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Die Chrysalide.

Der Tag verging Allen in Kummer; Jedem in anderem, Jedem allein. Er vermochte sie nicht zu zerstreuen, und seine farbigen wechselnden Bilder, vor ihren Augen vorübergaukelnd, riefen ihnen nur alte Gefühle zurück, und brachten ihnen Grüße aus der vergangenen Zeit, wie Tauben unter ihren Flügeln Briefchen tragend mit halb im Wetter erloschener Schrift. Aber keine brachte ein Oelblatt des Friedens, als Zeichen, daß draußen in der Ferne hoffnungsreiches Leben für sie heimlich wieder da sei. Wie über neugebildeten See'n, Kampfgefilden mit Verwundeten und frischen Grabhügeln, gleichwie über dem neugebornen Kinde und den blühenden, von der Tageshitze nur überwelkten Rosen doch auch die Sonne sinkt; so ward es endlich, endlich auch Abend über ihren Häuptern, und die ewigen Gestirne bekränzten sie auch heut. Aber sie, die einen niegefühlten Schmerz im verwandelten Busen trugen, schauten zu dem alten Himmel so neu, so betroffen, als wäre die Erde mit ihnen und Allem unmerklich fortgehoben worden in eine fremde erbangende Region.

Aus Olivia's Zimmer erklang Zither und Gesang; und um zu erfahren, welche Richtung die Gedanken seines eingeschüchterten, sich betrogen, entehrt, entliebt und nichtig fühlenden armen Weibes nähmen, und wie sie aus sich selbst zu trösten sei, ging Richard bis in die Nähe der Fenster. Sie waren verschlossen und verdunkelt. Tiefgerührt hörte er ihre nun klagende Stimme, die sonst nur immer heitere Lieder gekannt. Sie sang:

                   

Die Schmach ist groß, das Leid ist tief!
O, wer schon in der Erde schlief',
Weg, aus der Sterne Schimmer!
Den hassen, den ich so geliebt,
Den lieben, der mich so betrübt –
Ich will's, und kann es nimmer.

Beweine ihn! die Schuld ist sein;
Beklage dich! der Schmerz ist dein.
Was rettet uns auf Erden,
Kann Leben, kindersanft und gut,
Kann Liebe, taubentreues Blut,
Ach, so unglücklich werden!

Der Gesang verstummte. Er schlich auf dem Rasen vorüber. Gegen ihren Wunsch verlangte er am Morgen sie zu sprechen; sie blieb verschlossen. Mehrere Abende hörte er keinen Gesang, keinen Laut. Endlich hörte er wieder ihre Stimme, die er, wie ihre holde Gestalt, ihren frommen, zutrauensvollen Blick, ihre bescheidenen, herzlichen Worte kaum mehr entbehren konnte. Einigemal nur war es ihm vorgekommen, als habe sie heimlich nach ihm gelauscht, wie er im Garten sich erholt. Ihr heutiges Lied schien es zu bestätigen, denn sie sang:

                   

Wie ruhig würd' ich leben,
Wenn ich dich nicht so liebte!
Doch dich nicht so zu lieben,
Müßt' ich nicht gehn dich sehen;
Und nicht zu gehn dich sehen,
Müßt ich nicht dein gedenken;
Und nicht mehr dein zu denken,
Müßt' ich gestorben sein!

Richard schöpfte Hoffnung, daß sich ihre Gesinnung an seinem jetzigen festen und zuverlässigen Wesen auch wieder befestigen werde.

– Jung ist jeder gute Sinn! dachte er, und tröstete dann sich mit diesen Worten:

                   

Ich selbst erfuhr auch dieses ja vom Menschen:
Berühret ihn ein Unglück winterlich,
Dann wird der Mensch der Chrysalide gleich;
Er zuckt vor jeder leisesten Berührung
Und in der Stille schwebt er lange Monde,
An einem dünnen Faden hängt er nur
Noch mit der Welt zusammen! Doch es wird
Sein Unglück allgemach zum festen Harnisch
Rings um ihn her, und unter diesem nährt
Und bildet sich aus seinen eignen frühern
In reiner Läuterung versiegten Stoffen
Sein stillverklärtes Wesen, reift verjüngt
Nur einer höheren Natur entgegen,
Und schwebt mit niegekannten Schwingen, neu
Und schön, hinaus in eine neue Welt.



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