannes durch Blicke auszudrücken. Frieding jedoch konnte sich nicht enthalten, seinen ehemaligen Zögling forschend anzusehen, wodurch diesem eine höchst unbehagliche Empfindung erregt wurde. Übrigens fühlten alle drei dieses Unbehagen fast gleichmäßig, denn jedem von ihnen drang sich die Stimmung auf, es sei ein Fremdes, Unerwartetes, Störendes zwischen sie getreten.

Robert bemühte sich offenbar, seine schweifenden Gedanken zu konzentrieren und seiner Zerstreuung Herr zu werden. Die beiden anderen bemerkten das und fühlten sich peinlich berührt. So entstand ein mißliches Schweigen, welches der Pfarrer endlich um jeden Preis brechen wollte.

»Ich bin der Überbringer einer herzlichen Danksagung, lieber Robert,« sagte er. »Die Leute im Dorfe, welche durch die neuliche Feuersbrunst geschädigt wurden, haben mir aufgetragen, dir für die reichliche Zuteilung von Bauholz ihren besten Dank zu sagen.«

»Was geht das mich an?« versetzte Robert ungeduldig. »Mögen sie einen ganzen Wald umschlagen – mir einerlei.«

»Wie?« fragte der Pfarrer verwundert.

Ein bittender Blick der Gräfin wirkte auf Robert noch mächtiger als diese Frage des Erstaunens. Er nahm sich zusammen und erschwang eine leidliche Fassung, wenn schon dieselbe nicht verhindern konnte, daß aus seinem ganzen Wesen und allen seinen Äußerungen eine gewisse Schroffheit und Gereiztheit sprach, wie das so der Fall zu sein pflegt, wenn ein Mann, dessen Gedanken eigentlich anderswo sind, an einem Gespräche teilzunehmen nicht umhin kann.

Die Gräfin bemühte sich, die Unterhaltung auf Gegenstände zu lenken, welche den bisher berührten ganz fernlagen, um ja den Schein zu vermeiden, als wollte sie oder der Pfarrer die seit zwei Tagen mit Robert vorgegangene Veränderung irgendwie zum Ziel einer Ausforschung machen.

»Wir sprachen vorhin von den religionsgeschichtlichen Forschungen Daumers, lieber Robert,« sagte sie, »und von den unheimlichen Eindrücken, welche dieselben gegenüber den gang und gäben Ansichten hervorzubringen geeignet sind.«

Robert verstand die wohlmeinende Absicht Theklas und war ihr dankbar dafür,

»Soweit meine Belesenheit in dieser Materie reicht,« entgegnete er, »darf ich mich kaum für berechtigt halten, darüber mitzusprechen. Soviel indessen glaube ich sagen zu dürfen, daß die ungeheure Kluft, welche in unseren Tagen zwischen den religiösen Traditionen und den Höhepunkten der Bildung sich aufgetan, mit zu den betrübendsten Zeichen der Zeit gehört,«

»Allerdings,« bemerkte der Pfarrer. »Die höhere Einheit des Lebens, welche der Mensch, so, wie er einmal ist, nur in der religiösen Idee finden zu können scheint, ist der modernen Gesellschaft mehr und mehr abhanden gekommen, und niemand wird leugnen wollen, daß es ein unermeßliches Unglück, wenn dem Dasein eine solche geistige Zentralsonne fehlt, von welcher die einzelnen Ausstrahlungen des Bewußtseins ausgehen, und in welche sie wieder zurückfließen.«

»Aber hatte die Menschheit jemals eine solche Zentralsonne?« warf die Gräfin zweifelnd ein.

