Paul Scheerbart
Der Kaiser von Utopia
Paul Scheerbart

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94. Der Lebenstempel

Und eines Abends saß der Kaiser Philander in seinem Perlmutterzimmer am Fenster und blickte hinauf zu den goldenen Rändern der roten Berggipfel und seufzte.

Vor dem Kaiser auf dem Tisch mit der Platte aus Lapis lazuli lagen Berichte der Priesterschaft, die sämtlich nur Erfreuliches enthielten und immer wieder betonten, daß die Utopianer nach der Schreckenszeit vollkommen umgewandelt seien – überall lebte ein straffer und innerlicher Zug, und von Schlaffheit bemerkte man nichts mehr.

»Wie wenig«, flüsterte der Kaiser wehmütig, »habe ich dazu beigetragen! Wären die allgewaltigen Naturereignisse nicht gekommen, so wäre in Utopia Alles im alten Schlendrian weitergegangen. Wie wenig kann der einzelne Mensch hervorbringen! Wir müssen mehr Intensität in uns erzeugen. Im Meeressumpf stak Intensität – in den explodierenden Leichen lebte auch eine störrische Kraft. Jetzt solls aber festgehalten werden! Und darum will ich einen Lebenstempel erbauen – der auch für die Folgezeit mächtige prickelnde Lebenskraft ausströmen soll.«

Und als des Kaisers Onkel, der Oberpriester Schamawi sich anmelden ließ, da setzte ihm der Philander in raschen Worten auseinander, wie er sich den Lebenstempel dachte.

»Sieh mal, lieber Oheim«, sagte er hastig, »der Tempel müßte schon so groß wie ein paar kräftige Städte sein – und sämtliche Photographieen vom Meeressumpf, von den Irrlichtern, von den neuen Kometen, von den Leichen und von den Geisterflammen – das Alles müßte in imposanten Hallen zur Aufstellung gelangen. Und dann müßten die sogenannten Bartmannbücher und Alles, was dazu gehört – besonders auch die wissenschaftlichen Erörterungen vom Denken mit Nase, Zunge und Gefühl – ebenfalls in dem Tempel untergebracht werden. Und für Erweiterung der Studien nach dieser Richtung hin müßte auch gesorgt werden. Eine ganze Galerie neuer Lehrinstitute müßte in dem Lebenstempel entstehen. Alles, was das ungeheuerliche Leben der Natur lebhaft zur Anschauung bringt, müßte künstlerisch dargestellt werden. Und schließlich – nicht zu vergessen! – das, was über unsre materielle Sphäre hinausgeht – von dem wir schon so viel in den neuen Kometen und Geisterflammen zu schmecken bekamen – das müßte auch da eine Stelle finden. Na, lieber Oheim, ich glaube wir verstehen uns.«

»Vollkommen!« versetzte der Oberpriester, und er ging mit einer Leidenschaft auf den Plan des Kaisers ein, daß dieser schließlich sagte:

»Wenn ich empfinde, wie Ihr alle das tut, was ich möchte, so kommt es mir oft so vor, als hätte ich Euch garnicht meine Ideen – sondern Eure Ideen zur Ausführung empfohlen.«

»Vergiß«, erwiderte lächelnd der Oheim, »den verschwundenen Bartmann nicht! Andrerseits ist Deine Empfindung ganz echt; ich habe auch immer nur das Gefühl, daß ich als Bevollmächtigter unsres erhabenen Volksgeistes tätig bin – und Du mußt mir schon verzeihen, wenn ich manchmal nicht so lebhaft mehr unterscheide zwischen dem Geiste, der uns Alle führt und nicht materiell für uns bemerkbar ist, und dem Geiste, der in allen Utopianern materiell bemerkbar ist. – Der ungewöhnliche Volksgeist und der erhabene Geist unsres Volkes, der hinter unsrer Erscheinungswelt lebt – diese Beiden scheinen mir zusammenzugehen – und wir Alle scheinen in ihm unterzugehen. Das Letztere wolltest Du im letzten Frühling nicht.«

»Heute«, sagte der Kaiser, »will ichs schon, da das Volk ein Andres geworden ist.«

Es wurde ganz dunkel im Perlmutterzimmer, aber die Beiden sprachen immer weiter, ohne die Dunkelheit zu bemerken.


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