»Sie hatte sie, wenigstens partiell,« erwiderte Frieding. »Was machte die Völker des alten Hellas zu so ganzen und vollen Menschen? Das Durchdrungensein ihrer ganzen Existenz von der religiösen Idee. Alle Seiten ihres Lebens fanden sich zusammen in der Einheit einer Religion, deren charakteristisches Merkmal die Schönheit. Wie religiös war die hellenische Kunst, die hellenische Poesie! In der Darstellung der Gottheit erreichte der bildende Künstler Griechenlands sein Ideal. Wie unzertrennbar hat Homer das Leben der Menschen an das der Götter geknüpft! Wie fromm ist Sophokles, und gerade indem er fromm war, in des Wortes höchster Bedeutung, erreichte er die Palme der tragischen Kunst. Und selbst die spätere Zeit, das Mittelalter, war einer Einheit des Lebens nicht bar. Es ist unrichtig, zu sagen, das Christentum habe den Dualismus in die Welt gebracht. Es hat ihn nur ausgesprochen und anerkannt, um ihn zu überwinden, wenigstens um den kühnsten Versuch einer Überwindung des Gegensatzes von Natur und Geist zu machen. Der mittelalterliche Katholizismus war eine Einheit, die Raum genug hatte, alle Erscheinungsformen des Daseins von sich ausgehen zu lassen und sie wieder in sich zusammenzufassen. Unähnlich unserer Zeit, deren atomostischer Hang alles zerbröckelt, alles in Stückwerk auflöst, faßte im Mittelalter die Kirche die Gesellschaft zu einem strenggeschlossenen Ganzen zusammen. Seit in das kirchliche Gewölbe der unheilvolle Riß geschah, klafft alles in den schroffsten Gegensätzen auseinander.«

»Hm,« entgegnete Robert, dessen Stimmung es ganz angemessen war, Opposition zu machen, »das ist alles recht gut und schön, wäre nur die leidige historische Kritik nicht, welche uns die elegisch-optimistische Brille, womit wir so gerne die Vergangenheit betrachten, unsanft von der Nase schlägt. Es ist – entschuldigen Sie, mein verehrter Lehrer und Freund – eine stereotype Liebhaberei der Gelehrten, von der Lebenseinheit des griechischen Altertums zu reden. Sieht man sich die Sache genauer an, so erkennt man die Illusion. Ich gebe zu, daß in der homerischen Welt eine gewisse rohe Harmonie des Daseins vorhanden war, weil da, wie in jeder erst werdenden Gesellschaft, die Gegensätze noch unter der Decke der Naivität schlummerten. Ich will auch nicht bestreiten, daß die griechische Welt später noch eine Zeit hatte, wo, wenigstens in Poesie und Kunst, Menschliches und Göttliches in einen und denselben Strom der Schönheit zusammenrann. Aber wie kurz dauerte das! Wie zerrissen erscheint schon zur Zeit des Perikles, in ihrer eigentlichen Glanzperiode also, die griechische Welt! Nehmen wir nur den Aristophanes, dessen Komödien uns diese gepriesene Welt in ihrer Auflösung widerspiegeln. Ist es nicht tragikomisch zu sehen, wie der treffliche Komödie, indem er die nationale Religion gegen die sokratische Aufklärung eifrig in Schutz nimmt, dennoch zugleich von einem unwiderstehlichen Kitzel erfaßt wird, die alte Götter- und Heroenwelt mit lautestem Gelächter zu überschütten? Und dann das Mittelalter. Wie zeigt es sich uns, wenn wir uns nicht begnügen, dasselbe in der romantischen Beleuchtung der Ferne zu betrachten? Gewiß, seine Idee des Katholizismus war eine Idee der Einheit, und keinem Zweifel kann es unterliegen, daß sie in ihrer ganzen Großartigkeit und Erhabenheit von einzelnen auserwählten Geistern aufgefaßt wurde. Ein solcher Geist war Gregor VII., solche Geister waren später noch ein Innocenz III., ein Wolfram von Eschenbach, ein Dante. Diese, ja, begriffen den Riesengedanken, die ganze Menschheit in einem ungeheuren und dennoch wohlgegliederten Gottesstaat zusammenzufassen. Aber wie stand es mit der Realisierung dieser erhabenen Einheitsidee? Nein, ebensowenig, als die Neuzeit sie fand, hatte das Altertum oder das Mittelalter eine Einheit des Lebens gefunden, und es scheint, daß die Menschen nur bestimmt sind, ruhelos zwischen unversöhnbaren Gegensätzen umgetrieben zu werden, um es nie zu einer Befriedigung zu bringen. Oh, der arme Hölderlin hatte recht, in seinem Schicksalslied die verzweifelnden Worte zu sprechen:

Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Ewig ins Ungewisse hinab.«

»Ihre Philosophie der Geschichte, lieber Robert,« bemerkte die Gräfin, »scheint demnach auf das mephistophelische Axiom hinauszulaufen:

Alles was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht.«

»Ja,« sagte Frieding nicht ohne Schärfe, »oder auf das Sprichwort der Hindus: Sitzen ist besser als stehen, liegen besser als sitzen, schlafen besser als wachen und am bequemsten ist es, tot zu sein.«

»Und wenn es so wäre?« versetzte Robert achselzuckend. »Wenn das Gefühl der Unzulänglichkeit und Nichtigkeit, welches sich den Menschen im Verhältnis zu ihren mechanischen Fortschritten nur um so peinlicher aufdringen muß, sie zuletzt mit einem allgemeinen Wahnsinn der Verzweiflung erfüllte, daß sie einander, statt, wie sie jetzt tun, unter allerlei heuchlerischen Formen, mit bacchantischem Vernichtungsjubel ins Verderben stießen und stürzten? Der Fall ist, glaube ich, gar nicht so undenkbar.«

»Der Himmel steh' uns bei!« sagte der Pfarrer. »Was sind das für Nachstücksphantasien in Callots Manier? Und vollends in dem Munde eines jungen Mannes, vor dem noch das Leben mit allen seinen süßen Täuschungen offen daliegt? Zu meiner Zeit gab es auch einen Wertherismus, aber, wenige Toren ausgenommen, begnügte man sich, denselben ästhetisch statt so verzweifelt ernst zu nehmen. Zum Glück geben solche pessimistische Stimmungen des Augenblicks keinen gültigen Maßstab ab bei Beurteilung der weltgeschichtlichen Entwicklung. Allerdings ist es wahr, daß die Menschheit es im ganzen und großen noch zu keiner Befriedigung gebracht hat, aber weit entfernt, ein Verzweiflungsgrund zu sein, ist das vielmehr ein Vorteil für sie. Wenn schon das einzelne Individuum, wenn es sich allseitig befriedigt fühlt, gar zu leicht einem strebungslosen Schlendrian verfällt, um wieviel mehr müßten die vollständig befriedigten Massen in Versumpfung geraten? Wo der Mensch aufhört zu streben, dort Hort er auf, Mensch zu sein. Und zu einem vegetabilischen Dasein kann die Menschheit denn doch nicht bestimmt sein.«

»Das scheint allerdings nicht der Fall,« entgegnete Robert mit bitterem Lächeln. »Ihre Bestimmung scheint eher die zu sein, durch ihre Schmerzenskrampfe die Götter zu amüsieren, wie jene Fische durch das Farbenspiel ihrer Todeszuckungen die Augen der Römer ergötzten.«

»Ich mag dir, lieber Freund, nicht in die Region derartiger Bilder folgen, welche durch ihr Pikantes zu ersetzen suchen, was ihnen an Wahrheit abgeht,« versetzte der Pfarrer ernst. »Es ist viel Elend in der Welt, viel Jammer, viele Pein, und wie schön ist sie doch trotz alledem! Sollen wir alles Licht trotzig übersehen, weil uns das Leben da und dort seine schwarzen Schlagschatten über den Weg wirft? Besteht nicht im Wechsel des Daseins höchster Reiz? Wie wahr ist das Wort Goethes, daß nichts schwerer sich ertragen lasse als eine Reihe von schönen Tagen. Gibt es hohlere Menschen als die sogenannten Glückspilze, unleidlichere Gesellen als die, welchen das ganze Leben glatt und eben, mühe- und leidlos verläuft? Aber es gibt gar keine solchen, denn jeder Mensch hat seine Last zu tragen. Ob er sie faul und widerwillig schleppe oder mutig und aufrecht trage, das unterscheidet den Tüchtigen vom Erbärmlichen. Wie ich mir ein rechtes Menschenleben ohne Schmerzen, wie ich mir die Geschichte ohne Kämpfe vorstellen soll, weiß ich nicht. Nur der Ringende kann zur Vollkommenheit gelangen, soweit sie dem Menschen überhaupt gegeben ist. Du hast Hölderlin zitiert, ich weiß von ihm ein anderes Schicksalslied: ›Der Not ist jede Lust entsprossen!‹ Erinnerst du dich?

Die Klagen lehrt die Not verachten,
Beschämt und ruhmlos läßt sie nicht
Die Kraft der Jünglinge verschmachten,
Gibt Mut der Brust, dem Geiste Licht.
Der Greise Faust verjüngt sie wieder;
Sie kommt wie Gottes Blitz heran
Und trümmert Felsenberge nieder
Und wallt auf Riesen ihre Bahn.

Es kann die Lust der goldnen Ernte
Im Sonnenbrande nur gedeihn
Und nur in seinem Blute lernte
Der Kämpfer, frei und stolz zu sein.
Triumph! die Paradiese schwanden:
Wie Flammen aus der Wolke Schoß,
Wie Sonnen aus dem Chaos wanden
Aus Stürmen sich Heroen los –«

»Oh, das ist schön, das ist wahr!« rief Thekla aus. »Und Sie, lieber Robert, der Sie ja gleich dem trefflichen Carlyle ein Heldenanbeter sind, Sie können nicht übersehen wollen, daß nur der Kampf den Helden macht. Mag die Menge in der Sphäre gleichmäßigen Wohlergehens und Behagens ihre Befriedigung suchen und finden, edleren Geistern steht eine Region offen, in welche weder das gemeine Glück noch das gemeine Unglück reicht, die Region, in welcher sie der Menschheit dienen, ihrer eigenen Ehre Genüge tun und den Ruhm ihres Namens vor der Nachwelt erhöhen.«

»Ei, ja doch! Warten Sie, liebe Thekla, da fällt mir, weil wir doch einmal mit Zitaten fechten, der Vers eines englischen Dichters ein:

Ehr' und Ruhm! Fliegst hoch und weit
Du durch Schule, Hof und Feld –
Bist du nicht der Ball der Zeit,
Von der Toren Hand geschnellt?«

»Hilf, Himmel! entgegnete die Gräfin mit ihrem sonoren Lachen. »Ich glaubte schon, Sie würden den dicken Sir John zitieren.«

Und mit anmutigem Necken fügte sie, den Baß Falstaffs nachahmend, hinzu: »Was ist Ehre? Ein Wort. Was steckt in dem Wort Ehre? Luft. Eine feine Rechnung! Wer hat sie? Er, der vergangenen Mittwoch starb. Fühlt er sie? Nein. Hört er sie? Nein. Ist sie also nicht fühlbar? Für die Toten nicht. Aber lebt sie nicht etwa mit den Lebenden? Nein. Warum nicht? Die Verleumdung gibt es nicht zu. Ich mag sie also nicht. Ehre ist nichts als ein gemalter Schild beim Leichenzug, und so endigt mein Katechismus.«

Der alte Herr applaudierte lachend, aber die Falte zwischen Roberts Brauen glättete sich nicht.

»Es ist eine ganz hübsche Sache um den Humor,« sagte er. »Könnte er nur vor dem wüsten Ernste des Lebens bestehen. Ehre bei der Mitwelt, Ruhm bei der Nachwelt? Das klingt ganz gut, aber wie ist's denn eigentlich damit? Was sind die Annalen des Ruhmes anderes als eine unendliche Martyrologie? Also das wäre am Ende das Auszeichnende für die großen Menschen, einem Martyrium sich unterziehen zu müssen? Das der Vorzug des Genies, daß es eine doppelte Last von Weh und Schmerz zu tragen hätte? Wo bleibt denn da die Illusion, daß der Mensch zur Glückseligkeit bestimmt sei? Ist er aber zum Leiden geboren, wie, glaub' ich, der Apostel Paulus sagt, warum ist er dann überhaupt da? Ich denke, der Mensch hat ein Recht zu dieser Frage, welche schon Hiob auswarf. Man sagt, er ist da, um seine Bestimmung zu erfüllen, das heißt, zu leiden. Ei, da lohnt es sich wohl der Mühe, zu existieren! Oder, im besten Fall, um der Seifenblase Ruhm nachzujagen? Wie unsäglich komisch oder vielmehr tragisch erscheint diese Jagd, wenn wir auch nur die eine Tatsache beherzigen, daß im deutschen Volke der Ruf vom Till Eulenspiegel ein unendlich größerer ist als der von Goethe, im englischen der Ruf von Jack Sheppard, Jonathan Wild und ähnlichen Gaunern größer als der von Shakespeare und Milton. Ich meine, das müßte die Narren der Unsterblichkeit doch stutzig machen. Ach, das Streben nach Ehre und Ruhm ist, bei Licht betrachtet, nur eins der vielen Symptome der Fieberkrankheit, genannt Menschenleben. Es ist das ängstliche Bemühen des Menschen, aus sich selber herauszukommen, weil er es, allein mit seinem Ich, nicht aushalten kann. Ich erinnere mich, einmal im Pascal gelesen zu haben, das ganze Streben des Menschen sei im Grunde nur eine Flucht vor sich selbst, eine rastlose und peinliche Anstrengung, sich selbst zu vergessen; denn wäre er einmal genötigt, mit seinem Innern so recht allein zu sein, so würden ihm die aus demselben aufsteigenden Dämonen der Nacht ein Entsetzen einjagen, welchem er den Tod vorzöge. Das veranschaulicht uns deutlich eine der größten Berühmtheiten unserer Zeit, Lord Byron. War das ganze Leben, die ganze Poesie dieses Hochbegabten etwas anderes als eine unbändige Sehnsucht nach Selbstvergessenheit, nach Vernichtung? Und war diese Sehnsucht etwa weniger tragisch, weil sie die Erscheinungsform der entsetzlichsten Langeweile angenommen hatte?«

Weder der Pfarrer noch die Gräfin fühlten sich zu einer Antwort auf diese Frage gestimmt. Robert beachtete auch ihr Schweigen gar nicht, sondern fuhr, in seinen wildschweifenden Gedankengang verloren, nach einer kurzen Pause fort:

»Wenn ich kalten Blickes auf meine Zeit hinsehe, wie sie sich in unstillbaren Begierden, in gedankenlosem Haschen nach Nichtigem verzehrt, wenn ich dieses unendliche Wirrsal törichter Meinungen betrachte, diese vom Zweifel umgestürzten Altäre erblicke; wenn ich all die Stupidität, Verlogenheit, Verräterei und Bosheit, all die Not und Pein der menschlichen Rasse ins Auge fasse: – oh, dann kann ich mir nur mit Lust den Augenblick denken, wo dieser jammervolle Erdball in das Nichts zurückgeschleudert wird. Und das wird in Wahrheit das Ende dieser traurigen Komödie sein, deren Ärmlichkeit wir mit dem stolzen Namen Weltgeschichte zudecken. Es ist ein Trost, daß uns die Naturwissenschaft die Versicherung gibt, der tragische Spaß werde einmal ein Ende nehmen müssen. Langsam zwar, aber dennoch rastlos geht die Abkühlung des Kerns unserer Erdschale vor sich. Das Arbeiten der Vulkane und die warmen Quellen berauben die Erde zu jeder Stunde einer Wärmemenge, welche ihr nie wieder ersetzt wird, und so muß doch zuletzt eine Zeit kommen, wo der Mittelpunkt der Erde keine höhere Temperatur besitzt als dermalen die Oberfläche. Dann steht dem zerstörenden Zahn der Zeit keine erhaltende Kraft mehr entgegen. Die Granitmassen dort über dem See werden zerbröckeln und verwittern, langsamer freilich, aber ebenso sicher wie die Blüten der Rosensträuche da hinten im Garten. Das unerbittliche Gesetz der Vergänglichkeit, welches die Erde beherrscht, wird dann über der leblosen und belebten Natur das fahle Panier der Vernichtung schwingen. Von dem ewigen Kreislaufe der Gewässer unternagt und zerfressen, stürzen die Gebirge ins Meer hinab und die Oberfläche der Erde ist nur noch eine unermeßliche, pfadlose Wasserwüste, oder sie wandelt sich, falls die Wasser in die Spalten der vertrockneten und erstarrten Kugel sich verlieren, zu einer wasserlosen, öden Steppe, zu einem chaotischen Klumpen,«

»Das ist eine düstere Vision, lieber Freund,« bemerkte die Gräfin, »ganz à la Darkneß des großen Dichters, dessen Poesie vorhin von Ihnen als eine beständige Flucht vor der Langweile bezeichnet wurde. Wenn ich übrigens nicht irre, so muß der traurigen naturwissenschaftlichen Weissagung, welche Ihr Spleen uns entworfen, Einseitigkeit zur Last gelegt werden. Denn wenn es den Aussagen der Naturforscher zufolge auch eine Möglichkeit oder sogar eine Wahrscheinlichkeit ist, daß der jetzige Zustand unseres Planeten nur ein vorübergehender statt eines bleibenden und daß demselben dereinst durch neue Gebirgserhebungen ein Ende gemacht werde, so ist damit noch nicht gesagt, daß diese Katastrophe eine absolute Vernichtung alles Lebens zur Folge haben müsse, sondern es bleibt dabei der Hoffnung Raum, daß unsere noch unvollkommene Schöpfung nur in Trümmer gehen werde, um einem vollkommeneren Organismus Platz zu machen.«

»Gut so, gnädige Frau,« sagte Frieding. »Fürwahr, das wäre eine Wissenschaft, nicht der Mühe wert, getrieben zu werden, welche der unendlichen Entwickelungsfähigkeit der Natur und des Menschen keine andere Perspektive eröffnen könnte als allgemeinen Tod! Warum sich überhaupt mit solchen grau in grau gemalten Phantasien abquälen, statt das Leben frisch und tüchtig anzufassen? Unserer Nachkommen fernste Geschlechter brauchen sich jedenfalls um die angedeutete Katastrophe noch keine Sorge zu machen. Ein berühmter Geolog hat ausgerechnet, daß zur Bildung der norddeutschen Steinkohlenflötze mindestens eine Million Jahre erforderlich gewesen, und seine Beobachtung über die Erkaltungsgeschwindigkeit einer glühenden Basaltmasse, wie ja auch unsere Erde einmal eine solche war, haben ihn zu dem Resultate geführt, daß seit der Steinkohlenperiode unseres Planeten mehr als neun Millionen Jahre verflossen seien. Wo es sich um solche ungeheuerliche Zahlenverhältnisse handelt, da mag sich selbst eine schwarzseherische Phantasie in betreff des Untergangs unserer Erde leidlich beruhigen können. Es hat noch gute Wege mit der Erkaltung der Erdrinde und mit dem Erlöschen ihres feurigen Kerns.«

»Und diesem Optimismus zum Trotz,« erwiderte Robert finster, »geht die Erkaltung Schritt für Schritt vor sich und schwächt sich das Feuer ab. Auch Ihre hoffnungsvolle Aussicht, liebe Thekla, auf eine neue und bessere Schöpfung hält nicht stand vor der Konsequenz einer allerdings trostlosen Wissenschaft, welche eine Illusion nach der andern zerschlägt und so die Menschen von Tag zu Tag unglücklicher, das heißt, ihrer zwecklosen Existenz bewußter macht. Wenn die Vulkane erstorben, die warmen Quellen versiegt sind, das heißt, wann das Innere des Erdballs ausgebrannt ist, dann ist keine neue Hebung von Gebirgen durch innere Kräfte und damit auch keine neue Schöpfungsperiode mehr denkbar. Noch mehr. Nicht unsere Erde allein, unser ganzes Sonnensystem wird dem Untergang anheimfallen. Die Fülle von Wärme und Licht, welche unablässig der Sonne entströmt, findet nur kleinstenteils einen Rückweg zu diesem Körper. Was auch die Quelle der Kraft des Licht- und Wärmespenders sein mag, endlich muß sie sich doch erschöpfen, und dann werden, wie unsere Erde, auch sämtliche übrige Planeten ohne eine Spur von Leben in einem kalten und finstern Räume schweben.«

Der Pfarrer stand auf mit dem offenkundigen Ausdruck des Mißbehagens in seinen Zügen.

»Und wenn es wirklich dazu käme,« sagte er, indem er sich zum Fortgehen anschickte, »wenn es einmal so tot, leer und kalt in unserer Schöpfung würde, wie hier eine überreizte Phantasie es sich ausgemalt, auch dann noch würde das ewige Gesetz des periodischen Wechsels seine unendliche Wirksamkeit üben. Ihm zufolge wird unser erkaltetes und erstorbenes Sonnensystem dann in seinem Fortrollen durch den unermeßlichen Raum abermals in eine Region gelangen, wo die geheimnisvolle Ursache, welche im Anfange der Zeiten die ganze Masse der Himmelskörper in glühende Bälle verwandelte, abermals Leben schaffend auf sie einwirken kann. Doch genug davon, und hoffen wir, daß der Gegenstand unseres nächsten Gespräches ein weniger ›gruseliger‹ sein werde, wie unsere Älpler sagen. Leben Sie wohl, gnädige Frau, und gestatten Sie, daß sich unser Freund und Untergangstümler da Ihrer Barke bediene, um mich heimzufahren. Der Abend liegt gar schon auf dem Wasser.«


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